zum Mitmenschen, bedarfsorientiert Ressourcen zu schenken. Die Kategorie der Gabe wird traditionsreich in vielen Disziplinen (Anthropologie, Theologie und Religionswissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Sozialökonomik, Kulturgeschichte) theoretisch anspruchsvoll und mit vielerlei empirischen Material erforscht. Die Gabe zählt als Universalie zum Kern der kulturellen Grammatik des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Motive (Altruismus und Empathie) können eher unterschiedlich sein und auch auf tiefenpsychologische Dimensionen verweisen. Es gibt auch »schmutzige« Gaben (zumindest ambivalente Motive, wie die Forschung zum »Tafeln« zeigen kann: aus Motiven des Machtwillens mit Absicht auf Allianzen oder Beherrschung des Mitmenschen als Empfänger der Gabe (Klientilismus und Euergetismus), der Demütigung, der Korruption etc. Aus der Gabe entstehen soziale Bindungen und dynamische Systeme von Geben und Nehmen und Gegen-Gabe. Es gibt auch Phänomene der sozialen Pathologie der Gabe bis zur Selbstzerstörung (vgl. z. B. Phänome destruktiver Gabezyklen wie den Potlatch157). Obwohl es um soziale Austauschbeziehungen geht, sind die Prozesse der Gabe und Gegen-Gabe nicht rein-ökonomischer Natur, sondern komplexe »totale soziale Tatsachen« mit politischen, religiösen, ethischen, rechtlichen Bedeutungsdimensionen).
Es geht nicht um eine Kritik der Ökonomisierung158 des Lebens, weil das Leben eben ex definitione eine praktische Ökonomik der Sorge ist. Es geht um den ideologischen Modus der Ökonomisierung und um den Daimon des Ökonomismus, der die Lebenswelten der Menschen kolonialisiert und heute159 als digitaler Turbo-Kapitalismus 4.0 den »Weltinnenraum« umspannt und tief durchdringt, bis hinein in Geist, Seele und Körper.
Wer nicht bereit ist, über die Gefahr des kapitalistischen Modus der Ökonomisierung als mentales Modell der Gestaltung des Feldes kritisch zu denken, wird nicht verstehen, was eine Pflegepolitikreform meinen muss. Der »Geist des Kapitalismus« hat eine eigene Art des inklusiven Kolonialismus160 in luzider Art und Weise subtil ausgebildet. Als »objektiver Geist«, der die Subjekte durchdringt, erobert er die Diskurse und schreibt sich in unsere Wahrnehmung ein, wonach doch alles gut sei: sicher, sauber, trocken. Sicher sind die Sonderräume der Pflege sicher. Die »Angst (Furcht161) vor der Freiheit«, wie es die kritische Psychoanalyse als Gesellschaftskritik (im Sinne von Adornos Studie über die »autoritäre Persönlichkeit«162) einst nannte163, sorgt (eben für-sorgend) dafür, dass das Risiko als Kehrseite der Freiheit dem Sicherheitsregime geopfert wird. Sauberkeit und Trockenheit drückt die infantil-elementare Körperzentriertheit aus. Normales Wohnen – damit der Mensch »Im Leben bleiben«164 kann – sieht anders aus. Im sozialen Feld des Geschehens und ihrer Ablaufordnungen ringt man sich Schritte der Normalisierung des Wohnens als Annäherung an die Normalität mühsam ab.
Dabei bietet die Teilnahme am Sozialraum doch so viele Möglichkeiten zum Klatsch165, jenen Reichtum der Lebenswelten, wie beim Friseur166, ein Ort, wo es um mehr als um Waschen, Schneiden, Föhnen geht. Die literarischen Ausdrucksweisen, die im generativen Kontext von geschlossenen Anstalten Gestalt annehmen167, zeigen die tiefe Bedürftigkeit. Der Blick des Anstaltspersonals konstruiert, ein Analogiefeld wählend, andere Wirklichkeiten: Die Aktenproduktion der Fürsorgeerziehung168 konstruiert ihre »Aktenzöglinge«169. Was würde in der Bildperspektive der Professionen passieren, wenn sie sich mit existenzial fundamentaler Literatur daseinsthematischer Art – Sophokles, Shakespeare und Tolstoi – auseinandersetzen würden?170
Deutschland ist ein Land der unbewussten kollektiven Ablassordnung. Man ist bereit, viel Geld zur Verfügung zu stellen, um diese Landschaften in ihrer dehumanisierenden Flächenbebauung zu finanzieren. Argumentieren wir psychoanalytisch: Das Schuldgefühl, sonst nicht genug seinen Verpflichtungen gegenüber dem wohl verdienten Alter der alten Generation nachzukommen, wird so sublimiert. Doch diese Sublimierung ist eine monetäre Strategie, die daran gekoppelt ist, bloß nicht die Verschandlungen der Landschaften radikal in Frage zu stellen, soziale Phantasie171 auszuspielen und die Pfadabhängigkeit zu verlassen und in schizoider Dynamik sich der Kontingenz zu stellen, alles auch ganz anders zu machen. Kontingenz meint das Merkmal der conditio humana, dass immer alles auch ganz anders sein kann. Das kann positiv als Chance, aber auch negativ belastend als angstbesetzte Unsicherheit erlebt werden. Möglich ist im Alltag der Menschen die Haltung: Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Aber es ist auch möglich, dass man sich den Mund böse verbrennen wird. Sicher ist nur, dass die Zukunft unsicher ist. Aber das ist die Seinsverfassung des Menschen. Kontingenz bezeichnet ontologisch eine Eigenschaft der Stellung des Menschen im Kosmos172: Alles kann auch ganz anders sein und/oder dazu werden. Wahrscheinlichkeitsmathematik ist der Versuch, über diese Unsicherheit bedingte Kontrolle zu erreichen. Das Versicherungswesen ist ein Paradebeispiel für dieses Risikomanagement. Angesichts der Unsicherheit mag (sinnvolle) Angst (Sorgemotiv) aufkommen. Kontrollbedürfnisse können sich aber auch zu neurotischen Kontrollzwängen versteigen. Kohärenz ist hierbei eine Ressource, sich nicht ohnmächtig dem »Schicksal« (die Götter) zu ergeben und gegen die daimonisch anmutenden Kräfte zu kämpfen. Aber dazu braucht man das rechte Maß und die richtige Form von Mut. Die Pfadabhängigkeit dagegen kann man auch als »Labyrinth der Gewohnheiten«173 bezeichnen.
Es ist eher eine Signatur des Problems, das erst überhaupt richtig zu begreifen ist, dass die soziologische Theorie der Pfadabhängigkeit, die in Politikwissenschaft und Ökonomie Eingang gefunden hat, kaum eine tiefere Fundierung als im Werk von Georges Bataille, der den meisten Forschern dieser Standarddisziplinen unbekannt sein dürfte, entdeckt hat. Bataille ist ein dionysisch denkender Theoretiker der Verflüssigung der Kultur des Sozialen, deren Homogenität erst durch die Andersartigkeit des Heteronomen als souveräne174 Kraftquelle herausgefordert wird. In diesem Sinne175 wird die dionysische Sprungdynamik oftmals als hyperbolisch bezeichnet und somit die klare apollinische Weltordnung einer euklidischen Geometrie verlassen. Schaut man sich die Bedeutung von Dionysos im expressionistischen Kontext176 genauer an, dann könnte evident werden, dass die Epiphanie177 des Dionysos178 an eine Krisenzeit gebunden ist. Sollte gerade das technische Zeitalter der Moderne, die von Anbeginn an in der Krise war – wie das Werk von Gottfried Benn179 zeigen kann180 – und dessen eskalierende Zuspitzung im expressionistischen181 Modus letztendlich als »Schrei« zum Ausdruck kam, das Schwindelerlebnis182 zum orientierenden Thema gemacht haben? Dionysos schwankt aber nicht, sein Taumel (Folge der Trunkenheit des Gelages183) ist ein ekstatischer Sprung. Ihm ist damit die resignative Haltung distanzierter Philosophie fremd, die mit Hegel184 wie die Eule der Minerva zwar im Untergang der alten Epoche, also in den Abend als Übergang zur Nacht, ihren Flug beginnt, aber stattdessen eben nicht nur rekonstruktiv mit Vernunft räsoniert und mit Verstand bilanziert, sondern aus der Nacht heraus den Morgen des anbrechenden Tages imaginiert und somit den Aufbruch in das Neue, das das Bessere sein soll, thematisiert.
Damit ist Dionysos für uns symbolisch der Gott des radikalen Denkens, des Protests und des Aufbruchs als kreativer Ausbruch aus dem Käfig der Pfadabhängigkeit, die mit dem Karotten-Prinzip den Menschen zum Arbeitsesel, zum Untertan185 und Ja-Sager186 macht. Dabei sei der ethnographischen Sicht unbenommen, selbst im Oktoberfest187 einen ritualförmigen Rausch der Masse zu erkennen. Allerdings streben die teilnehmenden Kultmitglieder dort nicht nach Höherem, sondern nach dem Abstieg nach unten und kehren dann irgendwann das Innere nach Außen. Und dafür pilgert die ganze Welt dorthin.
Es geht mit Blick auf die Abkehr vom sicheren Pfad der Tradition nicht um die Forderung nach Verantwortungslosigkeit. Es geht nicht um Casino-Mentalität. Es geht um die Bewältigung verstiegener Ängste, die mit dem Verlassen der eingefahrenen Bahnen des Lebens verbunden sind. Aber dazu sind Ideen notwendig, die gemeinsam geteilt werden. Im Lichte welcher Menschenbilder entwickeln wir Ideen über eine neue Kultur des sozialen Miteinanders? Wie transzendieren wir unsere ökonomischen Interessen und somit uns selbst, indem eine dann endlich neu codierte Sozialwirtschaft ihr Geld in radikal transformierten Landschaften von Care und Cure verdient? Raus aus dem Käfig des Marktes. Care ist eine Welt, die einer gemeinwirtschaftlichen DNA folgen muss. Kapitalismus wie Faschismus sind Inszenierungen einer Maskerade, die die Souveränität unterdrücken zugunsten der Homogenisierung der Welt, regiert von Hierarchien und Funktionen.
Natürlich: Überall »tut