Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik


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dennoch: Es ist heute überwiegend eher eine Fabrik-mäßige Art, Versorgungsmaschinen bereitzustellen. Oftmals mit der Lüge verkleidet, es stünde der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens, den Tatort somit in ein falsches, scheinbar beruhigendes Licht rückend.

      Kritik ist hier aber nicht identisch mit der erfahrungswissenschaftlichen Erzeugung von Befunden. Man wird die Befunde bedeutungsvoll sprechen lassen müssen, was nicht ohne Empörung188, nicht ohne soziale Phantasie über die humangerechte Zukunft der Gesellschaft, nicht ohne transgressive Träume189, nicht ohne dionysische Sprünge – nicht ohne Tanz190 – gehen wird.

      Man mache doch einmal z. B. eine »demographische Reise durch Deutschland«191 und erzähle die Geschichten »aus kleinen Städten und großen Dörfern«192, die als Drama des Lebens193 zu verstehen194 sind. Die Geschichten des Alltags der Menschen als »Sozialreportagen aus dem Land der Sozialen Marktwirtschaft«195 fordern die Wissenschaft, trotz und eben auf der Grundlage ihrer Methodologie der methodisch kontrollierten Distanz zum Objekt ihrer Begierde, als Dichtung heraus: Sofern man Dichtung als Übertragung der Liebe (im psychoanalytischen Sinne) auf die Sprache versteht196, Dichtung197 also definiert als das Fabulieren über die Wege, die unsere Kultur gehen muss, wenn sie aus der Kraftquelle der Liebe im Lichte sozialer Gerechtigkeit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zukünftig leben will. Die Wissenschaft muss in diesem Sinne (wie bei Norbert Elias198) auch dichten können, benötigt also ihre eigene Poetologie.

      Das mag exotisch klingen. Dieser Eindruck verblasst, wenn man, die Enge der eigenen (meist doch relativ engen) Forschungsfelder transzendiert, die vielfältigen Diskurse in verschiedenen anderen Disziplinen kennt. Aber auch dann, wenn der Vorwurf der Exotik zutreffend sein sollte: Wir wollen lieber exotisch als irrelevant sein, wir wollen Verantwortung übernehmen, »nie der schwierigen Aufgabe verantwortungsbewußter Wertung«199 ausweichen und uns nicht empiristisch kastrieren. Denn Eulen nach Athen tragen wir nicht. Es gibt im politischen Diskurs gerade nicht genug Weisheit, die den Pfad, den die Gesellschaft gehen sollte, ausleuchtet. Athena200, deren römische Analogfigur die Göttin Minerva war, fehlt uns sehr. Gerade als Weggefährtin, das wissen wir aus der Odyssee, ist sie eine Schutzgöttin. Da sie auch Schirmherrin des Wissens und der Wissenschaften (die den Schutz [gegenüber dem eigenen Versagen201] auch benötigen) ist, können wir uns gut auf sie berufen.

      Einige erweiternde Anmerkungen zur Grundlegung der Optik der Analyse sollen nun auf einer ersten Hinführung zur personalistischen Grundlage des Rechts erfolgen. Denn es geht hier nicht um eine Lehrbuch-artige Darlegung des Themenkreises kommunaler Pflegepolitik.202

      Die Idee der Kommunalisierung muss fundiert werden. Denn dieser Weg in die Kommunalität ist normativ nicht beliebig, den man (im Sinne eines subjektiven Werterelativismus) gehen kann oder eben auch nicht. Der Kommunalismus resultiert aus dem personalen Wesen des Menschen und ist in der Idee der Partizipation am nachbarschaftlichen Gemeinwesen als Grundrecht begründet, weil das Wohnen und somit die Örtlichkeit des Daseins die Ausgangspunkte der Sichtweise sind.

      Doch Metaphysik bleibt »L’art pour l’art« (Kunst als Autotelie)203, wenn sie nicht in politische Schlussfolgerungen ausmündet. Denn aus der Entelechie des Wesens resultiert die Aufgabe der Gestalt-Werdung, die aber nicht automatisch verläuft, sondern der Politik des Gärtnerns bedarf. Das meint Gesellschaftsgestaltungspolitik. Motorzentrum dieser Politik kann nicht allein die Regierung einer parlamentarischen Demokratie sein. Auch nicht unter Einbezug des ministerialbürokratischen Maschinenraums. Politik ist mehr als »Regierungslehre«, auch mehr als die übliche Erweiterung zur »Arena des politischen Systems«, somit neben der Parteien- auch als Verbändedemokratie, das Ganze massenmedial mit Blick auf »framing policy« und »agenda-setting« gedacht. Politik muss außerparlamentarisch von der Agonalität der zivilgesellschaftlichen Kräfte sozialer Bewegungen des Empowerments und der Kritischen Intelligenz und der Kreativszene als hegemoniale Ideenpolitik getrieben werden. Menschenrechte (als Substanz: Hyle204 = Stoff, Materie) bleiben an Demokratie (als Form205: Morphe = Gestalt, Form, Aussehen, Eidos, Phänotypus) gebunden, wobei der expressive Charakter der Form verbunden ist mit der generativen Kraft und Funktion der Form: Die Demokratie muss die Substanz Wirklich-werden lassen. In diesem Sinne sprach Paul Tillich in seiner »politischen Theologie des religiösen Sozialismus« davon, man müsse aus der Kraftquelle der Liebe im Lichte sozialer Gerechtigkeit die demokratische Macht nutzen206, um die Personalität des Menschen als Telos der Weltgeschichte207 voranzutreiben.208

