lieb ist sie auch«, meinte Benny. »Nicht so dämlich wie Marianne. Und schon gar nicht so zickig wie die andere, die vorhin da war. Die hättest du doch nicht genommen, Mami?«
Viola erschrak. Er ist doch erst sechs Jahre alt, dachte sie. Was geht in so einem Kinderköpfchen vor? Was wird er, was wird auch Sandra denken, wenn Thomas nicht mehr heimkommt?
»Die kommt doch nicht auch, Mami?«, fragte Benny jetzt wieder.
»Wer?«, fragte sie.
»Die Rothaarige.«
»Die mit dem Auto gekommen ist, wo du uns zu Frau Töpfer geschickt hast«, sagte Sandra.
»Nein, die kommt nicht«, erwiderte Viola.
»Da war Frau Töpfer nämlich bange, aber Joana, die mag sie«, erklärte Benny. »Da hat sie gesagt, dass du sie hoffentlich nimmst.«
»Nun kommt sie ja zu uns«, sagte Viola.
»Können wir es Frau Töpfer sagen, Mami?«, fragte der Junge.
»Ich werde es ihr selbst sagen. Und ihr müsst sehr lieb zu Joana sein. Sie ist in einem fremden Land aufgewachsen und hat hier noch kein richtiges Zuhause gefunden.«
»Jetzt kriegt sie doch eins«, meinte Benny unbefangen. Und Herta Töpfer strahlte, als Viola ihr sagte, dass Joana schon am Montag anfangen würde.
»So a liabs Dingerl«, sagte sie, »und was die alles kann. Da haben Sie einen guten Griff getan, Frau Anderten. Aber wenn sie in der Stadt wohnt, ist es jeden Tag ein weiter Weg.«
»Sie kann bei mir wohnen, das ist schon beschlossen, Frau Töpfer. Ich habe genug Platz. Mein Mann wird nicht mehr zurückkommen, Ihnen sag’ ich es, aber behalten Sie es bitte für sich.«
Herta Töpfers Gesicht versteinerte sich.
»Mit Verlaub gesagt, das versteh ich nicht, das muss ein Depp sein. Entschuldigen’s vielmals, dass mir das herausgerutscht ist.«
»Ich habe es überhört«, sagte Viola.
»Auf uns können Sie sich verlassen, Frau Anderten, das möchte ich aber auch sagen. Jetzt erst recht. Und was ich denke, behalte ich für mich.«
Da packten zwei Frauen an diesem Abend ihre Koffer. Hilde Weber wurde dabei nicht gestört. Sie hatte der Hausmeisterin schon gesagt, dass sie die Wohnung räumen würde.
»Meinetwegen bräuchten Sie das bestimmt nicht, Frau Weber«, hatte die gesagt. »Wenn alle Mieter so wären wie Sie, hätte ich keinen Ärger. Und dass Sie mit dem Burschen so viel Scherereien haben, ist schlimm genug. Aber die feinen Leute haben auch oft genug Ärger mit ihren Kindern. Sie haben den ja bloß adoptiert, das stand in der Zeitung. So was von Undankbarkeit, da kann man nur Mitleid für Sie haben.«
Und das wollte Hilde Weber am wenigsten hören. Nur weg, dachte sie, niemanden mehr sehen, der davon weiß.
Joana wurde auf andere Weise gestört, und erst dann, als sie beim Packen war. Es läutete. Sie begann zu zittern. Aber dann regte sich in ihr ein Gefühl des Aufbegehrens. Ihre Haut begann zu jucken, heiße Glut schlug in ihre Wangen, als sie die Tür öffnete.
Ein schlanker gut aussehender Mann stand vor ihr. »Sie?«, fragte Joana staunend.
Es war nicht der, den sie mit Furcht erwartet hatte, nicht Herbert Brandner. Es war der Verkaufsleiter der Firma, in der sie bisher gearbeitet hatte, Ulrich Boering.
»Wieso haben Sie gekündigt, Joana?«, fragte er. »Ich habe es gerade erst erfahren.«
»Ich will weg von München«, erwiderte sie stockend.
