Brief über ein beliebiges Thema verfassen (4,11,16).
War Cornelius Minicianus in Epist. 7,22 selbst Gegenstand eines Charakterporträts, so erhält er mit Epist. 8,12Plinius der JüngereEpist. 8.12 einen Brief, in dem Plinius den Literaten Titinius Capito porträtiert.57 Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieses Schreiben insbesondere formal von den Briefen 3,9 und 4,11, doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass hier wie dort das Thema Erzählen eine wichtige Rolle spielt. Plinius beginnt den Brief 8,12 mit der Ankündigung, dass er sich „nur für diesen Tag“ entschuldige, um die Rezitation des Titinius Capito zu besuchen (1: hunc solum diem excuso); warum sich Plinius gegenüber Minicianus zu entschuldigen hat, bleibt offen. Der Epistolograph fügt hinzu, dass er den Vortrag Capitos sowohl besuchen muss als auch will (1: quem ego audire nescio magis debeam an cupiam), und fährt dann fort mit einem Lob auf diesen Mann, der die Studien liebt, pflegt und fördert (1), sein eigenes Haus für Rezitationen zur Verfügung stellt und selbst eifrig die Vorlesungen anderer besucht, zu denen auch Plinius gehört (2: mihi certe, si modo in urbe, defuit numquam). Plinius sei deshalb dazu verpflichtet, zu Capitos Rezitation zu gehen, und tue dies auch gerne (3‒4), sowohl wegen Capitos literarischem Talent als auch des von ihm gewählten Stoffes: exitus inlustrium virorum (4).58 Zu diesen viri illustres, deren Lebensende CapitoPlinius der JüngereEpist. 8.12 beschreibe, gehören auch einige, die von Plinius sehr geschätzt wurden (4: in his quorundam mihi carissimorum), wobei wir keine konkreten Namen erfahren. Der Besuch der Rezitation ersetze für Plinius die Teilnahme an den Begräbnissen der Männer, gleiche sozusagen der Erfüllung einer frommen Pflicht, (5: fungi pio munere) und schaffe die Möglichkeit, zwar verspäteten, aber umso aufrichtigeren laudationes funebres beizuwohnen (5: seris quidem, sed tanto magis veris).
Dieser Akt der Pietät entspricht demjenigen, was wir in Epist. 1,17Plinius der JüngereEpist. 1.17 über Titinius Capito erfahren, wo Plinius diesen Mann ebenfalls porträtiert59 – als Adressat dieses Briefes findet sich in den modernen Editionen ein ansonsten unbekannter Cornelius Titianus.60 Über Titinius Capito schreibt Plinius in Epist. 1,17, dass er ein Musterbeispiel sei für jemanden, der sich Verstorbenen gegenüber pflichtbewußt verhält, da es ihm gelungen sei, vom Kaiser eine Genehmigung für die Errichtung eines Standbildes des L. Silanus, eines der Opfer Neros, auf dem Forum zu erwirken (1).61 Überhaupt sei es ein besonderer Wesenszug Capitos, berühmte Männer zu verehren (2: est omnino Capitoni in usu claros viros colere), was auch darin zum Ausdruck komme, dass er bei sich zu Hause die Standbilder eines Brutus, Cassius und Cato in Ehren halte (3) und dem Leben eines jeden berühmten Mannes hervorragende Gedichte widme (3: idem clarissimi cuiusque vitam egregiis carminibus exornat). Durch sein löbliches Verhalten sorge Capito nicht nur für die Unsterblichkeit von Männern wie Silanus, sondern auch für seine eigene (4).
Capitos Würdigungen von viri illustres durch Standbilder und literarische Werke entsprechen die Plinius-Briefe 1,17 und 8,12, in denen Capito,Plinius der JüngereEpist. 8.12 freilich als noch lebender Zeitgenosse, selbst den Gegenstand einer Huldigung bildet.62 Es dürfte kein Zufall sein, dass die beiden Briefe, in denen das literarische Wirken und historische Pflichtbewusstsein Capitos gepriesen werden, einen Brief rahmen, in dem Capito die Rolle des Adressaten übernimmt und uns noch dazu als jemand begegnet, der Plinius zum Verfassen einer Historie rät (Epist. 5,8,1Plinius der JüngereEpist. 5.8: suades, ut historiam scribam). Wie schon in anderem Zusammenhang erörtert wurde, liefert Plinius hier u.a. eine Synkrisis der narrativen Techniken in Historiographie und Redekunst und bittet Capito, sich über einen geeigneten Stoff für ein Geschichtswerk Gedanken zu machen.63 Indem Plinius seinen Adressaten in Epist. 1,17Plinius der JüngereEpist. 1.17 schon vorab charakterisiert hat und dies in Epist. 8,12 wiederholt, suggeriert er, dass diese Aufforderung aus besonders berufenem Mund erfolgt. Im Brief 8,12 überschneidet sich die Minicianus-Serie mit der Capito-Serie, beide Figuren tauchen im Briefkorpus sowohl als Adressaten als auch handelnde Figuren bzw. Gegenstand kürzerer Charakterporträts auf. Zudem spielen in beiden Zyklen die Themen des Erzählens und der historischen Erinnerung eine wichtige Rolle und werden in den einzelnen Briefen aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlicher Beteiligung der Adressaten reflektiert.Plinius der JüngereEpist. 8.12
Nach den hier angestellten Überlegungen zu den narratologischen Aspekten wie Stimme, Zeit, Raum und Figurenarsenal sollen im nächsten Abschnitt einzelne Briefe, Briefpaare und Briefzyklen interpretiert und ihre Narrativität näher untersucht werden. Es werden in weiterer Folge vier Themenfelder herausgegriffen, die für die Selbstdarstellung des Plinius zentral sind: Den Beginn macht ein Kapitel über die im Briefkorpus häufig zu findenden Berichte über Prozesse vor dem Senat und Zentumviralgericht, in denen Plinius zumeist selbst die Hauptrolle spielt und uns als Erzähler der Briefe seine rhetorischen Fertigkeiten als handelnde Figur am Schauplatz Gericht vor Augen führt (II.1). Es folgt ein Kapitel über Briefpaare, in denen verschiedene Formen von Schriftlichkeit diskutiert werden und zugleich das Standesbewusstsein des Plinius als Senator zum Ausdruck kommt (II.2). Plinius’ Aktivitäten im otium stehen wiederum in Kapitel II.3 und II.4 im Vordergrund, wenn der Epistolograph seine Biographie als Dichter von Kleinpoesie konstruiert und sich als Perieget, Naturbeobachter und Paradoxograph präsentiert.
