Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik


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der Lebenszyklus? Kommt der Mensch im Vollzug seines endlichen Lebens zur Gestaltwahrheit, wird sein Leben also geprägt von der Erfahrung der Liebe als Geben wie als Nehmen, somit von der Wahrheit des Person-Seins17 seiner Existenzführung? Oder musste er scheitern am Wagnis des Lebens, weil es an sozialer Gerechtigkeit18 (nicht tröstende Gnade als Apologetik der Verhältnisse) fehlte.19 Hatte sich sein Leben entfremdet vom Traum eines erfüllten Lebenssinns im liebenden Miteinander, jenseits der Einsamkeit, der Verzweiflung, der existenziellen Angst.20

      Die Abhandlung verabschiedet sich vom Empirismus der Alternsforschung21 ebenso wie von trivialisierten Mythen der Wertfreiheit der Sozialwissenschaften, distanziert von dem Spiel, die Lügen22 unseres gesellschaftlichen Lebens als Wahrheit zu verkaufen, drückt die Erwartung an die Wissenschaft aus, gesellschaftlich relevant zu sein, uns somit (in surrealistischer23 Manier) einen Spiegel vorzuhalten, unsere Abgründigkeiten und Verfehlungen letztendlich auch psychoanalytisch aufzudecken, demnach im Spiegel den grausamen Minotaurus24 zu erkennen.

      Einleitung

      Auf das Thema der kommunalen Welt des Lebens und den Sorgebedarf im Alter(n) ist also letztendlich alles in dichter Form fokussiert. Diese Fokussierung auf die Kommune ist Ausdruck einer Erkenntnis über die Renaissance der Region und der örtlichen Lebenswelt als Kehrseite der dynamisch-turbulenten Globalisierung. Mag hier der Begriff der Lebenswelt seine Differenz zu seiner Nutzung in der Phänomenologie (von Edmund Husserl bis zur verstehenden Soziologie von Alfred Schütz) deutlich werden lassen: Im Präventionsgesetz, wie es in das SGB V Eingang gefunden hat, meint Lebenswelt genau diesen Sozialraumbezug. Eigentlich kann die Idee der Kommunalisierung in der Sozialpolitik im Lichte des »spatial turn« in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht überraschend sein, wenn man anthropologisch, tiefenpsychologische Evidenz involvierend, gut informiert ist. Der Mensch ist bedürftig. Dazu gehören die soziale Aufmerksamkeit und die Wertschätzung sowie die Anerkennung, letztendlich das Bedürfnis, geliebt zu werden. Diese Bedürftigkeit – dieser Hunger – knüpft sich an das Phänomen der Begegnung25 und an die Praxis der sozialen Integration, an Rollen als Spiele der Generativität als schöpferisches Selbst-Werden im Modus des sozialen Mitseins.26 Wir belassen es hier zunächst bei dieser Dichte der Erläuterung. Die Explanation dieser Gedanken wird einer der »roten Fäden« der vorliegenden Abhandlung sein, dessen Ersichtlichkeit bei der Lektüre intersubjektiv wahrscheinlich sehr unterschiedlich eingeschätzt sein wird. Die im Fokus hierbei angesprochene Örtlichkeit der Daseinsführung verweist uns nun also auf die Kommune als Sozialraum dieses sozialen Geschehens der menschlichen Person. Diese Re-Vitalisierung der Kommunalität des Daseins und die daran geknüpfte Idee der Gewährleistungskommune (im föderalen Kontext von Bund und Länder »unten«, Europa und Völkerrecht »oben«) ist allerdings eine Kulturfrage als Frage eines Wandels der Kultur, und damit ist weder Volkskultur (Oktoberfest) noch Hochkultur (Elbphilharmonie) gemeint. Das Problem ist eine Frage der Grammatik und der Psychodynamik der Sozialraumbildung27, eine Einsicht als Erfahrungsverdichtung angewandter, z. T. partizipativer28 Wissenschaft29 in zahlreichen Implementations- und Evaluationsprojekten.30 Viele Projekte mit Frank Weidner und dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. (DIP) im Kontext von Wohnen, Pflege, Beratung, Technik31, aber auch mit Holger Pfaff und seinem Team im Bereich des Wandels der sog. »Behindertenhilfe«32, die jahrelange Begleitung (zusammen mit Clarissa Kurscheid) der innovativen Politik neuer Versorgungsformen der Stadt Zürich im Schnittbereich von Medizin und Pflege33, die weiteren, noch näher anzusprechenden Projekte für das Sozialministerium des Landes Rheinland-Pfalz (in die Ursula Köstler und Kristina Mann involviert waren und/oder mit Hermann Brandenburg von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar [PTHV] durchgeführt worden sind) u. a. m. (wie z. B. Erfahrungen, die Frank Schulz-Nieswandt als Vorsitzender des Kuratorium Deutsche Altershilfe [KDA] sammeln durfte) waren die Veranlassung für das vorliegende komplexe Fazit, das zugleich einen Ausblick auf konkrete Utopien der Hoffnung fundiert.