»Warum? Wenn Sie mehr Geld haben wollen, werde ich dafür sorgen.«
»Mir geht es nicht ums Geld. Ich möchte da arbeiten, wo ich akzeptiert werde.«
»Und wo werden Sie arbeiten?«
»Das sage ich nicht. Es ist meine Angelegenheit.«
»Seien Sie doch nicht so töricht, Mädchen«, stieß er hervor. »Sie hätten sich doch nur ein bisschen aufgeschlossener zeigen müssen.«
»In welcher Beziehung?«, fragte Joana kühl. »Ich lasse mich nicht von jedem betätscheln.«
Ulrich Boering wurde blass. »So habe ich das doch nicht gemeint. Bin ich Ihnen je zu nahe getreten?«
»Sie nicht, aber andere«, erwiderte Joana. »Und ich habe die Nase voll davon. Ich will auch nicht mehr hören, dass ich froh sein müsste, überhaupt hier leben zu dürfen, und dafür müsse man sich schon erkenntlich zeigen. Ist das deutlich genug, Herr Boering?«
Er starrte sie an. »Ich verstehe Sie, aber Sie missverstehen mich. Warum haben Sie nicht offen mit mir darüber gesprochen, Joana? Habe ich Ihnen nicht eine und mehrere Brücken gebaut?«
»Die Brücken kenne ich«, sagte sie ruhig. »Wenn man auf halbem Weg ist, fällt man in den Abgrund. Ich nicht, Herr Boering. Ich gehe einen Weg ohne Brücken, die mir von andern gebaut werden. Ich habe termingerecht gekündigt und trete am Montag eine neue Stellung an. Und da kann ich sicher sein, dass ich von keinem Mann belästigt werde.«
»Mein Gott, Sie verkennen mich«, sagte er tonlos. »Ich liebe Sie, Joana.«
»Gehen Sie, ich glaube keinem Mann mehr. Liebe, was versteht ihr denn schon unter Liebe? Ihr denkt doch nur, dass ein heimatloses Mädchen käuflich ist. Verschwinden Sie endlich.« Er wich zurück, und Joana schlug die Tür zu. Sie sah nicht, wie er verzweifelt seine Stirn an die kahle Wand des Treppenhauses legte.
Noch eine Nacht, noch einen Tag und noch eine Nacht, dachte sie, und dann habe ich ein Zuhause. Da ist eine Frau, die ich mag und zwei Kinder, mit denen ich vielleicht manchmal spielen darf. Da sind Wiesen und Wälder, in denen ich wieder frei atmen kann. Ich will doch leben, frei leben, nur hatte ich es mir anders vorgestellt. Aber jetzt habe ich wieder Hoffnung.
*
Des Menschen Schicksal liegt in Gottes Hand, sagt man, doch war es wirklich so? Sicher gab es viele Menschen auf dem Erdenrund, die daran zweifelten, und zu denen gehörten auch Viola, Joana und Hilde Weber, die an diesem Tag an einer Wende ihres Lebens standen aber auch bereit waren, dieser Wende gerecht zu werden aus eigener Kraft, mit neuem Mut.
Der Tag brachte Böses, aber auch Gutes, und was uns nicht umbringt, macht uns stärker, dachte Viola nun. Nur nicht verzagen, nicht bitter werden. Vielleicht braucht Thomas so eine Frau wie Sonja, die nur sexy ist.
Dann wanderten ihre Gedanken zu Joana, die ganz allein auf sich gestellt in einer noch fremden Welt, doch ihren Charakter bewahrt und keiner Verführung unterlag. Es lohnte sich, diesem jungen Menschen zu helfen. Und wie gut war es doch, dass sie sich eine eigene Existenz geschaffen hatte.
Fee ist gerade im rechten Augenblick wieder in mein Leben getreten, ging es ihr vor dem Einschlafen noch durch den Sinn, als wahrlich gute Fee. Und aller Sorgen zum Trotz schlief sie tief in den neuen Tag hinein.
Die Kinder weckten sie. »Es hat geschneit, Mami«, trompetete Benny, sodass Viola erschrocken emporfuhr.
»Kommt jetzt der Nikolaus?«, fragte Sandra.
»Doch nicht so bald«, murmelte Viola. »Du lieber Himmel, schon so viel Schnee«, rief sie dann aus, als sie zum Fenster hinausblickte.
»Kommt der Besuch jetzt nicht?«, fragte Benny.
»Der Schnee wird sie doch nicht hindern. Er taut sicher bald weg«, erwiderte Viola.
»Lieber nicht, dann können wir doch mit den Kindern keinen Schneemann bauen«, sagte Sandra.
Fee sagte zur gleichen Zeit, dass es gestern schon nach Schnee gerochen hätte.
Doch bei ihnen war nicht so viel gefallen wie in Ammerland.
»Und weil ich ein vorsichtiger Mann bin, habe ich die Winterreifen schon montieren lassen«, erklärte Daniel.
»Sehr gut«, lobte Fee, »aber wir werden ja kaum