Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik


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zählen zu diesen Einbindungen der Freiheit: Freiheit (Art. 2 GG) muss (aufgrund von Art. 1 GG) geordnet (dazu dient Art. 20 GG) – wir reden hier über die heiligen Ewigkeitsartikel unserer Verfassung – werden.

      Die Paideia als Formung zur prosozialen Empathie der Person mit der Fähigkeit zu Respekt, Rücksichtnahme, Vertrauen, Anerkennung des Anderen, Gabebereitschaft, Weltoffenheit und letztendlich zur Liebe (als Fähigkeit und als Bedürftigkeit) wird zur Schlüsselfrage der Kultur des sozialen Miteinanders.

      Jetzt wissen wir, warum Friedrich Nietzsche vom »Übermenschen« sprach.137 In der Epoche der »transzendentalen Obdachlosigkeit« muss der Mensch gottähnlich zur Liebe fähig sein, damit nicht der homo abyssus138 das Weltgeschehen dominiert.139 Nicht mit präfaschistischem Denken hat dieses Denken der Grenzüberschreitungen des Menschen bei Nietzsche zu tun, sondern mit der Frage nach der Möglichkeit der Liebe gelingenden Miteinanders im säkularen Weltinnenraum der Moderne. Deshalb wird man die Gesellschaftskritik in der Tradition von Karl Marx durch die diagnostische Brille des abgründigen Verdachts von Sigmund Freud zur Grundlage Kritischer Sozialforschung nehmen müssen. Auch dieser Gedanke wird in der vorliegenden Abhandlung zu entfalten sein.

      Viele Konzeptbegriffe und Diskurse können nunmehr systematisch vor dem Hintergrund diverser Megatrends des sozialen Wandels eingeordnet werden: Welfare-Mix und Wohlfahrtspluralismus, Quasi-Märkte und Dritter Sektor, Föderalismus und Subsidiarität, Professionalisierung und Wohlfahrtsgesellschaft sowie Engagement(förder)politik etc.

      Dazu benötigt es aber nicht eine erneute Monographie. Das ist alles sattsam bekannt. Worin könnte ein Mehrwert der vorliegenden Abhandlung liegen? Die wissenschaftliche Sortierung der Problem-, Themen-, Politik-, Forschungs- und Diskurslandschaft bedarf einer Synthese im Lichte radikaler Gesellschaftsanalyse Kritischer Theorie und einer fundamentalen Rechtfertigung aus philosophischer Sicht. Damit wird die Pflegepolitik aus ihrem engen Gehäuse einer Branchenangebotspolitik und einer berufspolitischen neo-berufsständischen Debatte mit eigener Verkammerung befreit. Pflegepolitik muss aus ihrer Deformation als ins Private verlängertes Anhängsel des medizinisch-technischen Komplexes befreit werden, befreit werden vom Regime der kulturellen Codes des Familialismus und des Gender-Biologismus der Sorgearbeit, muss eingestellt werden in die kontroversen Debatten der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik, muss politisiert werden durch Rückkoppelungen zu den Grundsatzfragen der Wirtschafts- und Sozialordnung und der Kultur als Grammatik des sozialen Zusammenlebens. Kritische Theorie (der Frankfurter Schule140 und ihrer »dialektischen Phantasie«141), deren Kenntnis heute an Universitäten in der Folge fehlender Bildung auf der Lehrangebotseite in der Regel142 nicht mehr zum Programm gehört, hat Kapitalismuskritik an psychoanalytische Analyse und Kritik unserer Vergesellschaftungsmechanismen geknüpft.143 Dieser Forschungslogik folgen wir hier. Kritik der Politischen Ökonomie ohne psychodynamische Kulturanalyse ist nicht möglich, weil sonst die Totalität144 der Zusammenhänge nicht angemessen verstehend durchdrungen werden kann. Und es wird sodann deutlich, dass die normativen Grundlagen der kritischen Vermessung des sozialen Elends des menschlichen Dramas transparent gemacht werden müssen. Die »Vermessung« bezieht sich analytisch auf Spannungsfelder binär codierter Art wie Exklusion und Inklusion, Geschlossenheit und Offenheit, Abhängigkeit und Eigenständigkeit, kompensatorische Intervention und Prävention, Objekt und Subjekt etc.

      Ohne Metaphysik wird dieses Anliegen nicht erfolgreich aufgegriffen werden können. Das soll hier nur angedeutet werden. Die entsprechende Ausrollung gehört zu den roten Fäden der vorliegenden Abhandlung. Nochmals direkt die Leserschaft ansprechend: Die anwachsende interdisziplinäre Komplexität des Blicks und der Zugangswege sind einerseits sicherlich Zumutungen bzw. Herausforderungen in der Lektüre, andererseits, so meinen wir, bereichernde Angebote, Chancen auf Tiefe und Lichtungen, produktive Provokationen, Motivationen zum Querdenken, Aufforderungen zu Mut, zur Arbeit am eigenen Selbst, zu Grenzüberschreitungen, sind mögliche Türöffnungen, Anrufungen zur Radikalität, Authentizität, Humanität. Ob das alles so stimmt, gar zutreffend eintreten sollte, muss die Leserschaft entscheiden.

