hielt Bismarck aber das Deutsche Reich für nicht haltbar. Wenn das Bürgertum oppositionell beiseite stand, war der König von Preußen, sobald es ernst wurde, zusammen mit dem Militäradel isoliert. Denn das Bündnis mit dem Zentrum zerbrach nach Bismarcks Überzeugung bei der ersten schweren Belastungsprobe. Die Reichsregierung mußte imstande sein, nötigenfalls übertriebene Ansprüche der Liberalen zurückzuweisen und ohne sie das Notwendige zu tun. Aber eine dauernde Abstoßung des bürgerlichen Liberalismus war für Bismarck undenkbar.
Bismarcks Ziel war vielmehr, an Stelle der alten liberalen Parteien, in denen die Idee der parlamentarischen Regierung zu Hause war, eine neue Bismarcktreue liberale Partei zu scharfen. Sie sollte die Interessen der Industrie vertreten, die Zoll- und Kolonialpolitik fördern und in allen Verfassungsfragen konservativ sein. Diese Umbildung gelang zu einem wesentlichen Teil: In den achtziger Jahren erfolgte die Neugründung der Nationalliberalen, die mit der Nationalliberalen Partei von 1871 kaum mehr als den Namen gemeinsam hatten.
Es blieb freilich ein oppositioneller Rest im Bürgertum: Die Kaufmannschaft, die an der Zollpolitik nicht interessiert war, und solche Männer, die prinzipiell den militärisch-aristokratischen Charakter des Deutschen Reiches ablehnten und die Tradition der Konfliktszeit hochhielten. Diese »Fortschrittspartei«, unter Führung Eugen Richters, war im Lager des liberalen Bürgertums ungefähr dasselbe wie die Stöckergruppe innerhalb der konservativen Gesellschaftskreise. Es waren dies die beiden Tendenzen, die der Bismarckschen Koalition entgegenarbeiteten. Die Stöckerleute wollten die Konservativen von dem Block mit den Liberalen wegführen, und Eugen Richter wollte das Bürgertum von der Unterwerfung unter die »Junker« befreien. In Stöcker wie in Eugen Richter erblickte Bismarck recht eigentlich die Tendenzen, die sein Werk von innen heraus störten. Der Haß, mit dem Bismarck die Kreuzzeitung-Konservativen verfolgte, war ungefähr ebenso erbittert wie seine Feindschaft gegen die Fortschrittler um Eugen Richter.
Es ist begreiflich, daß beide Gruppen der Gegner Bismarcks und seines konservativ-liberalen Kartells auf den dritten Faktor der deutschen Politik, auf das Zentrum, spekulierten. Bei den Konservativen war es die Idee des konservativ-klerikalen Blocks, die als Ersatz für das System Bismarcks vorgeschlagen wurde. Aber auch die liberale Opposition gewöhnte sich daran, im Reichstag mit dem Zentrum zusammen zu stimmen. In den achtziger Jahren konzentrierte sich im Reichstag die Opposition gegen Bismarck um die Namen Windthorst und Richter. Sollte es da nicht möglich sein, auch positiv eine Zusammenarbeit zwischen dem liberalen Bürgertum und der katholischen Partei herzustellen? Das Zentrum hatte doch im Kulturkampf den Druck des herrschenden Systems nur zu schwer gespürt. Konnte es sich nicht auch zum Parlamentarismus bekehren? War nicht auch in Deutschland ein Seitenstück zu dem Ministerium Gladstone14 möglich, das sich auf ein Bündnis der englischen Liberalen mit den katholischen Iren stützte?
Ein deutsches Ministerium Gladstone hätte auch in bestimmten, Bismarck feindlichen Hofkreisen eine Stütze gefunden. Denn die Gegner Bismarcks am Hof hatten teils liberale und teils klerikale Sympathien. Die Idee des deutschen Ministeriums Gladstone ist geschichtlich überaus interessant, denn hier finden wir die ersten Anfänge der Kombination, die dann später zur Mehrheit der Friedensresolution von 1917 und zur Weimarer Koalition von 1919 führte. Aber in den achtziger Jahren waren die Aussichten, aus der Oppositionsfront Windthorst-Richter-Sozialdemokratie ein neues deutsches Regierungssystem zu schaffen, ganz gering. Zwar war von 1881 bis 1886 eine Reichstagsmehrheit für die Opposition vorhanden. Bei einem Thronwechsel war auch vielleicht ein Ministerium denkbar, das mit dieser Reichstagsmehrheit (ohne die Sozialdemokratie) zusammengearbeitet hätte. Aber um daraus ein lebensfähiges neues System zu entwickeln, hätte man erst die Machtstellung des militärischen Adels in Preußen zerschlagen müssen, und das traute sich damals niemand zu.
