Rede sein. Unser Blick aus dem Auto fällt zwangsläufig auf den Pick-up vor uns. Auf zwei Bänken sitzen sich zwei Polizisten in kastenförmiger Uniform gegenüber. Sie halten ihre Kalaschnikows fest in beiden Händen, eine Hand an der Schulterstütze, eine am Handschutz, sodass sie im Notfall sofort bereit wären, um kompromisslos einzuschreiten. Ihre nervösen Blicke durchsieben das Gelände nach potenzieller Gefahr durch in den Felsen lauernde Taliban. Ihre Augen inspizieren jeden Zentimeter des Terrains, erst links des unebenen Schotterwegs, dann rechts. Ab und zu geht der prüfende Blick zu den Kollegen im Pick-up hinter uns, und eine kurze Handbewegung gibt die Meldung durch, dass alles im grünen Bereich ist.
Dann, mit einem Mal, reißt einer seine Taschenlampe vom Gürtel und zeigt ruckartig in eine dunkle Ecke abseits des Weges. Völlig apathisch leuchtet er das Gestein ab. Seine Augen weiten sich mit jeder Millisekunde. Seine Hand wird immer zittriger. Was eigentlich in Sekundenschnelle passiert, erleben wir wie in Zeitlupe. Im größten Schockmoment bleiben mit dem Herz auch die Gedanken stehen. Es wirkt, als sei plötzlich die Filmrolle gerissen, und alles, was man hört, ist das Klackern des Filmprojektors, in dem sich die Spule immer und immer weiter dreht. Klack, klack. Klack. Klack.
Pakistan?Das ist doch verrückt
Anne & Clemens | Wir leben im goldenen Zeitalter des Reisens. Jedes Jahr reisen mehr als eine Milliarde Menschen ins Ausland, mehr denn je in der Geschichte der Menschheit. Noch nie gab es so viel Information, um uns davon zu überzeugen, dass wir reisen sollten, um uns zu sagen, wohin wir reisen sollten, um uns anzuweisen, was wir tun sollten, wenn wir dort ankommen. Einfacher als heute war das Reisen noch nie.
Warum aber verlassen wir überhaupt unser trautes Heim? Vereinfacht gesagt, geht es beim Reisen um Tapetenwechsel. Es geht um Ruhe und Entspannung, um Flucht vor dem Alltag und Abenteuer, um Aufregung und Genuss. All das gibt es heute per Klick in Sekundenschnelle auf dem Silbertablett serviert. Das leckerste Streetfood in Thailand? Ist schnell ergoogelt. Die beste Rooftop-Bar in New York? Steht im Reiseblog des Vertrauens. Bleibt die Frage: Wann ist Reisen eigentlich so langweilig geworden?
Der Drang, Neues zu entdecken, ist tief in uns verwurzelt. Schließlich stammt unsere Spezies aus Afrika und ist von dort aus bis zu den entferntesten Stellen des Planeten gelaufen. Ziemlich beeindruckend, oder? Mit anderen Worten: Wir sind Nomaden. Der Wunsch zu reisen ist ein Teil unserer evolutionären Verfassung. Er liegt uns im Blut. Ob Mikroabenteuer in den bayerischen Alpen, Camping-Urlaub in Italien oder ein mehrmonatiger Roadtrip durch Neuseeland – all das sind nichts anderes als moderne Versionen unseres ewigen Entdeckungsdrangs.
In einer Welt, die bis in die entlegensten und unzugänglichsten Winkel vermessen ist, in der man auf den kleinsten Südseeinseln Handyempfang hat und Teile der Antarktis mit Google Street View erfasst wurden, sind wir dennoch längst keine Entdecker mehr. Haben wir unserem Entdeckergen die Lebensgrundlage entzogen?
Immer wieder verlassen wir unser Zuhause, weil dem Reisen ein befreiendes Gefühl innewohnt. Es geht mit einer gesunden Portion Ungewissheit einher – besonders dann, wenn es herausfordernd ist und uns dazu zwingt, unsere ganz persönlichen Grenzen auszuloten.
Wir reisen auch, um uns ein Stück weit zu verlieren und uns selbst neu zu finden. Das weiß jeder, dem bei der Heimreise schon einmal merkwürdig wehmütig ums Herz wurde, jeder, der am Flugzeugfenster eine kleine Träne verdrückte.
Wir reisen, um mehr über diese Welt zu erfahren. Wir reisen, um einen Einblick davon zu bekommen, wie andere Menschen leben. Um zu sehen, wie sie wohnen, was sie zum Frühstück essen und wie sie Geburtstage feiern. Wir reisen, um zu verstehen, wie andere die Welt sehen und wie ihr Glaube, ihre Kultur, ihre Bräuche und ihre Geschichte ihre Weltanschauung prägen.