      Der Stand der ontologischen und anthropologischen Einsichten wird es möglich machen, das moderne Völkerrecht zum Ausgangspunkt zu machen, um konkrete Rechtsfragen der Kommunalisierung der sozialraumorientierten Sozialpolitik zu diskutieren. Denn Kommunalisierung der Pflegepolitik meint, auf den Sozialraum der Netzwerke in der Pflege und überhaupt in der Sorgearbeit in ihrem praktischen Vollzug analytisch zu fokussieren. Das ist weitaus mehr als eine Ansprache an eine notwendige SGB XI-Reform im engeren Sinne. Die vorliegende Abhandlung – trotz des wissenschaftlichen Belegapparates eher ein politischer Essay – diskutiert die Gestaltung der Gesellschaft als ein soziales Miteinander, die von der Kultur der Miteinanderverantwortung genossenschaftsartig geprägt sein muss. Wissenschaft muss sich als Teil der sozialen Wirklichkeit an eben dieser sozialen Wirklichkeit beteiligen. Anthropologisch145 (im Personalismus) fundiert, geht es um eine Ethik des freiheitlichen Genossenschaftssozialismus im lokalen Alltag der Nachbarschaft146, eingebettet in eine regionale soziale Infrastruktur, für die ohne Zweifel der soziale Rechtsstaat der Daseinsvorsorgegewährleistung verantwortlich ist. Man wird diese lebensweltliche Poesie der Sorgegemeinschaften vor dem imperialen Neo-Liberalismus und einer hegemonialen Religion schützen müssen im »Weltinnenraum des Kapitalismus«147, der sein Spinnennetz ausdehnt. Auch das ist eine Pandemie. Und diese Manipulationsmaschine missbraucht die Sprache: »notleidende Banken«, »Abwrackprämine«, »Eurorettungsschirm«.148 Und es gehört zum Syndrom der wahnartigen Angst der analytischen Wissenschaften, die Traumreise einer Kritik der Maschine nicht zu wagen, eine Traumreise, die nur noch in den Reservaten »der Poesie oder der Kunst ihr Dasein fristet.«149

      Man ahnt schon: Geht es um ein kleines, überschaubares und dennoch bereits komplexes Themenfeld: Altenpflege? Oder geht es auch um den Einbezug gewisser zeitgeschichtlicher Kontexte? Oder um noch mehr, die Komplexität im Labyrinth des Wissens desorientierend steigernd? Ja, und das mit hinreichendem Grund. Ohne Wissen um die und ohne ein Verstehen der kulturgeschichtlichen Hintergründe sehr langer Dauer150, die zugleich eine Mentalitätsgeschichte der Menschen darstellen, Europa einstellend in die Universalgeschichte des eurasischen Kulturraums, sind die aktuellen Probleme der Pflege nicht tiefgreifend zu verstehen. Man mag ohne diesen rekonstruierten Sinnhorizont etwa hydraulische Finanzierungsreformen, neue pseudo-innovative Geschäftsmodelle oder neuartige Instrumente des technokratischen Qualitätsmanagements diskutieren können. Aber die Tiefengrammatik des Spielfeldes der Pflege bleibt verborgen.

      Damit ist trotz manch offenen Worten und radikalen Zuspitzungen der Kritik der Essay nicht ganz so mutig wie die »Anstiftung« zum Unfrieden«, wie Alexander Mitscherlich sein selbst so genanntes Pamphlet »Die Unwirklichkeit unserer Städte«151 untertitelt hatte.152 Es war auch eine andere Zeit. Und es ist hier eben auch nicht nur die Rede von unseren Städten im engeren Sinne, sondern von unseren urbanen wie ruralen Landschaften der »Versorgung« des Alters im Kontext von Unterstützungs- und Befähigungs-, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Und dieser Raumbezug wird diskutiert unter dem komplexen Aspekt, ob diese Landschaften die Gestaltqualität eines gelingenden sozialen Miteinanders aufweisen.

      Gelingt das Dasein? Kommt die Existenz zur Gestaltqualität als Ort des personalen Selbst-Seins der Menschen im gelingenden Miteinander? Das sind grundlegende metaphysische Fragen, die die bisherige Geschichte des Menschen als Homo patiens beschäftigt haben und die Frage nach der Zukunft aufwerfen. Holen wir etwas aus.

      Am Anfang stand die Sorge als Archetypus des Wirtschaftens, ohne das der Mensch als Mensch nicht existieren kann. Dieser Komplex gehört zur conditio humana. Der dialogische Mensch muss sich im Miteinander darüber verständigen, wie er aus seinem privaten Leben heraus die öffentlichen Dinge des Lebens regeln will. Am Anfang war ihm die Welt als eine einzige Allmende153 gegeben. Von Anbeginn – und eben bis heute – stellt sich die Frage, wie neben der privateigentumsrechtlichen Aufteilung der Welt (mit der Neigung des Homo abyssus zu Macht, Dominanz, Gewalt, Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung) der notwendige gemeinwirtschaftliche Raum (des zur solidarischen Gabe fähigen Homo donans154) entfaltet werden kann, der existenziell notwendig ist für das (nicht modisch gemeinte155) nachhaltige156 und gedeihliche Miteinander in der Dichte des Zusammenlebens