hinabführte, blieb sie mit der Stola hängen, und als der Henker ihr helfen wollte, wies sie seine Berührung energisch zurück, quasi plane a casto puroque corpore (9), was Plinius mit einem Zitat aus EuripidesEuripidesHec. 569 kommentiert (9): omnibusque numeris pudoris πολλὴν πρόνοιαν ἔσχεν εὐσχήμων πεσεῖν. Plinius greift hier einen Vers aus der euripideischen Hekabe heraus, der zum Bericht des Herolds Talthybios über den Tod der Polyxena durch die Hand des Neoptolemos gehört,42 und signalisiert dadurch abermals die Nähe seiner Erzählung zum Drama sowie die seiner eigenen Person zu einem tragischen Berichterstatter.
Der dritte und letzte Akt dieses epistolaren Dramuletts handelt von der Verwicklung des Licinianus in den Fall (11‒14): Wurde am Beginn des Briefes suggeriert, dass er selbst für die Entehrung der Vestalin verantwortlich war (4: incesti scelere macularit), so stellt sich nun heraus, dass ihm nur vorgeworfen wurde, eine Freigelassene der Cornelia auf seinem Landgut versteckt zu haben (11).43 Mit der Verurteilung der Vestalin hatte Domitian sich den üblen Ruf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit zugezogen,44 und die Anwälte des Licinianus rieten diesem, zu einem Geständnis Zuflucht zu nehmen, um der Auspeitschung auf dem Comitium zu entgehen. Licinianus befolgte diesen Rat (11: fecit) und wurde in seiner Abwesenheit vor dem Kaiser von niemandem geringeren als Herennius Senecio45 vertreten, der vom Geständnis seines Mandanten mit Worten im Sinne des homerischen κεῖται Πάτροκλος berichtet haben soll (12): ait enim: ‘ex advocato nuntius factus sum; Licinianus recessit.’ Durch das Homer-ZitatHomerIl. 18.20 wird Senecio indirekt mit Antilochos verglichen, der Achill im 18. Gesang der Ilias die Nachricht vom Tod des Patroklos überbringt,46 wobei die lateinische Junktur Licinianus recessit die berühmten Worte aus dem Epos in chiastischer Folge imitiert.47 Nach Senecio kommt auch dessen evil counterpart Domitian in direkter Rede zu Wort, wenn er sich selbst in seiner Freude über das Geständnis des Licinianus verrät und sagt absolvit nos Licinianus (13). Dies ist die einzige Stelle im Briefkorpus, wo wir DomitianPlinius der JüngereEpist. 4.11 sprechen hören – seine weitere Rede, in der der Kaiser den Angeklagten mit einer milden Verbannung sozusagen „belohnte“ (13: exsiliumque molle velut praemium dedit), gibt Plinius in oratio obliqua wieder (13: adiecit etiam non esse verecundiae eius instandum…). Senecio und Domitian sind somit die Hauptprotagonisten des dritten Aktes, in dem Licinianus als Figur abseits der Bühne erscheint. Angesichts des weiteren Schicksals des Senecio, über das der Leser der Briefsammlung an diesem Punkt bereits Bescheid weiß,48 gewinnt diese Szene einiges an dramatischer Spannung.49 Die Narration über den Inzest-Skandal endet mit einem kurzen Hinweis auf die clementia Nervas, durch die Licinianus später nach Sizilien gebracht wurde, wo er nun als Redelehrer tätig sei und sich in seinen praefationes am Schicksal räche (14: ubi nunc profitetur seque de fortuna praefationibus vindicat). Mit nunc ist die Brücke zum Beginn des Briefes geschlagen, wo Plinius seinem Adressaten aktuellen „Klatsch“ zu berichten vorgibt, den er anschließend im Rahmen einer Analepse zu einer dramatischen Mini-Historie ausweitet.
Die Version des Plinius über die Verurteilung der Vestalin CorneliaPlinius der JüngereEpist. 4.11 unterscheidet sich auffällig von derjenigen Suetons, die wir in der Domitian-Vita lesen. SuetonSuetonDom. 8 berichtet von dem Vorfall im Kontext der Darstellung von Domitians juristischen Maßnahmen, die noch in den Abschnitt vor der Veränderung des Prinzeps zum grausamen Tyrannen gehören (8,1: ius diligenter et industrie dixit).50 Sueton, der von Cornelias Fall im für ihn typischen Protokollstil berichtet, liefert uns ein wichtiges Detail, das Plinius in seiner Version verschweigt, nämlich dass Cornelia in einem früheren Prozess schon einmal wegen incestum angeklagt und freigesprochen worden war, viele Jahre später jedoch erneut belangt und verurteilt wurde.51 Im Unterschied zu Sueton ist Plinius überhaupt nicht daran interessiert, die Rolle des Kaisers in irgendeiner Form positiv oder zumindest neutral zu beleuchten, sondern spitzt die Handlung auf einen Punkt – den zweiten Prozess – zu und lässt Domitian in seinem Brief als Musterexemplar des grausamen Tyrannen auftreten, komponiert gleichsam eine fabula praetexta in Prosa. Anders als Sueton, der Licinianus nicht namentlich erwähnt, sondern nur von einem vir praetorius spricht, und auch die Personen des eques Romanus Celer und des Anwalts Herennius Senecio nicht näher identifiziert, greift Plinius diese Charaktere heraus52 und funktionalisiert den einen als Gegenstand des Gesprächs mit dem Adressaten Minicianus, die anderen beiden als handelnde bzw. sprechende Figuren im epistolaren Domitian-Drama.
