armen Land hat man ja keine Ahnung, was alles so vor sich geht in der Welt, in diesen großen Städten. Nach dem Schock kommt die Angst, verstehen Sie das?«
»Ja, ich verstehe das sehr gut, Joana, aber dennoch muss ich noch einmal eindringlich sagen, dass Sie nicht so viel arbeiten sollen.«
»Ich tue es sehr gern, und Sie bezahlen mich sehr gut dafür, aber mehr zählt doch, dass ich ein Zuhause gefunden habe, ein richtiges Zuhause.«
Thomas hatte ein Zuhause nicht vermisst, dachte Viola wieder, aber es wurde ihr nicht bewusst, dass sie sich mit solchen Gedanken schon wappnete, um dann, wenn er kam, die Kraft aufzubringen, es ihm auch so konsequent zu sagen, wie sie es sich vorgenommen hatte.
Sie führte an diesem Tag noch ein langes Telefongespräch mit Fee. Sie sagte, wie gut sie sich alle verstünden und wie fleißig Joana war.
»Sie ist nicht nur ein Talent, sie kann organisieren und rationalisieren. Ja, sie könnte diesen Betrieb leiten. Es ist ein großer Lichtblick in diesem Dilemma, Fee.« Und dann sprach sie über Thomas und wie sie es geplant hatte.
»Du willst ihn gar nicht zu den Kindern lassen?«, fragte Fee bestürzt.
»Wozu soll das gut sein? Es verdirbt den Kleinen die Weihnachtsstimmung. Sie sind jetzt so voller Vorfreude, und Hilde versteht es meisterhaft, sie zu beschäftigen. Dann bastelt Joana mit ihnen, und überhaupt sehe ich nichts Gutes, wenn Thomas pro forma Weihnachten dabei sein will.«
»Höre ihn an, Viola«, sagte Fee eindringlich. »Verschanz dich nicht hinter Trotz. Bedenke, dass sich alles anders verhalten könnte als die Bertram sagte.«
»Ich bin bereit, ihn anzuhören, aber alles schlucke ich nicht mehr hinunter, Fee.«
Nun, das konnte Fee ihr nicht verdenken. Alle Geduld, alle Toleranz hatte Grenzen. Sie würde wohl auch nicht anders handeln, aber sie war heilfroh, dass sie solchen Konflikten nicht ausgesetzt war. Sie konnte nicht verstehen, dass Thomas Anderten seine Ehe aufs Spiel gesetzt hatte.
*
Der entscheidende Tag war gekommen. Viola war pünktlich am Flughafen. Zuhause hatte sie gesagt, dass sie geschäftliche Dinge in der Stadt erledigen müsse. Sie wusste die Kinder gut behütet und die Werkstatt bestens betreut von Herta Töpfer und Joana. Zwischen den beiden gab es nicht die kleinsten Differenzen. Und nur Joana ahnte, dass Viola von zwiespältigen Gefühlen bewegt war, als sie wegfuhr. Sie hatte ein besonderes Gespür dafür, und sie wusste ja inzwischen auch schon, dass in dieser Ehe manches nicht stimmte. Ihre Zuneigung für Viola war so groß, dass sie voller Verachtung für Thomas Anderten war, ohne ihn zu kennen.
Für Viola jedoch brach die schwerste Stunde ihres Lebens an, als das Flugzeug gelandet war und sie nun die Minuten zählen konnte bis zum Wiedersehen.
Als sie Thomas kommen sah, setzte ihr Herzschlag aus. Sein Gesicht war gelblichfahl und übermüdet. Die Augen waren tief umschattet. Sie war so erstarrt, dass sie sich gegen seine Umarmung nicht wehren konnte.
»Lieb von dir, dass du mich abholst«, sagte er heiser.
»Ich wäre nicht hier, wenn es zwischen uns nicht etwas zu klären gäbe«, stieß sie hervor.
Er zuckte zusammen. »Ich konnte nicht schreiben, Viola«, murmelte er. »Wir waren abgeschirmt. Es war eine teuflische Zeit. So etwas mache ich nicht wieder mit.«
Sie merkte, wie nervös er war, wie er sich ängstlich umblickte, und das vertrieb die momentane Schwäche in ihr.
»Wir werden uns an einem ruhigen Platz unterhalten«, sagte sie mit gekünstelter Ruhe.
»Wollen wir nicht heimfahren?«, fragte er.
»Heim? Ist das je ein Zuhause für dich gewesen, Thomas?«
»Man könnte sagen, dass es vor allem dein Zuhause ist, dein ererbtes, vertrautes Zuhause«, erwiderte er.
