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Berufung auf Rosenberg widersprachen aber Eberhard Kolb und Peter von Oertzen der noch 1955 von Karl-Dietrich Erdmann und Karl Dietrich Bracher geäußerten These, wonach die Novemberrevolution entweder zur parlamentarischen Demokratie oder zur Diktatur nach russischem Vorbild geführt hätte. Sie zeigten im Anschluss an Rosenberg, dass die gemäßigt-sozialistische Arbeiterschaft die Chance besaß, zum eigentlichen Träger der Revolution zu werden, und dass in den Räten keineswegs die utopischen Vorstellungen der radikalen Linken mehrheitsfähig waren.48 Adelheid von Saldern merkte zu Recht an, dass Rosenberg einerseits „die Gegenstrategien der alten politischen Eliten“ unterschätzt, andererseits wohl die Sympathien der Mittelschichten für die Ziele der Arbeiterbewegung überschätzt habe.49 Das Kräftepotenzial der äußersten Linken sei 1918 objektiv wesentlich geringer gewesen, als es den Zeitgenossen erschien, schrieben schließlich auch Dieter Engelmann und Jakow Drabkin, zwei der wichtigsten Forscher zur Rätedemokratie in der DDR wie der Sowjetunion.50 Sie wandten sich damit implizit gegen Rosenbergs Brandmarkung als „Renegaten“ der Linken und „Feind der revolutionären Arbeiterbewegung“, wie sie DDR-Historiker bisher vorgenommen hatten.51 Doch während Gerd Voigt 1986 in Ost-Berlin Rosenberg endlich als einen „Sozialisten“ würdigen konnte, gelang dies Drabkin erst 1990 in Moskau.52

      Mit Blick auf die Zerschlagung der Republik betonte Rosenberg den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus. Bis 1931 habe nur ein kleinerer Teil der Großkapitalisten den Weg zu Hitler und Hugenberg gesucht, der andere, zunächst noch größere Teil zog die volkskonservative Bewegung um Gottfried Treviranus vor, die Reichskanzler Brünings Suche nach einem autoritären Weg aus der Krise unterstützte. Dies gab Brüning die notwendige Rückendeckung, um unter Missbrauch des Artikels 48 der Verfassung, der Notverordnungen im Fall gewaltsamer Konflikte vorsah, eine Diktatur zu errichten; Rosenberg benutzte den Begriff, ohne ihn zu erläutern. Am 18. Oktober 1930 beschloss eine Reichstagsmehrheit unter Einschluss der SPD, die Notverordnungen der Reichsregierung zur Haushaltssicherung nicht im Plenum zu diskutieren, sondern in die Ausschüsse zu überweisen. Mehrere von den Rechtsparteien und der KPD eingebrachte Misstrauensanträge blieben erfolglos. Damit habe die Reichstagsmehrheit den Kampf gegen die verfassungswidrige Diktatur eingestellt. Für Rosenberg war dies bereits die Todesstunde der Weimarer Republik. Seitdem habe in Deutschland eine Diktaturregierung die andere abgelöst. Die bürgerliche Republik sei 1930 zugrunde gegangen, weil ihr Schicksal den Händen des Bürgertums anvertraut war und weil die gespaltene Arbeiterbewegung nicht mehr stark genug war, um die Republik zu retten.

      Fast zwei Jahre nach Errichtung der Nazidiktatur weigerte sich Rosenberg zu sehen, dass diese „etwas prinzipiell Neues darstellte, dass die halbdiktatorischen Methoden Brünings ihn weder zu einem Diktator noch zu einem Faschisten machten. In Wahrheit war Deutschland in den Jahren 1930 bis 1932 kein totalitär regiertes Land, sondern erlebte drei (einschließlich der Reichspräsidentenwahl fünf) allgemeine Wahlen mit völlig freier Propaganda aller politischen Parteien, in denen sogar die KPD beachtliche Erfolge erzielen konnte.“53 Der Kritik von Francis Carsten ist nichts hinzuzufügen. Doch noch 1936 schrieb Rosenberg in seinem Epilog zur englischen Ausgabe des Buches bündig von den Diktaturen Brünings, Papens, Schleichers und Hitlers, ohne den Bruch des 30. Januar 1933 hervorzuheben, der auch das Leben Rosenbergs, seiner Familie und Millionen anderer Menschen völlig veränderte. Über die genauen Gründe, warum er diesen existenziellen Bruch so herunterspielte, lässt sich aber nur spekulieren. Lagen sie vielleicht auch darin, dass Rosenberg den deutschen Faschismus einseitig als Agenten des Monopolkapitals ansah, die kleinbürgerliche Massenbasis der nationalsozialistischen Bewegung hingegen zu gering veranschlagte?

