UR = UR (YR; UA).
Subsidiarität ist nun ein fundamentaler Baustein eines dem Wesen des Menschen angemessenen Sozialstaates. Es geht um die Balance von Eigensinn und Gemeinsinn223, von Selbstverantwortung des Individuums und kollektiver Verantwortung der Gesellschaft für sich selbst als moralische, politische, wirtschaftliche Verkettung (»Figuration«) der Individuen. Insofern ist die Verantwortung eine »Miteinanderverantwortung«.
Die Subjekt-Objekt-Dualität im Raum des Zwischenmenschlichen hebt sich in dem »IMWUD«-Morphem auf zu einem Netzwerk von Subjekt-Subjekt-Relationen. Dadurch wird deutlich, warum in der modernen Sozialphilosophie die Kategorien der Gabe und der Dialogizität sowie Reziprozität mit den Kategorien der Anerkennung und der Diversität zusammen gedacht werden: Selbstentfaltung in Liebe (in Offenheit, Sorge, Gabe, Umverteilung), Anerkennung in der Wechselwirkung, Vielfalt in der Gleichheit: Gestalt-Werdung des »IMWUD«-Morphems.
Das muss angemessen verstanden werden: Gesellschaft (bzw. eine Gesellschaftsformation als funktionaler Daseinszusammenhang224) ist ja nichts anderes als die Figuration, die die Individuen im Miteinander bilden: eine Aufstellung der Menschen als Rollenspieler auf der Bühne225 des Lebens gemäß Drehbuch und Regie. So gesehen gibt es nicht die Gesellschaft: Der Begriff ist eine Abstraktion als geistige Leistung, hat keine direkte, sinnliche, materielle Entsprechung in der Erfahrungswelt, ebenso wie das Individuum. Es gibt das Subjekt ja immer nur als vergesellschaftetes Individuum, in das sich die Kultur (durch Erziehung und Sozialisation, die aber befähigend sein soll, nicht Dressur226) tief eingeschrieben hat.227 Die transzendentale Rolle des Subjekts ist durchaus in jeder Theoriebildung einbauend zu beachten, aber es dürfte evident sein: Es gibt real kein »reines transzendentales« Subjekt, sondern immer nur das »vergesellschaftete historische transzendentale« Subjekt.228 Das meint die oben genannte »Gesellschaft für sich selbst«: Alle Individuen im Miteinander tragen Verantwortung für eben dieses Gelingen des Miteinanders. Das Miteinander der Menschen ist ihrem Wesen der »Miteinanderverantwortung« nach eine »Hilfe- und Rechtsgenossenschaft«. Im Kern – methodologisch dem unternehmensmorphologischen Denken analytisch folgend – beruht die Genossenschaftsidee auf den Fundamentalmerkmalen der Selbsthilfe und Selbstverantwortung, Selbstorganisation und der Selbstverwaltung der Gebilde.
Mit Blick auf diese Idee der »Hilfe- und Rechtsgenossenschaft« kann gesagt werden: Dieses »SSSS-Morphem« ist ein Gestaltbaustein eines gelingenden sozialen Zusammenlebens im Sinne des »IMWUD«-Morphems. Personalität meint daher: Die Personalität nimmt in dieser Form eine Gestalt in der Wirklichkeit an. Denn die Selbsthilfe als Gegenseitigkeitshilfe in der demokratischen Form der selbstorganisierten Selbstverwaltung ist kollektive (trans-individuelle), somit personale Selbstverantwortung: eben »Miteinanderverantwortung«.
Es geht in der genossenschaftsartigen Sozialpolitik nicht um die Hilfe für Dritte als Ausdruck von Barmherzigkeit (die sich gerne auch an Repression, aus der sie heraustreten musste, wenn sie zur Sozialreform werden wollte229, knüpfte), wohl möglich aus der vertikal-asymmetrischen Haltung der Gnade230 heraus. Es geht vielmehr um Mutualität231, um die solidarische Gegenseitigkeit. Maßgebend ist demnach nicht die ORDO-Soziallehre des kirchlichen Christentums bzw. der anstaltsförmige »Liebespatriarchalismus« (Ernst Troeltsch232).
Wenden wir unsere Sichtweise synthetisch hin auf Fragen der Möglichkeitsräume zukünftiger Strukturentwicklungen: Warum kann die gesellschaftspolitische Perspektive einer Pflegepolitik der Zukunft nicht eine Kommunalisierung im Sinne der Genossenschaftlichkeit sein? Die Vereinten Nationen hatten das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Die Dr. Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft und die Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft stellten im Jahr 2013 in den Bundesländern Sachsen und Rheinland-Pfalz gemeinsam, also länderübergreifend, einen Antrag zur Aufnahme der »Genossenschaftsidee« in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes im Rahmen der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Im Jahr 2014 wurde der Antrag durch die Kultusministerkonferenz genehmigt und im Jahr 2015 bei der UNESCO als Nominierung eingereicht. Im Jahr 2016 entschied sich der intergouvernementale Ausschuss der UNESCO für eine Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Sicherlich hatte man hierbei das Einzelwirtschaftsgebilde der Genossenschaft im Auge. Diese mögen aber hier Sozialgebilde als integriertes Element der kommunalen Genossenschaftlichkeit sein.
