die passenden Mützen, die sie leger schräg auf dem Kopf liegen haben. Sie mustern mich von oben bis unten und von vorn bis hinten, wo mein riesiger Backpack meinen Rücken leicht zurückzieht. Auch ich mustere die Menschenansammlung von links nach rechts, von rechts nach links. Und mir fällt auf: Niemand achtet auf die anderen Passagiere, auf die Pilger, die aus Dschidda zurückkommen und mit ihren weißen Umhängen durch das Airport-Gebäude zu schweben scheinen. Auch Clemens ist Luft für die Männer. Alle Blicke sind auf mich gerichtet, auf die europäische Touristin mit dem riesigen Rucksack auf dem Rücken.
Für mich gehören die ersten Minuten an einem neuen Ort zu den spannendsten. Es sind die Momente, in denen mir fremde Gerüche auffallen, in denen ich das erste Mal fremden Menschen einer noch fremderen Kultur in die Augen blicke. Ich spüre, dass ich mich erst wieder warmlaufen muss, um in den Rhythmus zu kommen, wie ein altes Auto, das lange nicht bewegt wurde. Langsam nehme ich dann alles um mich herum wahr, sauge Eindrücke auf und verarbeite sie ganz automatisch in den Tiefen meines Bauchs, wo seit Sekunden sowieso schon das Adrenalin vor sich hin köchelt. Und dann, wenn ich angekommen bin und diese paar Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, verarbeitet habe, dann kann es starten. Dann brettert der bis eben noch schlummernde Motor hinein in das neue Abenteuer. Das neue Land. Die neue Kultur.
Bisher besteht all die vor allem aus Hunderten Männeraugen. Ein komisches Gefühl. Vor allem wenn sie mich mit ihren Blicken gleichzeitig ausziehen. Ich spüre sie überall. Auf meiner Brust, an meinen Beinen und sogar an meiner Hüfte, und die ist nun wirklich nicht spektakulär. Und all das, obwohl ich mich schon vor unserem Weiterflug von Istanbul nach Islamabad in passende Kleidung geworfen habe. Mein Körper und alle weiblichen Rundungen sind bedeckt von einer lockeren schwarzen Stoffhose, einem langärmligen, dünnen hellroten Pullover, der weit über den Po reicht, und um meinen Hals hängt ein Tuch, das meinen Oberkörper verdeckt. Und doch fühle ich mich nackt.
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Pakistan-Lektion #1: Frauen sollten keinerlei Rundungen zeigen sowie Knie und Schultern verdecken. Auch bei Männern werden kurze Shirts und Hosen nicht gern gesehen.
Clemens | Während uns die Köpfe wie beim Tennis folgen, manövrieren wir uns aus dem Pulk heraus und begeben uns direkt in die Fänge der Marktschreier, die wir von vielen anderen Flughäfen der Welt kennen: der mehr oder weniger offiziellen Taxifahrer.
Gleich vier Männer mittleren Alters reden gleichzeitig auf uns ein, einer wilder und schneller als der andere. Ihre Aussprache des Englischen klingt wie jene, die man von indischen Charakteren in Filmen und TV-Serien kennt: Die Wortwahl ist sehr gut, aber der für westliche Ohren ungewohnten Melodie wohnt ein spezieller Charme inne.
Anne beäugt jedes Schild über unseren Köpfen ein zweites und drittes Mal, auf der Suche nach den magischen drei Buchstaben ›ATM‹. Doch davon keine Spur.
Bevor ich eine adäquate Lösung parat habe, fällt uns einer der Fahrer ins Wort: »Geld?«
Ich bin anscheinend nicht der Einzige, für den Annes Augen ein offenes Buch sind. Der ambitionierte Fahrer gibt vor, uns einen Geldautomaten zeigen zu können. Ja, er würde uns sogar hinführen. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Sollten wir um halb sechs am Morgen mit einem fremden Mann um die Ecke gehen und hoffen, dass da tatsächlich ein Geldautomat steht? Klingt ziemlich fahrlässig. Oder sollten wir lieber ablehnen und, bis es hell wird, einen Plan B, C oder D machen?
Annes Bauchgefühl entscheidet sich für die unvernünftige Variante. Als wäre damit auch die Taxifahrt ins 50 Kilometer entfernte Islamabad bereits in trockenen Tüchern, lassen seine Konkurrenten abrupt von uns ab. Der potenzielle Bankautomatenräuber führt uns aus der Ankunftszone heraus und über eine Treppe ins obere Stockwerk. Er geht voran, wir schwanken, mit unseren dicken Backpacks beladen, wie eine Ameisenkolonne hinterher. Unsere Mission endet fürs Erste vor einem Eingang und zwei mit Kalaschnikows bewaffneten Polizisten.
»ATM?«, rufe ich ihnen fragend zu und deute dabei auf eine Schiebetür.