Nachdem Minicianus, der Adressat des Briefes, durch eine Zwischenbemerkung die Narration über den Cornelia-Fall motiviert hat (4), danach jedoch aus der Erzählung ausgeblendet worden ist, wird er am Schluss wieder integriert und von Plinius direkt angesprochen (15): vides, quam obsequenter paream tibi, qui non solum res urbanas, verum etiam peregrinas tam sedulo scribo, ut altius repetam. Bereits in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.27 wurde Minicianus als jemand charakterisiert, der sich neugierig nach den Ereignissen in Rom erkundigt (27), und in Epist. 4,11 führt Plinius diese Charakterisierung weiter, indem er nun neben den res urbanae auch res peregrinae liefert und dabei sogar weiter ausholt, wie die narrative Analepse in Epist. 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 verdeutlicht. Plinius war davon ausgegangen, dass sein Adressat aufgrund seiner damaligen Abwesenheit (15: quia tunc afuisti) nur von der Verbannung des Licinianus ob incestum gehört habe, das heißt nur über Hörensagen, das ja nur den Ausgang des Geschehens, nicht aber seinen Hergang berichte (15: summam enim rerum nuntiat fama, non ordinem). Diese Aussage wirft die Frage auf, inwieweit Plinius, der seinem Freund von dem Geschehen erzählt, selbst als Augenzeuge daran beteiligt war – der Fall wurde ja außerhalb Roms in Domitians Villa Albana verhandelt und spielt dann im subterraneum, lediglich Celer wird öffentlich ausgepeitscht. Da Plinius in seiner Narration die Person des Herennius Senecio herausstreicht, den er an anderer Stelle als Freund und Kollegen charakterisiert,53 lässt sich vermuten, dass dieser als Verteidiger des Licinianus die Quelle für Plinius ist. Oder gehörte etwa Plinius selbst, der mit Senecio zusammen auch gegen Baebius Massa auftrat,54 zu den Anwälten des Licinianus (4,11,11: quibus erat curae)? Während der Epistolograph in anderen Narrationen durchaus deutlich macht, ob er eine Geschichte selbst miterlebt oder aus anderer Quelle erfahren hat,55 fehlen solche Anhaltspunkte in Epist. 4,11. Auffällig ist auch der Hinweis auf den Hergang einer Geschichte (ordo), den ein Gerücht angeblich nicht beibehalte. Die Frage der Reihenfolge in einer Narration wurde auch in der ebenfalls an Minicianus gerichteten Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 aufgeworfen, wo Plinius das Problem nicht nur mit Verweis auf Homer thematisiert, sondern auch mit dem Kunstgriff des Hysteron-Proteron spielt, indem er gleich zweimal Informationen nachträgt, die chronologisch an einem früheren Punkt der Erzählung hätten geliefert werden müssen. Auch in Epist. 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 ist die chronologische Ordnung verkehrt, indem Plinius den Brief mit den jüngsten Ereignissen beginnt und erst danach die Vorgeschichte erzählt. Der Vergleich mit Sueton hat zudem gezeigt, dass auch Plinius den ordo rerum keineswegs so verlässlich nachzeichnet, wie er behauptet, da er die erste Verhandlung, in die Cornelia involviert war, überhaupt nicht erwähnt. So gesehen ist auch seine Version eher eine auf bestimmte Aspekte zugespitzte summa rerum und kein historisch akkurater Bericht.Plinius der JüngereEpist. 4.11
Es zeigt sich, dass Minicianus in den Briefen 3,9 und 4,11 als epistolares Du erscheint, mit dem Fragen diskutiert werden, die in der modernen Narratologie den Kategorien der Reihenfolge und Dauer bzw. Erzählzeit entsprechen;56 zudem hat Minicianus als Interlokutor auch einen direkten Einfluss auf die Gestaltung der jeweiligen Narration, die als Teil eines epistolaren Dialogs präsentiert wird. So wünscht sich Plinius am Ende der Epist. 4,11 auch eine Gegenleistung für seinen Bericht und fordert Minicianus dazu auf, seinerseits Neuigkeiten aus seinem oppidum und dessen Umgebung zu schreiben (16: mereor, ut vicissim, quid in oppido tuo, quid in finitimis agatur – solent enim quaedam notabilia incidere –, perscribas). Wo dieses oppidum liegt, erfahren wir hier noch nicht – erst aus Epist. 7,22Plinius der JüngereEpist. 7.22 geht hervor, dass es sich um die Heimatregion