Deshalb war das Zentrum damals von einer solchen Kombination nicht begeistert, und es zog noch ein friedliches Zusammengehen mit den Konservativen einer solchen revolutionären Aktion vor. Im Bürgertum war ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten der politische Machtwille ständig gesunken. Was das deutsche Bürgertum mit aller Geisteskraft und aller Opferwilligkeit von 1848 bis 1866 vergeblich erstrebt hatte, das hatten der König von Preußen und Bismarck mit einigen gewaltigen Schlägen zustande gebracht. Nun sah man seit 1871, wie Bismarck, ohne sich von den Parteipolitikern viel stören zu lassen, das Deutsche Reich ausbaute, wie die Weltgeltung Deutschlands von Jahr zu Jahr ohne neuen Krieg zunahm, wie die Wirtschaftskurve nach oben ging und wie die innerdeutschen Verhältnisse scheinbar ganz stabil wurden. So gewöhnte sich die große Mehrheit des Bürgertums, vor allem die intellektuellen und die akademischen Kreise, daran, dem eigenen politischen Urteil zu mißtrauen. Statt dessen verließ man sich darauf, daß die Regierung in Berlin schon alles richtig machen würde.
Gewiß war es richtig, daß Bismarck und Wilhelm I. als politische Persönlichkeiten mehr bedeuteten und mehr leisteten als Lasker und Eugen Richter. Aber daraus machte man das Dogma von der preußischen Unfehlbarkeit und von Preußens historischer Mission. Ungefähr seit 1880 war politisch dem deutschen Bürgertum das Rückgrat gebrochen. Aber die historische Wahrheit zwingt festzustellen, daß diese Wandlung nicht durch Gewalt und Furcht entstanden ist. Unter welchem polizeilichen Druck stand das deutsche Bürgertum von 1815 bis 1848, und doch blieb es oppositionell und selbstbewußt! Nach 1871 war der physische Druck der Regierung auf das Bürgertum minimal. Was bedeuteten die paar Majestäts- und Bismarck-Beleidigungsprozesse gegenüber den Demagogenverfolgungen des Vormärz! Aber jetzt sah man sich einer ungeheueren politischen Leistung gegenüber, die trotz mancher Schönheitsfehler die nationalen Forderungen des deutschen Bürgertums erfüllte. Vor dieser Leistung brach der Oppositionswille des Bürgertums zusammen. Diese Stimmung war es, die den Bismarckschen Nationalliberalen, weit über die Kreise der industriellen Interessen hinaus, Autorität verschaffte. Darum war die Opposition der Fortschrittler so lahm. Darum war das deutsche Ministerium Gladstone unter Bismarck nur ein Gespenst ohne Realität.
Aber diese Einstellung des deutschen Bürgertums zur kaiserlichen Regierung war für das Reich durchaus kein idealer Zustand. Die geistige Kapitulation des Bürgertums, die gegenüber Bismarck und Wilhelm I. vielleicht noch zu rechtfertigen war, wurde absurd gegenüber Wilhelm II. und Bülow. In einer ernsten Krise mußte eine solche Gesinnung dazu führen, daß alles hypnotisiert nach oben starrte, und wenn die Regierung versagte, tat das Bürgertum aus eigener Initiative auch nichts. Nach 1890 war Bismarck entsetzt über die allgemeine Unterwürfigkeit und den Mangel an ernster Opposition gegen Wilhelm II., abgesehen von der Sozialdemokratie, die prinzipiell dem Reiche Bismarcks feindlich gegenüberstand. Aber Bismarck hätte sich sagen müssen, daß dieser beklagenswerte Zustand die Folge seiner eigenen Erziehung des deutschen Bürgertums war.
Indessen in der Tagespolitik ging alles so, wie Bismarck es wollte. Bei den Reichstagswahlen von 1887 errang das Bismarcksche Kartell der Konservativen und Nationalliberalen einen großen Erfolg. Bismarck hatte jetzt im preußischen Landtag wie im deutschen Reichstag eine ihm ergebene Mehrheit. Im Lande hatte er neben der großen agrarkonservativen Bewegung die bürgerlichen, regierungstreuen Nationalliberalen. Der Kampf gegen das Zentrum hatte seine Schärfe verloren, und die Gruppe Eugen Richters war in dieser Situation nicht gefährlich. Aber es blieben zwei andere Gefahren für das System Bismarcks: Die extremen Konservativen der Richtung Stöcker hatten sich zwar parteimäßig nicht selbständig gemacht. Sie hatten es nicht verhindern können, daß die offizielle konservative Partei die Kartellpolitik mitmachte. Aber sie blieben unversöhnt, und sie wurden 1888 beim Regierungsantritt Wilhelms II. am Hof eine Großmacht. Zweitens entwickelte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung trotz aller Unterdrückungsmaßregeln eine solche Kraft, daß sie das ganze System Bismarcks gefährdete. Der Kampf gegen die Stöckergruppe und gegen die Sozialdemokraten hat in gegenseitiger Wechselwirkung zum Sturze Bismarcks geführt.
Die selbständige Klassenbewegung des deutschen Proletariats verbreitete sich in den siebziger und achtziger Jahren entsprechend der Aufwärtsentwicklung der deutschen Industrie. Die Sozialdemokratie kämpfte damals zunächst gegen die elende wirtschaftliche Situation der Arbeiter und entwickelte daneben das Programm politischer Machtübernahme, die Umwandlung Deutschlands in eine sozialistische Arbeiterrepublik. Bei dem geringen Prozentsatz der Sozialdemokraten innerhalb der deutschen Bevölkerung lag freilich damals das Endziel in weiter Ferne. Die Sozialdemokratie war bis 1887 im Reichstag kaum viel stärker als die polnische Nationalpartei. Putschistische Gewalttätigkeiten vermied die