1 Narrationen über rhetorische Performanz am Schauplatz Gericht
1.1 Gerichtsverhandlungen unter Domitian in Buch 1
Das erste Mal begegnet uns Plinius vor Gericht1 in Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 an Voconius Romanus2, wo er mit M. Aquilius Regulus3 abrechnet, den er als berüchtigten Delator unter Nero und als Günstling Domitians charakterisiert.4 Hatte Regulus unter Nero und Domitian noch alle möglichen Schandtaten verübt, so zeigt er sich nach dem Tod des letzten Flaviers als ängstlich und feige, ja insbesondere fürchtet er sich vor Plinius’ Zorn, wie es heißt (1: coepit vereri, ne sibi irascerer; nec fallebatur, irascebar).5 Während der Regierungszeit Domitians setzte Regulus insbesondere Arulenus Rusticus und Herennius Senecio6 hart zu (2–3). Zu diesen Opfern des Domitian-Regimes hätte beinahe auch Plinius selbst gehört, wie uns der folgende Abschnitt suggeriert (4‒8):
Praeterea reminiscebatur, quam capitaliter ipsum me apud centumviros lacessisset. aderam Arrionillae Timonis uxori, rogatu Aruleni Rustici; Regulus contra. nitebamur nos in parte causae sententia Metti Modesti optimi viri: is tunc in exsilio erat, a Domitiano relegatus. ecce tibi Regulus ‘Quaero’, inquit, ‘Secunde, quid de Modesto sentias.’ vides quod periculum, si respondissem ‘bene’; quod flagitium si ‘male’. non possum dicere aliud tunc mihi quam deos adfuisse. ‘respondebo’ inquam ‘si de hoc centumviri iudicaturi sunt.’ rursus ille: ‘quaero, quid de Modesto sentias.’ iterum ego: ‘solebant testes in reos, non in damnatos interrogari.’ tertio ille: ‘non iam quid de Modesto, sed quid de pietate Modesti sentias quaero’. ‘quaeris’ inquam ‘quid sentiam; at ego ne interrogare quidem fas puto, de quo pronuntiatum est.’ conticuit; me laus et gratulatio secuta est, quod nec famam meam aliquo responso utili fortasse, inhonesto tamen laeseram, nec me laqueis tam insidiosae interrogationis involveram. nunc ergo conscientia exterritus adprehendit Caecilium Celerem, mox Fabium Iustum; rogat ut me sibi reconcilient…
Von der Gegenwart des an Voconius Romanus geschriebenen Briefes post Domitiani mortem7 (1‒4a) richtet Plinius den Blick zurück auf die Herrschaftszeit Domitians (4b‒7); der Verlauf der hier geschilderten Handlung gleicht in seiner Struktur8 und aufgrund der vielen direkten Reden einem Drama in nuce. Durch die Formulierung reminiscebatur quam capitaliter ipsum me…lacessisset wird der Leser schon in einer Art Prolepse auf das Folgende eingestimmt.9 Zunächst schildert PliniusPlinius der JüngereEpist. 1.5 die Ausgangssituation im betreffenden Prozess (5: aderam…relegatus) ‒ auf Bitte des Arulenus Rusticus vertrat Plinius die Arrionilla10 ‒ und leitet dann mit ecce (5) zum direkten Wortwechsel mit Regulus über, in dem sich Frage und Antwort dreimal wiederholen (5‒7: ecce tibi Regulus…rursus ille…tertio ille).11 Plinius hebt das periculum hervor, dem er durch die Frage seines Kontrahenten über den verbannten Mettius Modestus12 ausgesetzt war (5), und zieht dadurch eine Parallele zwischen sich selbst und dem zuvor genannten Arulenus Rusticus (2: Rustici Aruleni periculum foverat).13