Anne Steinbach

Backpacking in Pakistan


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Gefühl sollte ich mich besser gewöhnen.

      Schlagartig bin ich hellwach, im Gegensatz zum zartrosa schimmernden Himmel. Auch Anne, die bis eben noch meine Schulter weichgelegen hat, sitzt jetzt kerzengerade neben mir. Durch das beschlagene Flugzeugfenster sieht die Landschaft märchenhaft verschlafen aus, aber auch ungewöhnlich nichtssagend. Fast so, als hätte sie jemand amateurhaft mit einem viel zu breiten Pinsel und dunkel gepanschter Farbe in das Tal hineingemalt. Statt eines kunstvoll arrangierten Lichtermeers begrüßt uns ein eintöniges Nebelfeld mit nur spärlichen Lichtakzenten. Seit wann hat Grau eigentlich so viele Nuancen? Meine Augen wollen nicht von der aufwachenden Szenerie lassen. Meine Nase klebt an der kalten Plexiglasscheibe. Wie ein kleines Kind kauere ich mit meinen fast 1,90 Metern Körpergröße am tief verbauten Flugzeugfenster.

      »Bing!« Über den Köpfen der Passagiere leuchten Anschnallzeichen auf. Zwei Stewardessen beginnen von beiden Seiten der Kabine mit einem abschließenden prüfenden Gang. »Bitte anschnallen!« »Sind Sie angeschnallt?« Die Anweisungen kommen nicht nur in Dauerschleife daher, sondern Reihe für Reihe immer näher, während die Silhouette von Islamabad mehr Kontrast bekommt. Konturen werden stärker, Lichtpunkte heller. Allmählich zeichnen sich dahinter auch die sanften Margalla Hills ab, an die sich die Hauptstadt im seichten Morgenlicht schmiegt wie an ein kuscheliges Kissen. Guten Morgen, Islamabad!

      Touchdown um 04:40 Uhr, Pakistan Standard Time. Die Passagierbrücke ist stark heruntergekühlt. Darin würden auch die hartnäckigsten Viren und Bakterien freiwillig tot umfallen. Die große Ankunftshalle wirkt nigelnagelneu: hohe Decken, viel Glas und noch mehr Chrom. Eine imposante Wanduhr thront über dem Geschehen, und grelle LED-Monitore weisen den Weg zur Passkontrolle. Der Islamabad International Airport begrüßt uns wie jeder andere moderne Flughafen auch.

      Bei Immigration Officer Nr. 8 ist die Schlange am kürzesten. Wir reichen unsere zerfledderten Reisepässe über den Tresen. Er ist so sorgfältig poliert, dass ich darin mein Spiegelbild beobachten kann, während der Einreisebeamte durch unsere Länderstempel blättert, wie durch eine wertvolle Briefmarkensammlung. Sie scheint ihn allerdings wenig zu beeindrucken.

      »Wie lange bleibt ihr in Pakistan?«, nuschelt er, ohne aufzuschauen. Kein Funken einer Melodie liegt in seiner Stimme.

      »Vier Wochen«, antwortet Anne ähnlich monoton.

      Stille. Ich kann den Sekundenzeiger bis hierher hören. Für eine halbe Minute kreist der Einreisebeamte mit seinem Caran-D’ache-Kugelschreiber 849 in Saphirblau über einem leeren Blatt Papier, und dann schießt er eine zweite Frage hinterher, diesmal deutlich druckvoller und mit einer bedeutungsschwangeren Betonung: »Was wollt ihr in Pakistan?«

      Erst jetzt treffen sich unsere Augen. Die meinen, laut Reisepass grün-braunen und westeuropäischen, mit den seinen: tiefen, dunklen. Solchen, die über einen Menschen mehr erzählen können, als jedes Wort es vermag, und sie erzählen mir gerade vor allem, dass wir extrem aufpassen müssen, was wir sagen. Denn seine Frage nach der Intention unserer Reise garniert er mit einem Blick, der so misstrauisch ist, dass er uns schneidet wie ein leicht erwärmtes Buttermesser.

      »Reisen!« Ich versuche genauso sachlich zu bleiben wie er. Hoffentlich will er nicht wissen, was wir genau vorhaben. Dann müsste ich ihm erzählen, dass wir zuerst in den Norden in die Region Gilgit-Baltistan reisen wollen (ein Rückzugsgebiet der Taliban), dann nach Peschawar im Osten (an der Grenze zum nächsten Problemherd: Afghanistan), danach an die Grenze mit Indien (dem ewigen Erzfeind) und zuletzt einmal quer durchs Land bis nach Karatschi am Persischen Golf (eine der gefährlichsten Städte der Welt, wo gleich mehrere Nationen ihre Schlachtschiffe im Arabischen Meer Gassi führen). Ja, das könnte definitiv ein längeres Gespräch werden. Vorsichtshalber füge ich besänftigend hinzu: »Tourismus.«

      Wieder übertönen meine Gedanken darüber, ob wir uns gerade richtig in die Scheiße reiten oder nicht, eine sekundenlange Stille. Kurz scheint die Zeit in Islamabad stillzustehen. Unsere Augen heften aneinander wie ein Klettverschluss.