Keine Reaktion.
Der Taxifahrer ergreift das Wort in einer mir völlig unbekannten Sprache, die wie Hindi klingt, gepaart mit einem Hauch Arabisch. In Pakistan sind mehr als 50 verschiedene Sprachen verbreitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine davon spreche, liegt bei genau null.
Seine Ansprache scheint jedoch gewirkt zu haben. Nach einem händischen Sicherheitsscreening und einem zusätzlichen Gang durch den Körperscanner, habe ich mein Ziel erreicht. Mein Gepäck, mein Handy und Anne muss ich draußen zurücklassen.
Anne | »Seid ihr verheiratet?«, fragt mich einer der Polizisten. Es ist der jüngere von beiden. Seine Statur ist schmal, aber muskulös, sein Camouflage-Anzug vorbildlich gebügelt.
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Pakistan-Lektion #2: Als Paar einfach als verheiratet ausgeben, das erspart eine Menge Stress.
»Ja, sind wir.« Die Antwort habe ich mir schon längst bereitgelegt. Ein Allheilmittel, um lästige Fragen zu umgehen und einfach nur innerhalb von Sekunden den eigenen Standpunkt klar zu vermitteln. Dass Clemens und ich nicht verheiratet sind, das muss jetzt niemand wissen. Pakistan gilt als eines der konservativsten Länder der Welt. Die Beziehung zwischen Mann und Frau passiert hier hinter verschlossenen Türen und Fenstern, so kennen wir es zumindest aus anderen muslimischen Ländern wie Indonesien, dem Libanon und dem Senegal. Aber ehrlich, wie genau es funktionieren wird, als Paar durch Pakistan zu reisen: keine Ahnung. Für jetzt sind wir verheiratet, und das sogar ohne Ring am Finger.
»Wie lange seid ihr in Pakistan?«, bohrt der Polizist weiter. Ein dicker Aufnäher prangt über seiner rechten Brust. Eine weiße Mondsichel und ein fünfzackiger Stern auf grünem Grund – die Flagge Pakistans. Dabei ist das Dunkelgrün als Farbe des Islams auch ein Symbol für die Muslime, die mit 96,4 Prozent die klare Mehrheit im Land sind. Daneben ist in lateinischer Schrift »Burki« auf sein Namensschild genäht. Ich finde, der Name passt, auch wenn es nur der Nachname ist. Er passt zu seinem jugendlichen Auftreten und zu seiner schmalen Figur.
»Wir bleiben einen Monat.« Dieses Mal lüge ich nicht.
Ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. »Wow«, ruft er und übersetzt meine Aussage seinem Kollegen, der sein Vorgesetzter sein könnte. Er ist älter, seine Schläfen bereits angegraut, und neben seinem Namensschild kleben etliche Auszeichnungen wie kleine Fähnchen in verschiedenen Musterungen.
Aus dem anfänglichen Verhör wird der erste richtige Smalltalk. Dabei habe ich ganz vergessen, auf Clemens zu achten, der immer noch hinter der dicken Scheibe am Geldautomaten steht.
»Kein Problem«, beruhigt mich Burki, der in meinen Kopf gehorcht haben muss. »Das ist Pakistan. Alles ist ein bisschen langsamer«, erklärt er.
Clemens | Ich bin kurz davor, aufzugeben. Erst beim achten Anlauf rattert es endlich im Inneren des Automaten. Kurz darauf schießt ein Geldbündel von 17.000 pakistanischen Rupien aus dem Schlitz. Das macht umgerechnet etwas mehr als 100 Euro in kleinen Scheinen – fast zu viel für meinen schmalen Geldbeutel. Er ist jetzt so prall gefüllt, als hätte er sich überfressen.
In Pakistan gibt es neben regulären Taxis sowohl den Fahrdienstvermittler Uber als auch die Nahost-Variante Careem. Vorbereitet, wie wir als ordentliche Deutsche sind, haben wir uns bereits informiert und den Fahrpreis vom Flughafen in die Stadt notiert. Nicht bedacht haben wir allerdings, dass so früh am Morgen noch kein offizieller Fahrer unterwegs ist.
»Fahrzeuge in Ihrer Umgebung: null«, zeigt die App an. Läuft bei uns. Umso weniger überrascht es, dass unsere männliche ATM-Eskorte das Vierfache des Standardpreises verlangt. Die Frage nach seiner Taxilizenz hat sich damit auch geklärt.
Wir schalten mit unseren deutschen Reiseweltmeisterqualitäten in den nächsten Gang: auf Verhandeln.
»Ich habe ein wirklich modernes Auto«, versucht der Fahrer es mit einem weiteren Lockmittel.
Wir handeln ihn noch um die Hälfte herunter und schlagen darauf ein. Die Bezeichnung »modern« ist, wie sich auf dem Parkplatz