wie es war, und gab ihm überdies die Führung in Deutschland.
Das Geheimnis der Bismarckschen Reichsverfassung liegt darin, daß eigentlich keine Reichsregierung gebildet wurde. An Stelle der Reichsregierung stand der Bundesrat, die Gemeinschaft der einzelstaatlichen Regierungen, mit dem Reichskanzler als ihrem geschäftsführenden Vertrauensmann. Daß das buntscheckige Gesandtenkollegium des Bundesrats in Wirklichkeit gar nicht regieren konnte, das muß Bismarck von Anfang an gewußt haben. So war der Bundesrat das konstitutionelle Feigenblatt für die preußische Regierung über das Reich, und der Reichskanzler in Personalunion mit dem preußischen Ministerpräsidenten machte die deutsche Politik. Wenn in einer Spezialfrage zum Beispiel Bayern Sonderwünsche hatte, mußte die Frage auf diplomatischem Wege zur Erledigung gebracht werden, aber niemals ist die Reichspolitik durch das Zusammenwirken von Bayern und Baden mit Hamburg, Waldeck usw. bestimmt worden. Das Hauptstück der Reichsverfassung Bismarcks, die Reichsregierung durch den Bundesrat, war also von Anfang an eine offenkundige Fiktion.
Der Reichstag konnte zwar über alle politischen Fragen öffentlich reden. Aber die Armee und die Außenpolitik waren von vornherein seinem Einfluß entzogen. Das Geldbewilligungsrecht des Parlaments für das Heer durfte unter keinen Umständen die kaiserliche Kommandogewalt beeinträchtigen, und die Außenpolitik machte der Kaiser, beziehungsweise der Reichskanzler, ohne sich um die Reichstagsreden zu kümmern. Die innerpolitische Wirksamkeit des Reichstags wurde zunächst durch die Sonderrechte der Einzelstaaten lahmgelegt, und vor allem durch die vollständige Einflußlosigkeit des Reichsparlaments auf die Exekutive. Der Reichstag konnte höchstens den Etat ablehnen. Aber der böse Präzedenzfall der preußischen Konfliktszeit bewies, daß dann die Regierung ihre Zahlungen ohne gesetzliche Deckung weiter leistete. So war die einzige Waffe des Parlaments von vornherein stumpf.
Weder durch Ausnutzung des preußischen Landtags noch mit Hilfe des Reichstags war das Bürgertum in der Lage, einen maßgebenden Einfluß auf die deutsche Politik auszuüben. Aber Bismarck wußte trotzdem ganz genau, daß das Deutsche Reich ohne und gegen das Bürgertum weder zu gründen noch zu behaupten war. Verfassungsmäßige Rechte auf Kosten der Krone sollte das Bürgertum nicht erhalten. Aber der Regent, formal der Kaiser, in Wirklichkeit der Reichskanzler, sollte dafür sorgen, daß die berechtigten Ansprüche des liberalen Bürgertums erfüllt wurden: Die nationale Ausgestaltung des Deutschen Reichs sollte die Ideen der bürgerlichen Patrioten verwirklichen, die wirtschaftlichen Wünsche von Handel und Industrie sollten erfüllt werden. Die Ansprüche der Liberalen auf eine moderne, geistig hochstehende, allem »Muckertum« abgeneigte Regierungsform sollten, soweit es irgend ging, befriedigt werden. Bismarck wollte sogar noch weiter gehen: Er war bereit, Vertrauensmännern des liberalen Bürgertums einzelne Ministerposten in Preußen und wichtige Verwaltungsstellen im Reich anzuvertrauen und mit den liberalen Parlamentsfraktionen sachlich zusammenzuarbeiten. Aber all dies sollte auf dem freien Willen des Kaisers, bzw. seines entscheidenden Ratgebers beruhen. Wenn es nötig war, wollte Bismarck sich und seinen Nachfolgern jederzeit die Möglichkeit vorbehalten, die Liberalen so zu schlagen wie in der Konfliktszeit.
Vom Bürgertum verlangte Bismarck, daß es mit derartigen Zugeständnissen sich zufrieden gab und die Besonderheiten der außenpolitischen und militärpolitischen Lage Deutschlands begriff. Die starke militärische Kaisergewalt war doch die beste Stütze für das besitzende Bürgertum gegen die Gefahr einer proletarischen sozialen Revolution. Die Pariser Kommune hatte auf Bismarck den stärksten Eindruck gemacht. Er war der Meinung, daß eine bürgerlich-parlamentarische oder gar republikanische Verfassung nicht die nötige Widerstandskraft gegen den Ansturm der besitzlosen Massen aufbringen könnte. Schon deshalb sollte das Bürgertum die Einsicht haben und sich um die bestehende konservative Staatsordnung scharen, auch wenn ihm dieses oder jenes im Deutschen Reich nicht gefiel.