      Es gibt Reiseländer, die Backpacker förmlich anlocken: zum Beispiel Thailand, Indonesien und Vietnam. Alle drei sind Klassiker unter den Individualreisenden. Sie bieten günstige Unterkünfte, wilde Nachtmärkte, dampfendes Streetfood auf den Nachtmärkten und günstige Transportmittel, die von Stadt zu Stadt und von Land zu Land fahren. Alles zum Schnäppchenpreis, versteht sich.

      Auch Pakistan wurde im Jahr 2013 vom Lonely Planet als »next big thing« gehandelt, das nächste große Reiseland. Der Tourismus im Land blieb seither trotzdem auf Sparflamme. Im Jahr 2018 machte CNN Pakistan zum »am besten gehüteten Geheimnis« in Sachen Abenteuerreisen. Ein Geheimnis, das der Einreisebeamte nicht zu kennen scheint. Seine verhaltene Reaktion lässt zumindest vermuten, dass das Wort »Tourismus« bei ihm nichts auslöst.

      Der Mann mustert Anne, dann wieder mich. Und dann kann ich seine Mundwinkel dabei beobachten, wie sie bedächtig nach oben wandern. Scheint ein anstrengender Klettersteig zu sein. Erst ist nur eine klitzekleine Erhebung zu erkennen, dann bilden sich in seinen wohlgeformten Wangen tiefe Grübchen, bevor er über das ganze Gesicht strahlt und es aus ihm heraussprudelt: »Welcome to Pakistan!«

      Puh! Endlich eine Aussage, aus der man keine Zweifel herauslesen kann und keinen prüfenden Unterton. Endlich Worte, die uns nicht auf die Finger fühlen, sondern vor allem eines sind: ehrlich. Ein aufrichtiger Willkommensgruß. Der erste Schritt wäre getan.

      Am Gepäckband drehen unsere Backpacks schon die eine oder andere Ehrenrunde. Wir aber müssen uns erst mal durch andere Passagiere kämpfen, die am Nebenband auf ihr Gepäck warten. Sie alle sind in strahlend weiße Gewänder gehüllt, die wie eine Mischung aus Bademantel und Yukata anmuten, dem traditionellen Kimono eines Sumoringers. Manchmal sind es auch improvisierte Outfits aus Frottee-Handtüchern, die leger um die Hüften gebunden wurden. Der klinische Geruch des Flughafens mischt sich mit einem charakteristischen Moschusgeruch, der erst einmal für eine Weile in der Nase bleibt.

      Wie ein menschlicher Scanner schaue ich mich um und sinniere über die ungewöhnlich abgestimmten Outfits, da höre ich eine tiefe Stimme. Sie ist so laut, als stünde der Mann genau neben meinem Ohr. Dann schallt ein lang gezogener Ton durch die Gepäckhalle und kommt als Echo von den hohen Wänden zurück, was die Wirkung noch verstärkt: »Allaaaa…« Plötzlich kommt Bewegung in die Menschenmasse. Mit einem stumpfen »…hu akbar!« vollendet die Stimme ihre Botschaft – Gott ist der Größte, ruft sie. Wieder ertönt die Stimme, und jetzt merke ich auch, dass sie aus dem Lautsprecher kommt, der über uns an der Decke hängt.

      Der Ruf des Muezzins lässt alle Anwesenden auf den Boden knien, mal zwischen den Gepäckbändern, mal in einer Ecke. Sie rollen kleine Teppiche aus und beugen sich darauf in dieselbe Richtung. Dann drücken sie ihre Stirn fest auf den Boden. Zeit für das Morgengebet, für das es keinen speziellen Ort gibt, dafür aber eine Himmelsrichtung: Mekka. Wieder schallt der Singsang aus den Boxen: »Allahu akbar!«

      Die Anzeigetafel des Gepäckbands erklärt auch ihr weißes Gewand. Der Flug kommt aus Dschidda, einer saudischen Hafenstadt am Roten Meer, die als Tor zu Mekka gilt, der heiligsten Stadt des Islams und zugleich Geburtsort des Propheten Mohammed und des Glaubens selbst. Das weiße Outfit ist also nicht der neuste pakistanische Schrei in Sachen Mode, sondern die traditionelle Kleidung auf der Haddsch, der islamischen Pilgerfahrt. Und die Passagiere dieses Fliegers sind, na klar, auf dem Rückweg aus Mekka.

      Meine Gehirnzellen schlagen Purzelbäume. Die Betenden murmeln leise vor sich hin und legen einen beruhigenden Soundteppich über die Ankunftshalle. Mehrmals am Tag wenden sich also alle Muslime derselben Richtung zu. Nicht Hunderte oder Tausende, sondern allein in Pakistan rund 200 Millionen Menschen.

      Anne | Pakistan und uns trennt nur noch eine Schiebetür. Sie ist mit einer undurchsichtigen Folie beklebt. Darüber prangen vier dicke knallrote Buchstaben: E, X, I und T. Ich fühle mich wie eine Kandidatin bei der Mini Playback Show, die kurz davor ist, durch die Zauberkugel zu gehen und in einer anderen Welt zu landen. Ich bin nervös, merke ein Stechen im Magenbereich. Die Tür öffnet sich viel schneller als gedacht, und schon steht sie vor uns, die pakistanische Realität in Form einer Traube von Männern. Alle Augen landen auf mir. Schade, von Marijke