      Unmittelbar nach seiner Flucht aus Deutschland schrieb Rosenberg in Zürich unter dem Pseudonym „Historikus“ die Broschüre Der Faschismus als Massenbewegung, die 1934 in der Tschechoslowakei, erschien. Er sah darin drei Varianten deutscher Faschisten: die Nazis, die traditionellen deutschen Nationalisten und, überraschenderweise, die um Reichskanzler Brüning gescharten Volkskonservativen. Er bezeichnete sogar die Regierung unter Wilhelm Cuno aus dem Jahr 1923 als den „Sieg des legalen Faschismus.“ Für Rosenberg war der Faschist „der gegenrevolutionäre Kapitalist, der geborene Feind der klassenbewußten Arbeiterschaft. Der Faschismus ist weiter nichts als eine moderne, volkstümlich maskierte Form der bürgerlich-kapitalistischen Gegenrevolution.“54 In Italien trete der Faschismus offen kapitalistisch auf; als „Partei des Kapitalismus, der noch zum Aufstieg fähig ist“, könne er „sich unzweideutig zum Privateigentum bekennen.“ Der Nationalsozialismus müsse hingegen als „Partei des absterbenden Kapitalismus“ seinen Klassencharakter verschleiern.55

      „Reichskanzler Brüning“, heißt es auch in der 1934 anonym erschienenen Broschüre Nazis, Nazism, Nazidom, „war 1930 der erste in einer Reihe deutscher Diktatoren. Er regierte mit Notverordnungen und zwang den Reichstag, diese ohne jede Veränderung anzunehmen. Der nächste Diktator war 1932 von Papen, der dritte war ebenfalls 1932 General Schleicher und der vierte war im Januar 1933 Hitler.“ Von den ins Exil gezwungenen Antifaschisten schlug nur Arthur Rosenberg derart umstandslos den Bogen von Brüning zu Hitler, ohne den qualitativen Bruch zwischen der Republik und dem Naziregime zu benennen.56 Hitlers Staat verkörpere den Triumph des Monopolkapitals, die Freiheit werde „nur durch die Zerstörung des Kapitalismus wiederhergestellt.“57 Als Autoren wurden „two Germans, a historian and a lawyer“, angegeben. Dass einer Arthur Rosenberg war, ist mehr als wahrscheinlich, dass der andere Franz L. Neumann gewesen sei, ist anzunehmen, doch nicht sicher nachweisbar.58

      In seiner kritischen Würdigung Arthur Rosenbergs schrieb Helmut Berding 1972: „Rosenberg hat an seinem Ideal vom demokratischen Sozialismus festgehalten, daran die historischen Erscheinungen gemessen und sie einer unerbittlichen Ideologiekritik unterzogen, wenn er glaubte, zwischen ihrem Anspruch und den realen Verhältnissen eine Kluft zu sehen. Er stand wie viele kritische Marxisten und oppositionelle Sozialisten, die sich ein unabhängiges Urteil bewahrten, zwischen den großen politischen und ideologischen Fronten, zwischen denen die politische Praxis kaum Spielraum und die politische Theorie nur ein schwaches Echo findet.“ Mit seiner Kapitalismus-Kritik hat Rosenberg in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft „nie mehr als eine provozierende Außenseiterrolle einnehmen können.“59

      Doch gerade deshalb erfuhr er nach seinem Tod eine starke Resonanz unter Linkssozialisten: Schon in seinem Todesjahr 1943 wurden seine beiden Bücher zur Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik von einem linken Verlag in Palästina verlegt. Übersetzungen in zahlreichen Ländern der Erde, bis nach Japan, folgten. Die italienische – kommunistische und nichtkommunistische – Linke las ihn besonders aufmerksam.60 Seine Nachwirkung reicht jedoch über die marxistische Linke hinaus. Rosenbergs Einfluss gründet sich nach Hans-Ulrich Wehler darauf, dass er „Politik- und Gesellschaftsgeschichte in Anlehnung an die Marxsche Theorie zu schreiben versucht“ hatte und „in diesem Sinn die Marxsche Gesellschaftsanalyse, verbunden mit einem ausgeprägten Verständnis für die Rolle der Ideologien, namentlich des modernen Nationalismus, vor allem auf die neuere deutsche Geschichte angewandt hat.“ Ein solch moderner Ansatz habe ihm Einsichten in den Wirkungszusammenhang der historischen Entwicklung eröffnet, die den traditionell politik- und diplomatiegeschichtlich orientierten Historikern versperrt blieben.61 Somit fordern Arthur Rosenbergs Werke – gegen den Strich gelesen – noch heute zum kritischen Nachdenken wie auch zur Neubefragung heraus.

      1 Sebastian Haffner, Über Geschichtsschreibung, in: Ders., Zur Zeitgeschichte, München 1982, S. 12f.

      2 Für biographische Einzelheiten vgl. bes. Helmut Schachenmeyer, Arthur Rosenberg als Vertreter des Historischen Materialismus, Wiesbaden 1964; Rudolf Wolfgang Müller/Gert Schäfer (Hg.), Arthur Rosenberg zwischen Alter Geschichte und Zeitgeschichte, Politik und politischer Bildung, Göttingen/Zürich 1986; Lorenzo Riberi, Arthur Rosenberg. Democrazia e socialismo tra storia e politica, Milano 2001; Mario Keßler, Arthur Rosenberg, Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen, Köln/Weimar/Wien 2003 (jeweils mit Bibliographie). Die letztgenannte Arbeit enthält (auf S. 268–274) erstmals den deutschen Text des Epilogs.

      3 Arthur Rosenberg, Untersuchungen zur römischen Zenturienverfassung, Berlin 1911, Nachdruck New York 1975.

      4 Über Rosenberg