Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik


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Neubelebung der Idee des solidarischen Gemeindelebens und verweist auf die Renaissance des Nachbarschaftslebens129 im Kontext der Diskurse und Praxisentwicklungen von Caring-Community-Building (oder Community Organizing130), angetrieben von einer schon längeren Dynamik der Zivilgesellschaft zwischen politischer Öffentlichkeitsarbeit und sozialem Dienstleistungsengagement. Gerade diese Dimension des sozialen Wandels wird im Kontext der KDA-Ideenpolitik des Quartierskonzepts in der vorliegenden Abhandlung im Lichte genossenschaftsmorphologischer Perspektiven offensiv aufgegriffen: Die Kommune wird als Hilfe- und Rechtsgenossenschaft thematisiert. Die soeben angesprochene Perspektive der Kirche wird u. E. nur dann eine wirkliche Chance haben, hier im Geschehen, sich revitalisierend, mitspielen zu können, wenn sie sich als politische Theologie der Hoffnung131 gesellschaftspolitisch radikal kritisch engagiert. Ihre Fähigkeit, affirmative Beiträge zur Reproduktion von politischer Herrschaft, sozialen Machtverhältnissen und »struktureller Gewalt« zu leisten, hat sie genügend unter Beweis stellen können. Darauf kann heute und in Zukunft dankend verzichtet werden.

      Im Schaubild (image Abb. 1) sind nun zwischen den Subsystemen und dem Kern der privaten Keimzelle des Lebens vier Kürzel angesiedelt: HK, SK, VK, KK. Hiermit sind vier »Kapitalien« angesprochen, über die der Mensch in der modernen Gesellschaft in guter Ausstattung verfügen muss, um erfolgreich und sinnhaft im Verlauf des Lebenszyklus am Leben daseinsführend und somit existenzgestaltend partizipieren zu können. Der Kapital-Begriff ist hier nicht ökonomistisch gemeint. Jedoch bilden sich diese Ressourcen als Handlungsvermögen erst heraus, nachdem und indem man in ihren Ausbau investiert: Zeit, Geld, Phantasie, Mühen.

      Gemeint sind Humankapital (HK), Sozialkapital (SK), Vertrauenskapital (VK) und Kulturkapital (KK). Diese Kapitalien sind notwendig, damit sich der Mensch in seiner Welt orientieren kann und sich wohnend einbauen kann, einen »Sitz im Leben« findet, sich also einrichtet. Humankapital bezeichnet den verwertbaren Ertrag der Investition in Arbeitsmarktzugangschancen in Form von zertifizierten Qualifikationen. Es geht also um Employability. Humankapital ist eine Schlüsselvariable in der Dynamik der Zugangschancen zum Erwerbsleben und somit zur Einkommensbildung sowie zur sozialen Absicherung in den Sozialversicherungen. Workability verweist auf ein Kapital, das im Schaubild (image Abb. 1) gar nicht aufgenommen worden ist, um die Komplexität in Grenzen zu halten: Gemeint ist das Gesundheitskapital (GK). Hier zeigt sich zugleich, wie hochgradig interdependent die verschiedenen Kapitalien sind. Denn Armut, Ungleichheit, Morbidität und Mortalität korrelieren in komplexer Weise eng. Bildung ist allerdings mehr als Humankapital. Daher meint KK kulturelles Kapital, das auf Daseinskompetenzen der Persönlichkeitsentwicklung verweist, die über formale Zertifikate hinausgehen. Auch hier wäre viel über die komplexen Zusammenhänge zu sagen. Doch die Ausführungen zum Schaubild (image Abb. 1) sollen sich nicht im weiten Feld einer allgemeinen Soziologie der modernen Gesellschaft verlieren. Es geht um die Frage, welche zentralen Ressourcen thematisiert werden müssen, damit das Leben als Wagnis hier und heute besser verstanden werden kann, um die Gefahren des Scheiterns des Menschen in dieser Odyssee des Lebens zu erkennen und um ihn für diese Reise fähig zu machen, von der Aaron Antonovsky in seiner Theorie der Salutogenese sprach, als er metaphorisch schrieb, der Mensch müsse ein »guter Schwimmer« im Fluss des Lebens werden. Es wird sich noch mehrfach zeigen, wie wir in diesen Auslegungen der Fragestellung nahe am Ansatz der »Befähigung« im Sinne des Capability Approach von Sen und Nussbaum (u. a.) sind.132 Es wird gleich auch noch anzusprechen sein, dass Befähigung hier keinesfalls individualisierend und risikoprivatisierend ausgelegt werden darf.

      Antonovsky anzusprechen, ist nun auch angezeigt, weil die Bedeutung des Vertrauenskapitals (VK) mit Bezug auf seine Theorie des Kohärenzgefühls verstehbar wird. Aber hier soll sogleich der innere Zusammenhang mit der Bildung von Sozialkapital (SK), auf das wiederholt noch aufgreifend einzugehen sein wird, betont werden. Netzwerke und ihre Funktionalitäten (Sozialkapital als Ertrag von Netzwerkaktivitäten in Form von sozialer Unterstützung, sozialer Integration, personalisierender Rollenangeboten) sind für das Thema der Kommunalisierung als Bildung der lokalen sorgenden Gemeinschaften die Schlüsselfrage. Wie entstehen nachhaltige soziale Netzwerke? Wie können sie in ihrer Entwicklung verstanden werden? Dem Vertrauenskapital kommt hierbei eine transzendentale Bedeutung zu: Vertrauen ist Resultat, aber eben auch Voraussetzung der Entstehung und nachhaltigen Entwicklung von Netzwerken. Das Ei-Henne-Problem in dieser Soziologie und Psychologie der Netzwerkforschung ist eine echte Herausforderung, verweist uns aber erneut auf die komplexen inneren Mechanismen des Zusammenspiels aller Aspekte im Geschehensgefüge der Polis: Sozialisation und Erziehung (Paideia), Bildung und Charakter, Vertrauen, Engagement und Strukturen der Gesellschaft als soziales System (Wirtschaft [Geld und Arbeit] und Politik [Recht und Macht], Raum [Wohnen und Siedlung] und Mobilität [Verkehr und Kommunikation] etc.) hängen eng zusammen.

      Das nunmehr nachfolgende Schaubild (image Abb. 2) mag helfen, sich diese Zusammenhänge nochmals anders zu vergegenwärtigen. Es erläutert sich mit den bislang dargelegten Erklärungen selbst. Aber zwei Aspekte werden hier expliziter angesprochen: das Verständnis der Umwelten des Menschen und die Rolle des Infrastrukturstaates.

      Es wurde ja schon kurz erwähnt: Man dürfe den Befähigungs-Ansatz in der Sozialpolitik nicht neoliberal verkürzen. Es geht um die Befähigung des Subjekts. Aber dazu muss der Mensch in seiner Wechselwirkung zu seinen Umwelten, in denen er gestellt bzw. eingelassen ist, verstanden werden. Das wird uns als transaktionale Denkweise in der Lebenslaufforschung noch in sozialpolitisch relevanter Weise beschäftigen. Es geht um die Gestaltung der sozialen Mitwelten und der technisch-dinglichen Umwelten.133 Der zweite Aspekt verweist uns auf die Gewährleistung von existenzial wichtigen Infrastrukturen. Der erste Aspekt betrifft die Notwendigkeit der kulturellen Einbettung des Menschen in seine Kreise sozialer Beziehungen. In der Kommune als Hilfe- und Rechtsgenossenschaft kommen beide Aspekte zusammen. Sie werden ihre anthropologische Evidenz in den Ausführungen zur personalistischen Philosophie erhalten.

      Befähigung bedarf der Ermöglichung. Befähigung meint einerseits Ermöglichung von Kompetenzentwicklung der Person, andererseits Gewährleistung von Möglichkeitsräumen der Umwelt134, in die die Person gestellt ist. Damit kommt der Staat als sozialer Rechtsstaat in seiner Funktion der Gewährleistung der Sicherstellung von Sozialschutz und Infrastruktur in den Blick. Das wird grundrechtsphilosophisch – vom Völkerrecht bis zu den Wohn- und Teilhabegesetzen der Bundesländer – zu diskutieren sein.

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      Viele Themen unterschiedlicher, aber innerlich zusammenhängender Politikfelder und des sozialen Wandels lassen sich, z. B. auch gerontologisch verknüpfend, entsprechend einsortieren. Alles verdichtet sich in der Theorie der Daseinsvorsorge als Politik des Wohnens, der Mobilität und der Versorgung (Cure und Care) im Kontext jeweiliger Siedlungsstrukturen, die zentrale Bedeutung der »Kapitalien« Bildung und Charakter, Vertrauen und Netzwerke verstehbar machend, aber auch eingeordnet in die Welt der Märkte, der Zivilgesellschaft und der regulativen Regime des Staates.

      Hier besteht die Möglichkeit, die Theorie der Lebenschancen bei Ralf Dahrendorf135 über dessen Sozialliberalismus136 hinaus neu zu konzipieren. Es geht sowohl um (wirtschaftliche) Möglichkeitsräume (Optionen) als auch um sozio-kulturelle Bindungen (Ligaturen). Liegt der normative Fokus in jeder liberalen Demokratie und ihrer Sozialpolitik in der Tradition von 1789 in der Freiheit, so ist doch die Gleichheit der Chancen ihre transzendentale Voraussetzung. Und diese Voraussetzung hat wiederum die Solidarität zu ihrer transzendentalen Bedingung zu zählen.