Auf der anderen Seite hielt Bismarck es für ebenso notwendig, daß die altpreußische Aristokratie sich in die neue Zeit hineinfügte. Die »Junker« mußten begreifen, daß das Deutsche Reich sich nicht nach den Methoden eines Gutshofs östlich der Elbe regieren lasse. Sie mußten sich mit der Existenz liberaler Minister und mit der Entwicklung städtischen Reichtums abfinden. Sie mußten einsehen, welche Macht die ungeschwächte preußische Königsgewalt auch für sie mit bedeutete. Sie mußten unter allen Umständen den Kaiser und den Reichskanzler unterstützen, auch wenn sie im Augenblick den Sinn der einen oder anderen Regierungsmaßnahme nicht verstanden. Bismarck hielt es für den gesündesten politischen Zustand, wenn eine große altpreußische konservative Partei im Lande mit einer großen liberalen Partei zusammenwirkte. Es mußte der Regierung überlassen bleiben, wie sie in jedem Einzelfall das Gleichgewicht der Kräfte herstellte. Die Regierung sollte nötigenfalls einmal nach rechts und einmal nach links schlagen, aber danach immer wieder die Versöhnung und Zusammenarbeit der beiden Grundkräfte des Reichs erzielen.
Wie man sieht, beruhte das Funktionieren dieses Systems ausschließlich auf der Persönlichkeit des obersten Regierungschefs. Es mußte ein Kanzler wie Bismarck oder ein König wie Friedrich der Große da sein, um die Diagonale der Kräfte zu ziehen. Fehlte die Führerpersönlichkeit, so fiel alles auseinander. Auch in England beruhte die 1689 stabilisierte Staatsordnung auf dem Kompromiß zwischen grundbesitzender Aristokratie und städtischem Bürgertum. Aber in England war ein organisches Zusammenwirken und Zusammenwachsen beider Klassen erzielt. Beide teilten sich in die Selbstverwaltung des Staats. Auf dem Lande regierte der grundbesitzende Gentleman als Friedensrichter usw., und in der Stadt regierten der Mayor und die Aldermen. Beide Klassen trafen sich dann im Unterhause als Vertreter der städtischen und ländlichen Wahlkreise. Sie respektierten gegenseitig ihre Privilegien, weil sie wußten, daß die Rechte der einen die Rechte der anderen voraussetzten. Sie bildeten gemeinsam die Regierung und wachten gemeinsam über die Aufrechterhaltung der Verfassung. In Deutschland fehlte schon die Grundlage des englischen Systems, nämlich eine ernsthafte Selbstverwaltung, deren Stelle die allmächtige Bürokratie einnahm. Die Allgewalt des Unterhauses erzog zum Zusammenwirken der Stände und Klassen auf diesem Boden, während die Ohnmacht des Reichstags ein positives parlamentarisches Kompromiß zur gemeinsamen Regierung des Reichs ausschloß. Im Bismarckschen Reichstag konnte eine Koalition nur dann positiv etwas leisten, wenn sie unbedingt mit der Regierung zusammenging. Eine oppositionelle Koalition von Parteien und Klassen konnte höchstens den Reichskanzler durch Nadelstiche ärgern.
Unter dem Eindruck der Siege von 1870/71 fand sich das liberale Bürgertum mit der Reichsverfassung Bismarcks ab, und es war bereit, den Kanzler parlamentarisch und moralisch zu stützen. Aber die Krise kam nur zu bald, und sie verschärfte sich dadurch, daß ja die beiden Kräfte, auf deren Zusammenwirken Bismarck das Deutsche Reich gründen wollte, nicht allein dastanden: Neben dem altpreußischen Konservatismus gab es noch den altdeutschen Konservatismus links der Elbe, und neben dem liberalen Bürgertum stand in wachsender Zahl und in wachsendem Klassenbewußtsein das industrielle Proletariat. Wer das Deutsche Reich im Gleichgewicht halten wollte, mußte nicht nur mit zwei, sondern mit vier Faktoren jonglieren, die alle in diesem Rahmen zueinander nicht paßten.
Der altdeutsche Konservatismus hatte bis 1866 seinen Hauptsitz in Wien. Die regierenden Bischöfe des alten Deutschen Reichs hatten im habsburgischen Kaiserhaus ihr natürliches Oberhaupt erblickt, und ebenso die reichsunmittelbare Ritterschaft, die nur dem Kaiser und nicht einem Landesfürsten unterstand. Die Auflösung der alten Reichsverfassung durch Napoleon I. hatte diese beiden reichsunmittelbaren Stände beseitigt. Aber nach wie vor erblickte die katholische Kirche Deutschlands sowohl wie die große Aristokratie am Rhein und in Süddeutschland in Österreich ihre Vormacht und den natürlichen Schützer ihrer Interessen. Das alte Kaiserreich war 1815 in der Form des Deutschen Bundes nur sehr unvollkommen wiederhergestellt worden. Aber im Sinn der alten Reichstradition hielten die mittleren und kleinen Bundesfürsten Preußen für den gegebenen Feind und Österreich für den gegebenen Freund. Denn von einer Steigerung der preußischen Macht erwartete man eine zentralistische Neuordnung Deutschlands, während die Fortexistenz der österreichischen Vorherrschaft auch das Weiterbestehen des deutschen Föderalismus garantierte.
Der deutsche Föderalismus fand seine Anhänger nicht nur bei den Dynastien, Geistlichen und Aristokraten, sondern ebenso bei weiten Schichten der agrarischen und kleinbürgerlichen Bevölkerung, die nicht wollten, daß ihre Steuern nach Berlin gingen und daß ihre gewohnten Regierungs- und Lebensbedingungen durch das preußische Oberkommando gestört wurden.