Nun geht es los, dachte sie aggressiv. Jetzt schiebt er mir erst die Schuld zu.
Dann war er kurzfristig abgelenkt. »Du hast ja einen neuen Wagen«, stellte er fest, als sie die Tür aufschloss.
»Ja, der alte war schrottreif, und ich bin ziemlich viel unterwegs. Das Geschäft floriert.«
Vielleicht war es falsch, dass sie dies sobald sagte, aber sie machte sich jetzt darüber schon keine Gedanken mehr. Sie hielt vor einem hübschen Gasthof an. »Hier kann man sehr gut essen«, erklärte sie.
»Ich hatte mir alles doch ein bisschen anders vorgestellt«, sagte er heiser. »Warum hast du die Kinder nicht mitgebracht?«
»Sie sind gut aufgehoben. Ich habe eine neue, sehr zuverlässige Haushälterin. Warum hast du dich eigentlich nicht von Sonja Bertram abholen lassen?«
Er wich einen Schritt zurück. »Also deswegen bist du so aggressiv«, sagte er tonlos. »Sie war bei dir. Ich möchte es dir erklären, Viola.«
»Ja, darauf warte ich. Und deshalb sind die Kinder auch nicht mitgekommen. Sie wissen gar nicht, dass ich dich abhole.«
Dann herrschte Schweigen, bis sie sich an einem kleinen Tisch in einer Nische niedergelassen hatten.
»Du hast den Kindern nicht gesagt, dass ich komme?«, fragte Thomas stockend.
»Nein. Hätte ich ihnen vielleicht auch verkünden sollen, dass du in Bälde wieder Vater wirst, dieses Kind aber eine andere Mutter haben wird?«
Sie konnte ihr Temperament nicht zügeln. Der Stachel saß zu tief in ihr.
»Ich bedaure das, Viola«, murmelte er. »Es war eine blöde Situation. Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken, und sie hatte es darauf angelegt.«
»Willst du es jetzt etwa als einen einmaligen Ausrutscher hinstellen«, stieß Viola hervor.
»Du würdest es mir ja doch nicht glauben, wenn ich das sage. Mein Gott, lass uns doch vernünftig darüber sprechen.«
»Haben die Herrschaften schon gewählt?«, fragte die Bedienung höflich.
Für Viola war es eine Ablenkung, um nun wieder ruhiger zu werden. Sie überflog die Speisekarte.
»Eine Lauchcremesuppe und das Rehfilet«, sagte sie.
»Mir bitte das Gleiche«, sagte Thomas.
»Getränke?«, fragte die Bedienung.
»Zwei Sherry und mir ein Mineralwasser«, erwiderte Thomas.
»Mir einen Edelzwicker«, sagte Viola.
»Seit wann trinkst du mittags Wein?«, fragte Thomas erstaunt.
»Warum nicht? Ich bin auf den Geschmack gekommen, aber du brauchst nicht denken, dass ich dem Alkohol verfallen bin vor lauter Kummer«, erwiderte Viola ironisch.
Er starrte sie an. »Du hast dich sehr verändert, Viola.«
»Du dich auch«, konterte sie. »Aber du brauchst nicht denken, dass ich in Tränen ausbrechen werde. Ich verlange auch keine Beichte. Du kannst die Scheidung haben, ohne jede Schwierigkeit.«
Ein Zucken lief über sein Gesicht. »Ich will keine Scheidung. Ich weiß ja gar nicht mal, ob es wirklich stimmt, dass Sonja ein Kind erwartet. Vielleicht wollte sie mir auch nur ein Kuckucksei ins Nest legen, um Geld herauszuschlagen. Das ist doch auch so eine Masche, die um sich greift, wenn ein Mann zahlungsfähig ist und einen Ruf zu wahren hat. Und sicher ist das auch schon anderen Männern widerfahren, ohne dass die Ehefrau davon informiert wurde, ohne dass die Ehe darunter litt.«
»Du hast eine seltsame Einstellung. Könntest du tatsächlich mit solcher Täuschung leben, Thomas? So, als wäre nichts geschehen?«
»Ich wollte ja mit dir darüber sprechen. Ich konnte nicht ahnen, dass Sonja mir zuvorkommen würde.«
»Sie braucht Geld«, sagte Viola kalt. »Sie dachte, ich würde ihr etwas geben, sie vielleicht sogar anflehen, das Kind abtreiben zu lassen. Sie hat recht dumm geschaut, als ich ihr sagte, dass sie dich haben kann.«