Margot Neger

Epistolare Narrationen


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mit Formulierungen wie concipere animo potes (24) und coniectabis ex hoc (26) direkt anspricht und dazu animiert, sich die mit dem Prozess verbundenen Mühen und Schwierigkeiten vorzustellen. Ziel der Narration war es, fährt Plinius fort, Minicianus gleichsam in die Position des Prozessbeobachters zu versetzen, ihn vom absens zum praesens zu machen (26: non potui magis te in rem praesentem perducere). Im Anschluss daran inszeniert Plinius eine Diskussion mit seinem Adressaten, indem er diesen als Interlokutor gegen die Länge des Briefes protestieren lässt (27: dices: ‘non fuit tanti; quid enim mihi cum tam longa epistula?’) und ihm dann antwortet, er möge nicht dauernd fragen, was in Rom geschehe (27: nolito ergo identidem quaerere, quid Romae geratur). Plinius spielt hier auf MartialsMartial2 praef. Prosavorrede zum zweiten Buch der Epigramme an, wie in einem späteren Kapitel noch ausführlicher besprochen wird.24 Während bei Martial der Widmungsträger des liber, ein gewisser Decianus, die Kombination eines Epigrammbuches mit einer Prosaepistel kritisiert und mit seiner Beschwerde verhindert, dass der Dichter seine Prosavorrede noch weiter in die Länge zieht, verhält es sich bei Plinius genau umgekehrt: Hier trägt der fingierte Einwand des Adressaten dazu bei, dass Plinius den Brief noch weiter ausdehnt, nachdem er Minicianus – ähnlich wie Apollinaris in Epist. 5,6,44Plinius der JüngereEpist. 5.6.44 – darüber belehrt hat, dass die Länge des Briefes durch die komplexe Struktur des Falles gerechtfertigt sei (27: memento non esse epistulam longam, quae tot dies, tot cognitiones, tot denique reos causasque complexa sit).25 Plinius ist der Ansicht, dass er alles sowohl breviter als auch diligenter geschildert habe (28), muss sich dann aber gleich korrigieren (28: temere dixi ‘diligenter’), da ihm nun ein Detail einfällt, dass er vergessen hat und nach dem Vorbild Homers nachtragen will (28‒35). Auf diese erste false closure folgt noch eine weitere, wenn Plinius abermals etwas ausgelassen zu haben bemerkt (36: rursus paene omisi) und erst nach dem zweiten Nachtrag seinen Brief tatsächlich beendet (37).26

      Als Adressat dieses Briefes bleibt Minicianus eine relativ stereotype Figur, die sich offenbar irgendwo außerhalb Roms aufhält und von Plinius als neugierig bezüglich der Ereignisse in der Hauptstadt charakterisiert wird. Die Aussage, Minicianus wolle ständig wissen, was in Rom passiert (27), suggeriert dem Leser, dass Minicianus und Plinius bereits in einem längeren Austausch stehen, wenngleich man innerhalb der Briefsammlung diese Konstellation von Adressant und Adressat zum ersten Mal in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 antrifft. Plinius konstruiert seinen Adressaten als Dialogpartner, mit dem er über Aspekte wie angemessene Länge und Reihenfolge einer Erzählung diskutiert. Durch die Anspielung auf Martial, dessen zweite ProsaepistelMartial2 praef. größtenteils aus der Protestrede des Interlokutors besteht, wird Minicianus einerseits in die Tradition dieser Figuren gestellt, andererseits indirekt als Kenner der Epigrammbücher charakterisiert, wenn er mit denselben Worten spricht wie Martials Adressat der Epistel am Beginn von Buch 2.Plinius der JüngereEpist. 3.9

      Nach dem Prozessbericht in Epist. 3,9 begegnet uns Minicianus erneut in Epist. 4,11,Plinius der JüngereEpist. 4.11 diesmal als Rezipient einer Skandal-Geschichte, die sich um den Verbannten Valerius Licinianus und die unter Domitian wegen Inzests verurteilte Vestalin Cornelia dreht.27 Nach Epist. 3,9 behandelt auch 4,11 zunächst eine Geschichte aus der Welt der Redner, wodurch suggeriert wird, dass der Adressat sich besonders für diese Themen interessierte. Der Beginn des Schreibens 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 vermittelt den Eindruck einer gewissen Sensationslust, die die beiden Briefpartner vereint (1: audistine Valerium Licinianum in Sicilia profiteri?), wenn Plinius zunächst vom sozialen Abstieg des nach Sizilien verbannten Licinianus erzählt (1‒3).28 Bei der Tätigkeit des Licinianus als Redelehrer handle es sich einerseits um eine Neuigkeit (1: recens nuntius), andererseits um ein tragisches Schicksal, da nicht nur aus einem einstigen Senator und „Staranwalt“ (1: inter eloquentissimos causarum actores) ein Verbannter, sondern aus einem orator gleichzeitig ein rhetor wurde (2). Seinen Adressaten unterhält Plinius außerdem mit dem Zitat eines Ausspruchs des Licinianus, den dieser in der Vorrede zu einem Vortrag getätigt haben soll (2): quos tibi, Fortuna, ludos facis? facis enim ex senatoribus professores, ex professoribus senatores. Bemerkenswert sei dieses bon mot29 nicht nur wegen seines Pathos (2: dolenter et graviter), sondern insbesondere wegen seiner Bitterkeit (2: tantum bilis, tantum amaritudinis), wodurch man den Eindruck gewinne, dass Licinianus nur deshalb Redelehrer geworden sei, damit er Sentenzen wie diese zum Besten geben könne (2: ut mihi videatur ideo professus, ut hoc diceret). Mit dieser pointierten Feststellung liefert Plinius zugleich sein eigenes rhetorisches Gegenstück zum geistreichen Ausspruch des Licinianus. Eine weitere Anekdote, von der Plinius dem Adressaten berichtet, besteht darin, dass der verbannte Licinianus nicht in der Toga auftreten durfte, sondern ein griechisches pallium trug,30 jedoch trotz seiner Montur verkündete, auf Latein vortragen zu wollen (3: ‘Latine’, inquit, ‘declamaturus sum’). Der Widerspruch zwischen dem griechischen Habitus und der lateinischen Deklamation erinnert an die schon in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 evozierte Vorrede zu Buch 2Martial2 praef. der Martial-Epigramme, wo der Interlokutor Decianus die Kombination von Epigrammen und Prosaepistel mit dem Auftritt eines Tänzers in einer Toga vergleicht und als lächerlich bezeichnet.31 Zudem lässt der Gegensatz zwischen pallium und toga an die in fabula palliata und fabula togata unterteilte römische Komödie denken,32 wodurch der Auftritt des Licinianus demjenigen eines komischen Schauspielers ähnelt.