Das UNESCO-Weltkulturerbe hat seine Legitimität in einer Archäologie der Ubiquität der Gebilde in kulturgeschichtlicher (diachroner) wie kulturvergleichender (synchroner) Perspektive. Über die europäischen Gebilde, die die Gildenforschung in den 1980er Jahren interdisziplinär und vielfältig (über Kategorien von Gilden, Zünften, Einungen, Bünden, Schwurgemeinschaften und Eidgenossenschaften, Dorf und Stadt, Bruder- und Schwesternschaften etc.) erforschte, hinaus in das Studium antiker (vor allem hellenistischer) Gebilde genossenschaftsartiger Hilfsvereine und Berufsgenossenschaften führten Forschungspfade in das altorientalische Altertum und dort wieder zurück in die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Historische Psychologie und Kulturanthropologie233 des neutestamentlichen Zeitalters234 der synkretistischen Spätantike235, die validieren konnte, dass das Ur- und Frühchristentum genossenschaftsartig organisiert war nach der Blaupause hellenistischer Vereine, die Kultgenossenschaften darstellten.
Einung
Einung236 meint in der (mittelalterlichen)237 Rechtssprache eine auf einem Eid (rituell: Schwur) gegründete vertragliche Übereinkunft (conjuratio). Auch die durch die (vertragliche) Übereinkunft begründete Gemeinschaft wird Einung genannt, so beispielsweise die städtischen Schwurgemeinschaften von Bürgern oder die Zusammenschlüsse der Handwerker und Kaufleute in Zünften und Gilden. Schließlich meint die durch die eidliche Übereinkunft entstandene Rechtssatzung Einung. Die Rechtsform der Einung umfasst also sowohl Bereiche des subjektiven Rechts in Form der individuellen Selbstbindung durch den Eid und Schwur, als auch Bereiche des objektiven Rechts als Rechtsetzung zur sozialen Regulation des Miteinanders der Rollen im kulturellen Gefüge der sozialen Form als Gebilde.
Mit dem Denken des dialogischen Personalismus von Martin Buber238 und der israelischen Kibbutz-Bewegung wird evident, welche kulturgeschichtliche Bedeutung der jüdische Genossenschaftssozialismus, auch hier mit bereits alttestamentlichen Wurzeln, die der Kritik des Sakralkönigtums239 in Erinnerung an die Selbstverwaltung örtlicher Siedlungsgemeinschaften zu entnehmen ist, hat. Andere Zweige der Forschung führen uns z. B. in die moderne Ethnologie Afrikas, wo die Genese sozialversicherungsartiger Gegenseitigkeitshilfen aus den Kultpraktiken heraus rekonstruiert werden konnte. Man mag darüber streiten, ob diese Ubiquität der Genossenschaft jeweils angemessen verstanden wird im Rahmen240 strukturalistischer oder historischer Anthropologie, einer Kulturgeschichte oder der evolutionsbiologischen Ethologie der Gene und Meme kooperativen Verhaltens und entsprechender altruistischer Fundierungen als Stufen moralischen Urteilens241 auf Grundlage entsprechender Stufen kognitiver Fähigkeiten. Das darf hier nur kurz angemerkt und ansonsten dahingestellt bleiben.
Denkt man die Idee der Genossenschaftsartigkeit, dann gilt: Subsidiarität ist daher nicht einfach Vorrang der individuellen Selbstsorge vor der Sorgeverantwortung der Gesellschaft für das Individuum. Es gibt nur die Miteinanderverantwortung als eine Füreinandersorge.242 Dieses personalistische Menschenbild sollte die Reform der Sozialraum-orientierten Wohn-, Gesundheits- und Pflegepolitik prägen.
Der Verkettung der Menschen in der Sorgegemeinschaft einer Miteinanderverantwortung muss jedoch demnach eine konkrete Gestalt gegeben werden durch eine angemessene kulturelle Einbettung. Die Verkettung muss auf einem neuen Vertrag der Gesellschaftsmitglieder basieren, ein Vertrag, der jedoch nicht- bzw. vor-vertragliche Voraussetzungen hat. Diese vor-vertraglichen Grundlagen des Vertrages ist der (ohne Empathie kaum mögliche243) kollektiv geteilte Glauben an die Würde der menschlichen Person. Dieser Glaube kommt zum Ausdruck im Recht auf selbstständige Selbstbestimmung im Modus der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wobei die Teilhabe eben nicht nur ein Nehmen, sondern immer auch, sofern möglich, ein Geben ist.
Zwischenfazit