      Die bereits erwähnte Fülle von Literaturverweisen (als Dienstleistung für tiefer interessierte Leser*innenkreise) soll als Aura eines akademischen Habitus nicht darüber täuschen: Es geht um eine politische Diskussion fundamentaler Fragen von anthropologischer und ethischer Reichweite, die die Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung der Pflege209 radikal in Frage stellen. Philosophische Fragen sind dann echt, wie Landgrebe es formulierte, wenn sie sich aus dem Dasein des Menschen in seiner geschichtlichen Not und Bedrängnis heraus helfen, das »fragwürdig Gewordene« zum Gegenstand zu machen.210

      Ausgangspukt des kritischen Argumentierens ist eine personalistische Sicht: Der Mensch ist uns im Sinne eines modernen Naturrechts heilig. Das Naturrecht der Würde meint: »Dignity is inherent«, so lautet es im Völkerrecht. Die Würde ist Teil der menschlichen Natur, also seines Wesens. Die Würde ist dergestalt Kernidee eines modernen, demokratischen Naturrechts. Doch in Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit muss gelten: Das Wesen muss erst noch (entfaltet) werden. Es ist an sich, muss aber erst noch erfahrbare Gestalt annehmen. Das fundiert Kritische Wissenschaft. Gegenüber dem traditionellen, eher der Herrschaft über breite Bevölkerungen dienenden Naturrecht der kirchengeschichtlichen Scholastik, versteht das moderne Völkerrecht die Würde (dignity is inherent) als konstitutiven Teil der menschlichen Natur. In diesem Sinne ist die Idee der Würde als Kern des Wesens des Menschen in seiner Personalität in das Europäische grundrechtliche Unionsbürgerschaftsdenken und in die Grundrechte der bundesdeutschen Verfassung des GG fundamental eingegangen. In der neueren Literatur wird von der »heiligen Ordnung der Menschenrechte« bzw. der »Sakralität der Person« als Grundlage des sozialen Rechtsstaates gesprochen. Diese Axiomatik der Würde prägt normativ-rechtlich auch die Logik des Gewährleistungsstaates. Für die am Capability-Ansatz der Sozialpolitik der Lebenslagenverteilung orientierte Gesellschaftspolitik sind die Werte der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe sozialrechtlich bestimmend. Diese personalistische Anthropologie von Autonomie und Partizipation rückt die Würde in das Zentrum der ontologischen Seinsverfassung des Menschen in seinen Figurationen. Maßgeblich ist der kategorische Imperativ von Kant, wonach der Mensch immer nur Selbstzweck sein darf (Sittengesetz). Er darf nie instrumentalisiertes Mittel für andere Zwecke werden (Verbot von violation und alienation als Verletzungen [Vulnerabilität] der Würde im Völkerrecht).

      Wenn von Werte-orientierter Wissenschaft die Rede ist, kann es daher eben nicht um beliebige Werte gehen. Dies ist der altbekannte Werterelativismus oder auch der nihilistische Rechtspositivismus. Gleichwohl muss naturrechtliches Menschenrecht auch politisch in der Rechtsprechung gelebt werden.211 Und genau dieser Positivismus ist es, der es verhindert, dass die Werte-Fundierung der Wissenschaft in die Wissenschaft einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch kontrollierten Einzug erhält. Es geht ja nicht um ästhetische Präferenzen des Geschmacks – quasi über Küchen-Deko, die Farben der Haare usw. – im öffentlich nicht relevanten privaten Leben. Es geht um die oberste Ebene des völkerrechtlichen Naturrechts, das auch das Grundrechtsdenken des europäischen und deutschen Verfassungsrechts prägt und Eingang gefunden hat in das System der Sozialgesetzbücher. Man lese einmal den § 1 SGB I. Auch wenn er später nochmals zitiert wird, er lautet:

      »(1) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden