Rückspiegel zu uns auf die Rückbank. Schauen wir zurück, huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
»Wusstet ihr, dass früher Karatschi unsere Hauptstadt war, ganz im Süden am Arabischen Meer?«
Nein, das wussten wir nicht.
»Von der Unabhängigkeit Pakistans 1947 bis zum Jahr 1958. Dann sollte aber eine Stadt in einer besseren Lage gefunden werden, mit besserem Klima und so.« Er hält kurz inne und dreht sich zu uns um. »Na ja, die gab es aber nicht!« Er bricht in ein gelöstes Lachen aus, als hätte er gerade den Witz des Tages gemacht. Und obwohl wir überhaupt nichts Lustiges erkennen können, wirkt sein Lachen ansteckend. Also lachen wir mit.
Die Geschichtsstunde geht weiter. Wir erfahren, dass es eine Planstadt sein sollte. Sie sollte nordwestlich von Rawalpindi aus dem Boden gestampft werden, am Fuße der ersten Ausläufer des Himalayas, wo die Temperaturen wesentlich besser sind als im heißen Karatschi.
Als hätte er parallel zu seinen Erläuterungen eine Schautafel hingestellt, zieht Islamabad an der Fensterscheibe vorbei und unterstreicht seine Ausführungen. Es gibt breite Alleen. Die Straßen sind sauber. Parks und Gartenanlagen wirken wie abgezählt. Und die Straßen sind ähnlich kerzengerade wie in Mannheim oder Manhattan.
»Habt ihr denn die Sektoren schon verstanden?«
Islamabad wurde am Reißbrett entworfen und dabei kurzerhand in Sektoren unterteilt. Anstatt wohlklingender Namen für die einzelnen Stadtviertel, trifft man auf kryptische Bezeichnungen, gepaart mit einer farblichen Kennzeichnung: I-9, G-6/4, F-5/1 usw. Die Sektoren tragen eine Art Suchindex als Namen. Der Buchstabe steigt von Nord nach Süd an. Wird die Stadt erweitert, und das wird sie ständig, dann geht es einfach weiter im Alphabet. Wie es wohl wäre, wenn ich Islamabad in 50 Jahren besuchen würde? Würde ich dann vielleicht in Sektor X übernachten und in Y frühstücken gehen?
Das relativ junge Land Pakistan ist in seiner Entwicklung aber noch lange nicht am Ende, schon gar nicht was seine Bevölkerungsdichte angeht. Dabei liegen Pakistan und Deutschland einer aktuellen Statistik zufolge dahingehend gar nicht so weit auseinander. In Deutschland leben laut der jüngsten Bevökerungsprognose der Vereinten Nationen auf einem Quadratkilometer im Schnitt 232 Menschen. In Pakistan sind es 272. Soviel zum Status quo. In Zukunft jedoch wird eine riesige Kluft zwischen diesen Zahlen liegen, die immer größer werden wird. Denn während sich die Bevölkerung in Pakistan bis zum Jahr 2100 mehr als verdoppeln wird, soll die in Deutschland um ein Fünftel schrumpfen.
Die Steigung auf den letzten Metern zu den Shakarparian Hills schafft der neue Honda mühelos. Schon auf der Zufahrt wirkt das Pakistan Monument heroisch, vor allem, da sich dahinter das Panorama von Islamabad entfaltet, mit den Marghalla Hills als Kulisse, wie mit Wasserfarbe an den Himmel gemalt. Von oben lässt sich besonders gut erkennen, dass die Stadt am Reißbrett entstanden ist.
Wir schlagen Rashid vor, auf uns zu warten, dann würde die gemeinsame Erkundungstour durch die Hauptstadt nach unserer ersten Sehenswürdigkeit weitergehen. Wann bekommt man schon mal eine Geschichtslektion umsonst? Sein breites Grinsen heißt »Ja« auf Esperanto.
Das riesige, blütenblattförmige Monument von Islamabad wurde 2007 eröffnet. Es soll die Einheit der Pakistaner beschwören und ist, wie es die Macher selbst formulieren, all jenen gewidmet, die ihr ›Heute‹ für ein besseres ›Morgen‹ geopfert haben. Märtyrern also. Ob mit dem Morgen der Sektor Z gemeint ist?
Ich versuche, den monströsen Bau auf ein Foto zu bekommen, da spricht mich eine Gruppe junger Männer an, beziehungsweise derjenige von ihnen, der auserkoren wurde, den ersten Schritt zu machen. Doch er ist weniger an mir interessiert als an meiner Kamera, deutet auf meine schwere Spiegelreflex und möchte, dass ich ein Foto von ihm und seinen Freunden mache.
Schon stellen sich die Jungs in eine Pose, die ich nur von Actionfilmplakaten kenne. Die Körperhaltung ist lässig, der Blick cool. Klick, klick, klick. Ob ich ihm die Fotos zuschicken könne, fragt er, und ja klar, das kann ich machen. Aber erst, wenn ich sie auf meinen Laptop gezogen habe. Und der ist zu Hause in Deutschland. Ping! Ich habe einen WhatsApp-Buddy mehr: Samir und ich, wir wollen in Kontakt bleiben.
Wieder im Auto scheint es Rashid gar nicht abwarten zu können, das nächste Ziel unserer spontanen Tour zu erfahren.
»Faisal-Moschee«, sagt Anne mehr zum Rückspiegel als zum Fahrer.
»Das ist die schönste Moschee in ganz Pakistan«, lässt uns Rashid wissen. »Sie ist unser Wahrzeichen, schöner als alle anderen Moscheen im Land, ach was, in ganz Asien.«
Die nächsten 20 Minuten macht er zu einer kleinen Sightseeing-Tour. Aus Taxifahrer wird Geschichtslehrer wird Kurzzeitreiseleiter. Unsere Route geht vorbei an der Centaurus Mall, deren drei Türme wie riesige stählerne Pinnadeln aus dem flachen Stadtbild herausragen. Für den Einlass müssen Besucher laut Rashid einen Wertcoupon kaufen, den sie am gleichen Tag in den Shops des Einkaufszentrums einlösen können. In der öffentlichen Bekanntmachung wurden 23 Personengruppen aufgeführt, die die Eintrittsgutscheine nicht kaufen müssen. Darunter alle Frauen, Kinder unter zwölf Jahren, Senioren, Gesetzgeber und Führungskräfte, Diplomaten und Ausländer, Journalisten und Anwälte, Mitglieder von Country Clubs, eingetragenen Ingenieure, Ärzte und Lehrer. Ferner heißt es in der Bekanntmachung, dass »berühmte Spieler von Hockey, Cricket, Fußball und Golf« und »Prominente« den Eintrittsgutschein nicht kaufen müssen. Mit anderen Worten dürfte Anne gleich dreimal umsonst hinein: einmal als Frau, einmal als Ausländerin und einmal als Journalistin. An der großen Cricket-Karriere arbeiten wir noch.
Als wir uns der Faisal-Moschee nähern, erklärt uns Rashid, dass sie die größte Moschee in Südasien ist, zumindest was die Kapazität angeht: Das Gebäude samt Außenbereich soll 300.000 Gläubige fassen. Heute hoffen Anne und ich auf weniger Besucher, das könnte sonst ganz schön anstrengend werden.
Als wir sie zum ersten Mal sehen, erscheint uns die Moschee jedoch überhaupt nicht so majestätisch, wie sie in Rashids Erzählungen klang.
»Da vorne, das ist sie!« Er deutet auf ein weißes Etwas am Ende der Straße, das eher an ein Raumschiff der Star-Wars-Saga erinnert als an eine Moschee, wären da nicht die vier Minarette, die sich an allen Seiten in die Höhe strecken.
Noch würde ich das angebliche Fassungsvermögen nicht unbedingt bestätigen wollen; noch ist sie ganz klein und wirkt wie ein Farbtupfer vor der fein gepinselten Bergkulisse.
»Sie ist unser Nationalsymbol«, platzt es stolz aus Rashid heraus. »Benannt wurde sie nach König Faisal von Saudi-Arabien«, erklärt er weiter. Das Panorama der Stadt habe dem König vom freistehenden Platz aus besonders gut gefallen. Die Finanzierung habe die saudische Regierung und damit Faisal persönlich übernommen. Erst nach seiner Ermordung im Jahr 1975 sei die Moschee nach ihm benannt worden.
Auf dem Parkplatz vor der Moschee ändert sich der Anblick schlagartig. Aus spacigem Raumschiff wird perfekte pakistanische Postkartenidylle. Und noch dazu ein echtes architektonisches Highlight. Das liegt daran, dass sie zwar erst 1986 fertiggestellt wurde, aber schon Ende der 1970er entworfen worden war. Und genau dieser 70er-Jahre-Touch ist unverkennbar und wirkt wundervoll futuristisch. Die harten Kanten, die strikten Strukturen, jedes noch so kleine Detail führt zusammen und flüchtet nach oben, zu Allah. Auch seine letzte Lektion erteilt Rashid liebevoll.
Wir sagen auf Wiedersehen und bedanken uns für die unerwartete Stadtrundfahrt.
Auf dem Vorplatz der Moschee sind wir mit Flo verabredet, einem Schweizer, den wir aus einer Facebook-Gruppe kennen und den wir heute bei einem der wichtigsten Gotteshäuser Pakistans zum ersten Mal treffen wollen. Andere Reisende kennenzulernen, das geht im Internetzeitalter schon lange vor der Abreise ins Abenteuer und kommt gerade in Ländern abseits der gängigen Backpacker-Reiserouten mit einigen Vorteilen daher, vor allem emotionalen. Je ungewöhnlicher und unbereister das Land, umso größer ist die Freude über eine neue, westliche Reisebekanntschaft. Im unbekannten Terrain begrüßt man sich wie alte Freunde, dabei hat man sich gerade zum ersten Mal gesehen. Einen Menschen aus dem gleichen Kultur- und damit Dunstkreis zu treffen hat dann fast etwas Heimeliges an sich.
»Hi