      Auf dieses Thema der kommunalen Welt des Lebens mit Sorgebedarf im Alter ist also wirklich letztendlich alles in dichter Form fokussiert. Aber der Sinn dieses Themas der Kommunalisierung der Pflegepolitik steht am Ende einer breiten und um Tiefe bemühten Herleitung. Sinn meint, die Substanz sozialer Formen zu erschließen. Es geht um die fundamentalen Bedeutungen. Nachbarschaft34, Wohnen, Freundschaft35, Familie, Gemeinde – dabei den Alltag kategorisch übergreifend verstehend – mögen triviale Selbstverständlichkeitsbegriffe sein. Sie sind es jedoch nicht. Nach dem Werk »Dialektik des Konkreten« von Karl Kosik, wenngleich ihm die Studien von Agnes Heller36 und von Henri Lefebvre37 (dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Georg Lukács noch 1963 schrieb, es bestünde ein »Mangel an Vorarbeiten«38) zur Seite gestellt werden müssen, ist bislang kein grundlegenderer Beitrag zum Verständnis der »Metaphysik des alltäglichen Lebens« vorgelegt worden: »Nicht der Mensch hat Sorge, die Sorge hat den Menschen.« 39 Für Heidegger40, das hat nochmals Bakewell deutlich herausgearbeitet41, ist der Alltag der Bezugsraum der ontologischen Überlegungen seiner Metaphysik, die das Mitsein42 des Menschen in den Mittelpunkt des Zeitgeschehens des endlichen Lebens stellt. Der Alltag ist der Ort, wo sich die Frage nach »Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit« des Daseinsvollzuges stellt. Für Karlfried Graf Dürckheim ist der Alltag die Welt, in der der Mensch durch die Erfahrung der Seinseinbettung zur Person wird, werden kann, wenn genau dies geschehen mag: »Wo das Sein uns ergreift, verwandelt die Grundstimmung sich.« 43

      Ist Mitsein der Modus des In-der-Welt-Seins des Menschen, dann ist der Mensch als Homo mundanus44 kein »Weltfremdling«, sondern immer schon (als ein Apriori philosophischer Anthropologie anerkannt) als ein »Mitten-drin« verstehbar. Und der Mensch ist nicht als absolutes Subjekt gegenüber der herrschaftlich frei verfügbaren objektiven Welt in einer Position des »Gegenübers« stehend. Er entwirft sich, macht seine Geschichte, damit sich tätigend als ein »Selbst« bildend, aber immer im Lichte seines Geworfenseins, wie es Martin Heidegger ausdrückte und was Karl Marx meinte, als er schrieb: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber unter den jeweils gegebenen Bedingungen. Der Mensch schuf und schafft sich also selbst.45 Die Formel vom »Geworfenen Entwurf« expliziert die Dialektik von Freiheit und Grenzen, Geschichte und Verantwortung, die den Menschen charakterisiert.46

      Der Alltag führt uns an die Reflexion der conditio humana heran.47 Somit an das Wesen des Menschen in seinem Person-sein-Können. Mit der Konjunktivform des »Sein-können« sind wir schon mitten drin in den Tiefen der Umwege. Wichtig ist: Es geht um die Möglichkeitsform. Auch der Begriff der Möglichkeit scheint alltäglicher Gebrauchsnatur zu sein. Ja, auch. Aber Möglichkeit ist zugleich eine Kategorie der Ontologie dynamischer Prozesse, vor allem in kritischer Absicht, wenn es um das Noch-nicht-geworden-Sein des Möglichen geht. Dies deshalb, weil damit der Schmerz und das Leiden beginnt, die die uralte Theodizeeproblematik48, die das Schweigen über das Leid49 zum Brechen bringt, nun mit Bezug auf das Böse in der Welt50 zur Frage der Selbstverantwortung der Gesellschaft in ihrer Geschichte macht. Gott verschwindet damit und wird zur Chiffre einer Ethik der Miteinanderverantwortung.

      Die Differenz des Noch-Nicht zur Welt der Faktizität der sozialen Tatsachen ist die Entfremdung. Faktizität wird erst relevant, wenn sie mit der Fiktionalität konfrontiert, ja, durch die Fiktionalität der konkreten Utopie gefiltert wird. Doch diese Fiktionalität als Idee ist selbst faktisch, Teil der Faktizität, ihre eigene Entelechie, die aber des Gärtnerns bedarf, weil die Teleologie der Geschichte nicht vermischt werden darf mit einem Historischen Materialismus, der in der imperialen Sowjetideologie von der Dialektik getrennt wurde, sich selbst Lügen strafend, da die Gewalt zur Geburtszange des neuen Lebens erklärt wurde.

      Es geht also um nicht-selbstverständliche Selbstverständlichkeiten im Leben der Menschen. Und damit geht es um radikales Denken, wenn es als kritisch bezeichnet werden soll. Wir sind schon längst mitten in der Metaphysik der Tiefengrammatik unseres Themas: Es geht um ein Gegebensein von Gegebenheiten, die nicht so entfaltet sind, dass der singuläre Mensch bzw. die Menschen (explizit als Plural gemeint) im Miteinander zur Wahrheit der Existenz im Modus der solidarischen Liebe51 kommt bzw. kommen.