koloniale Aktion Deutschlands gegen den Willen Englands und Frankreichs durchzufechten, hätte Bismarck für wahnsinnig gehalten. Ohne sich, über die Stimmung des französischen Bürgertums Illusionen hinzugeben, tat Bismarck alles, um die deutschfranzösischen Beziehungen zu verbessern. Er unterstützte in keiner Weise die Pläne eines monarchischen Staatsstreichs in Frankreich. Denn er hielt die bürgerliche Republik in Paris immer noch für friedfertiger als eine klerikale Monarchie oder eine bonapartistische Diktatur. Bismarck förderte alle außenpolitischen Wünsche der französischen Regierung, soweit es nur irgend möglich war, und ganz besonders auf kolonialem Gebiet. Je mehr sich Frankreich in Marokko20 und in China engagierte, um so mehr wurde es von Elsaß-Lothringen und von der Revanche abgelenkt.
Neben Frankreich waren mögliche Gegner Deutschlands zu Lande Rußland und Österreich-Ungarn. Die Hauptaufgabe deutscher Politik bestand nach Bismarck darin, zu verhindern, daß Deutschland isoliert in einen Krieg mit mehreren Großmächten geriet. Das Deutsche Reich war militärisch einem einzelnen Gegner durchaus gewachsen. Aber ein Krieg mit zwei oder gar noch mehr Großmächten mußte eine verzweifelte Lage heraufbeschwören. Die natürliche außenpolitische Anlehnung war ursprünglich für Bismarck die Verständigung mit Rußland. Das war die Fortsetzung der Tradition Preußens vor 1871. Nur dank der russischen Freundschaft hatte Preußen die Kriege mit Österreich und Frankreich überhaupt führen können. Zwischen dem Deutschen Reich und Rußland gab es keine ernsten politischen Differenzen. Dazu kam die Gemeinsamkeit der monarchisch-konservativen Interessen und des Gegensatzes gegen die katholisch-polnische Tendenz. Im Bunde mit Rußland konnte Deutschland einer Revanchekombination Frankreich-Österreich ruhig entgegensehen. Wenn aber Österreich es vorzog, unter die Ereignisse von 1866 den Schlußstrich zu setzen und sich dem konservativen Block Deutschland-Rußland anzuschließen, dann war ein solches Drei-Kaiser-Bündnis die beste Friedensgarantie, die Bismarck sich wünschen konnte.
Indessen zwangen die Erfahrungen von 1875/79 Bismarck dazu, sein Vertrauen zur russischen Stütze stark zu mindern. Die russische Politik, geleitet vom Fürsten Gortschakow, erkannte die Zwangslage, in der das Deutsche Reich sich befand. Fürst Gortschakow verlangte von Bismarck die unbedingte Unterstützung der russischen Eroberungspolitik im Orient bis zum Risiko eines Krieges mit Österreich und England. Weigerte sich aber Deutschland, ein solches Abenteuer mitzumachen, so drohte Rußland ziemlich offen, im Bunde mit Frankreich, ja sogar vielleicht mit Österreich und England, über Deutschland herzufallen. Denn Rußland konnte damals seine traditionellen Orientpläne auf doppelte Art verwirklichen: Entweder durch direkten Krieg gegen seine orientalischen Rivalen, wobei Deutschland ihm den Rücken deckte, oder aber als Führer einer siegreichen europäischen Koalition gegen Deutschland. Im letzteren Fall konnte Rußland als Schiedsrichter Europas für sich die Grenzen auf dem Balkan nach Belieben ziehen. Die ersten Anfänge der Ententekombination liegen in diesen siebziger Jahren, als auf der einen Seite Gortschakow Verbindung mit Frankreich suchte und auf der anderen Seite Gladstone bereit war, die Orientfrage gemeinsam mit Rußland zu lösen.
Um die gefährliche Abhängigkeit von Rußland zu überwinden, machte Bismarck seit 1879 das Bündnis mit Österreich zur Grundlage seiner Politik. Aber Bismarck hütete sich, deshalb den Draht mit Rußland zu zerreißen. Nach kurzer Zeit der Verstimmung zwischen Berlin und Petersburg ergänzte er das Bündnis mit Österreich durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland. Es ist Bismarck gelungen, solange er im Amt war, den Vertrag mit Rußland aufrechtzuerhalten. Das System der zwei Verträge hatte einen einfachen Sinn: Deutschland duldete keinen Angriff Rußlands gegen Österreich, aber es blieb bei einem Angriff Österreichs auf Rußland neutral. Als Gegenleistung verpflichtete sich Rußland, seinerseits Deutschland nicht anzugreifen21.
Bismarck bewahrte sich trotz mancher Zwischenfälle und Störungen die Freundschaft Rußlands dadurch, daß er niemals ein ernsthaftes sachliches Interesse Rußlands schädigte. Die Ansprüche Rußlands auf Vorherrschaft über Bulgarien und über die Dardanellen fanden stets bei Bismarck Unterstützung. Daß die russischen Staatsmänner in der Zeit des Fürsten Alexander Battenberg ihre Autorität über Bulgarien selbst zerstörten und daß sie in der Dardanellenfrage keine Fortschritte machten, war ihre eigene Schuld. Sie konnten deswegen gegen Bismarck keine Vorwürfe richten. Niemals hat Bismarck das deutsch-österreichische Bündnis so ausgelegt, daß Österreich damit auf dem Balkan freie Hand bekam. Serbische und bulgarische Abenteuer konnte Österreich nur auf eigenes Risiko unternehmen, ohne jede Hoffnung, dabei deutsche militärische Hilfe zu erhalten22. Niemals hat Bismarck eine aktive deutsche Politik in der Türkei auch nur in Erwägung gezogen.
Dem Wunsche Italiens, sich an Deutschland und Österreich anzulehnen, kam Bismarck entgegen. Italien suchte Rückendeckung für seine Mittelmeerpolitik gegen Frankreich. Hier wachte Bismarck darüber, daß Deutschland durch den Dreibund in keinen überflüssigen Gegensatz zu den Mittelmeerinteressen Frankreichs kam. Die Leichtigkeit und Geschicklichkeit, mit der Bismarck sein außenpolitisches System beherrschte, kann aber über die Kompliziertheit des Ganzen nicht hinwegtäuschen. Das Lavieren zwischen Österreich und Rußland und dann wieder zwischen Frankreich und England erforderte eine Erfahrung und Gewandtheit, wie sie Bismarcks Nachfolgern nicht mehr eigen waren. Trotz aller Einzelkonflikte hat Bismarck nach 1871 ein außerordentliches Vertrauen zu der Uneigennützigkeit und Friedfertigkeit der deutschen Außenpolitik zu erwecken gewußt. Er genoß dieses Vertrauen nicht nur in Wien und Rom, sondern in hohem Maße am Zarenhof, in London und sogar in Paris. Nur die friedliche und sichere Außenpolitik hat es Bismarck ermöglicht, die innerpolitischen Konflikte in Deutschland von 1871 bis 1890 in seinem Sinne zu lösen und den deutschen Verhältnissen einen Schein von Stabilität zu verleihen.
II. KAPITEL
Verschärfung der inneren Konflikte unter Wilhelm II.
Am 9. März 1888 starb Kaiser Wilhelm I. Er war ohne Zweifel ein bedeutender Mann. Er verstand das Bismarcksche System vollkommen und hatte die Einsicht, trotz seines starken dynastischen Selbstbewußtseins den Reichskanzler regieren zu lassen. Bis zu seinem neunzigsten Lebensjahr verfolgte er die politischen Vorgänge und bildete sich stets ein selbständiges Urteil. Den ernstesten Konflikt mit Bismarck hatte er 1879, als der Kanzler sich von Rußland abwenden und das Bündnis mit Österreich zur Grundlage seiner Außenpolitik machen wollte. Daß Wilhelm I. um keinen Preis die Verbindung mit Rußland zerreißen wollte, macht seinem politischen Urteil alle Ehre. Die militärischen und altpreußischen Traditionen hatten auf ihn starken Einfluß. Aber er machte doch alle Zugeständnisse an bürgerliche und moderne Verhältnisse, die Bismarck für erforderlich hielt. In Einzeldingen zeigte der alte Herr manche Wunderlichkeit, aber in wesentlichen Fragen ließ er sich durch höfische und familiäre Einflüsterungen niemals beeinflussen.
Durch die Verfassung von 1871 war der deutsche Kaiser der mächtigste Mann der Welt geworden. Seine Macht nach innen und außen war so groß, daß sie Schrecken und Mißtrauen erwecken mußte. Der deutsche Kaiser diente seiner Sache am besten, wenn er möglichst seine ungeheuere Macht nicht merken ließ. In diesem Sinne wirkte die einfache und schlichte Art Wilhelms I. Man empfand ihn nicht als militärischen Gewaltherrscher, sondern als den ersten Beamten des Reichs, und das Ausland vertraute seiner friedlichen Gesinnung. Wilhelm I. hat im Sinne der Politik Bismarcks nicht nur drei Kriege geführt, sondern auch im Innern oft rücksichtslos durchgegriffen. Gerade weil er keine Puppe war, sondern ein Mann mit selbständigem Urteil, trägt er vor der Geschichte die volle Verantwortung für die Härten der Konfliktszeit, des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes. Aber er handelte schweigend und hat niemals seine Gegner durch renommistische Reden bedroht oder verletzt. Unter Wilhelm II. war es umgekehrt. Er legte durch pomphafte und prahlerische Reden die ganze Kaisermacht bloß. Darauf folgten aber keine Handlungen. So machte er sich lächerlich und zerstörte das Prestige, das mit der stärksten Machtstellung der Welt verbunden war. Die kurze Regierung Kaiser Friedrichs brachte keine wesentliche Veränderung. Wenn Friedrich auch als Kronprinz persönlich dem liberalen Bürgertum näherstand als sein Vater, so war er doch ein überzeugter Anhänger des Bismarckschen Systems, und er hätte bei längerer Regierung schwerlich etwas daran geändert.
Am 15. Juni 1888 trat Wilhelm II. seine Regierung an. Staatsrechtlich dauerte seine Regierung von 1888 bis