      Nicht als komisch, sondern tragisch dürfte der Adressat, so mutmaßt Plinius, das Schicksal des Licinianus empfinden (4): dices tristia et miseranda, dignum tamen illum, qui haec ipsa studia incesti scelere macularit. Mit dem Gerundiv miserandus wird der in der aristotelischen TragödientheorieAristotelesPoet. 6.1449b diskutierte Begriff des ἔλεος evoziert,33 und auch das scelus incesti ist – freilich in einer etwas anderen Ausprägung – ein in der Tragödie beheimatetes Motiv, insbesondere im Ödipus-Drama.34 Die Überleitung von den jüngsten Neuigkeiten über Licinianus zu einem Vorfall in der Zeit des Domitian legt Plinius seinem Adressaten in den Mund, der sich hier als Interlokutor in indirekter Rede äußert und meint, Licinianus habe sein Schicksal verdient, da er die studia durch das scelus incesti entehrte. Mit dieser Äußerung wird dem Leser suggeriert, dass der Adressat die Geschichte über den Inzest-Skandal bereits kennt und dass seine Zwischenbemerkung die weitere Narration motiviert. Nachdem Plinius die neuesten Informationen über Licinianus präsentiert und mit der Geschichte an ihrem Ende begonnen hat (1‒3),35 fingiert er nun eine Diskussion mit dem Adressaten, der Licinianus für schuldig hält, während Plinius dies zunächst infrage stellt (5: confessus est quidem incestum, sed incertum, utrum quia verum erat, an quia graviora metuebat, si negasset) und dann mit der Erzählung über die Verurteilung der Vestalin CorneliaPlinius der JüngereEpist. 4.11 fortfährt. Illias-Zarifopol (1994: 34) interpretiert diese von Plinius geäußerten Zweifel über die Schuld des Licinianus als Versuch, die Lektüre der weiteren Erzählung zu steuern und dem Leser zu suggerieren, dass auch die Vestalin unschuldig sei. Die von diesem Skandal handelnde Narration des Briefes (5‒13) lässt sich, nicht zuletzt wegen der vielen Figurenreden,36 als tragische Geschichtsschreibung in epistolarem Format interpretieren,37 in deren erster Szene ein wutentbrannter Domitian auftritt (5: fremebat enim Domitianus aestuabatque in ingenti invidia destitutus),38 der uns in der gesamten Briefsammlung nur hier als handelnde Figur begegnet.39 Domitians Albaner Landhaus ist der Schauplatz des ersten Aktes (6), wo der Kaiser die Vestalin Cornelia in ihrer Abwesenheit wegen Inzest verurteilt und lebendig begraben lassen will. Als Erzähler spart Plinius hier nicht mit Bewertungen, wenn er diese Tat als Zeichen der immanitas tyranni und als Verbrechen bezeichnet, das demjenigen, über das geurteilt wurde, um nichts nachstand, zumal Domitian selbst seine eigene Nichte nicht nur geschändet, sondern sogar getötet haben soll, da sie an den Folgen einer Abtreibung verstarb.40 Der zweite und mittlere Akt (7‒10) bildet zweifellos die Klimax der Erzählung und handelt von der Hinrichtung der Vestalin in einer unterirdischen Kammer sowie von der Bestrafung ihres angeblichen Liebhabers Celer auf dem Comitium. Beide Figuren betonen ihre Unschuld in direkter Rede (7: me Caesar incestam putat, qua sacra faciente vicit triumphavit!; 10: quid feci? nihil feci!), wobei sich Plinius bei den Worten der CorneliaPlinius der JüngereEpist. 4.11 fragt, ob sie ernst gemeint waren oder Domitian verspotten sollten (8).41 Auch über Schuld oder Unschuld der Vestalin will der Erzähler