Nein, beim Reisen geht es nicht einfach nur darum, neue Orte zu sehen, die wir vorher noch nicht gesehen haben. Es geht darum, die Welt mit neuen Augen zu entdecken, wie ein Neugeborenes, das sie zum ersten Mal öffnet. Genau hier, an den entlegensten Orten der Welt, fühlt sich jeder Moment wieder so an wie am allerersten Tag. Rewind! Alles auf null.
Pakistan ist ein Land, über das jeder eine Meinung hat, und das, obwohl es die meisten doch nur aus Zeitungen und Breaking News kennen. Wie viele Menschen fällen ein Urteil, ohne zu sehen und zu verstehen? Wie viele reisen, ohne wirklich hinzuschauen?
Wir wollen dir daher die gleichen Fragen stellen, die wir uns bei dem Entschluss, diese Reise zu machen, gestellt haben.
Hand aufs Herz: Woran denkst du, wenn du an Pakistan denkst? Vielleicht dass es irgendwo bei Indien liegt? Oder dass es ein islamisches Land ist und dass die Menschen an Allah glauben?
Welche Bilder hast du im Kopf? Vielleicht denkst du auch an Großstadtmoloche, an dichten Smog und daran, dass zu viele Menschen auf zu kleinem Raum leben.
Oder du assoziierst Pakistan mit kriegerischen Auseinandersetzungen und Terrorakten – mit Koranschulen, Taliban, Al-Qaida, 9/11 und Osama bin Laden.
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir mit mindestens einer Vermutung richtig liegen. Haben wir recht?
Eines wollen wir klarstellen: Wir sind nicht hier, um dich eines Besseren zu belehren. Denn wir wussten es vor unserer Abreise nach Pakistan vermutlich auch nicht besser. Für uns war diese Reise keine Mutprobe. Wir wollten uns keiner Gefahr aussetzen. Und doch wussten wir, dass uns ein Land erwartet, das uns vor mehr Hürden stellen könnte als zuvor Indien, Senegal, Ghana, der Iran oder der Libanon. Pakistan könnte ein ganz anderes Kaliber werden, eine echte Herausforderung. Aber wer weiß das schon, ohne loszuziehen, um es in Erfahrung zu bringen.
Unser Plan? Wir hatten keinen Plan. Nur ein Flugticket nach Islamabad und zurück von Karatschi. Außerdem eine Unterkunft für die erste Nacht und eine Eintragung in der Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amts, die mehr unsere Eltern beruhigen soll als uns. Wir hatten keinen Zeitplan, keine Termine. Die Route? Es geht vom Norden in den Süden. Die Zwischenstopps lassen wir auf uns zukommen.
Ob es einfach wird, auf eigene Faust durch Pakistan zu reisen? Ob uns Hürden in den Weg gelegt werden? Wo wir schlafen werden? Und ob es auch mal so richtig gefährlich werden kann? Wir wissen es nicht. Wir wollen es selbst herausfinden. Auf ins Abenteuer! Kommst du mit?
Destination: Unbekannt
ISLAMABAD
Clemens | Als wir in den Sinkflug gehen, zeigt meine Armbanduhr genau 04:03 Uhr. Viel zu früh am Morgen, um sich darüber bewusst zu sein, dass es gleich losgeht, das Abenteuer Pakistan.
Der Pilot von TK710 kennt kein Erbarmen. Seine Durchsage scheppert so gnadenlos aus den Lautsprechern über den Sitzen, dass es mich aus dem Tiefschlaf reißt. Das Cockpit will uns unmissverständlich wissen lassen: »Wir! Landen! Gleich!« Damit haben wir also Gewissheit. Jetzt gibt es kein Zurück. Da hilft auch mein ausgiebiges Augenreiben nicht.
In dem Moment, in dem wir die Reiseflughöhe verlassen, stellt sich ein ganz eigenartiges Gefühl ein. Der Druck in meinem Ohr wird immer größer und lässt meine Augen so weit aufreißen, dass ich nicht merke, wie ich aufhöre zu blinzeln. Meine Gedanken kommen mir wirr und unentschlossen vor, sie pendeln zwischen kindlicher Neugier und erwachsener Achtsamkeit wild hin und her wie ein kaputtes Metronom. Wo ich gerade noch selig schlummerte, bohren jetzt tausend Fragen Löcher in mein Nervenkostüm.
Kann man durch ein Land reisen, dem ein schlechter Ruf vorausgeht? Einer, der von Taliban, Terroranschlägen und Osama bin Laden erzählt? Pakistan ist ein weißer Fleck auf der Reiselandkarte, ausgefüllt nur durch das, was wir aus den Medien kennen.
Der Inflight-Screen teilt mir mit, dass ich mich physisch genau 10.324 Meter