diese Untersuchungen noch nicht eingeleitet waren, und zweitens wollten sie an so einem Tag partout nicht an die Vorfälle vom März erinnert werden … Aber der Minister war schon dabei abzuwinken und zu erklären, es sei ihm im Grunde egal, er sei ja nur der Handelsminister, welches Amt ihm in der Nacht vom 8. zum 9. Juni nun mal zugefallen sei.
Vergesst das Ganze, sagte er, aber was ich fragen wollte, meine Herren, wieso führt euer Fluss denn kein Wasser mehr? Da hatten sie ihm was zu erzählen – warum das so war. Sie machen sich keine Vorstellung, Herr Minister, lamentierten sie, was das für ein Jahr war für uns alle hier! Im Frühling: Regen ist kein Ausdruck. Von daher unbeschreibliche Überschwemmungen. Mai und Juni – kein Tropfen. Im Juli hats gehagelt und geschüttet, gleich stand das Wasser wieder überall. Und jetzt haben wir August, und, Sie sehen ja selbst, schon ist wieder absolut Ebbe. Sie sprechen den Fluss an, Herr Minister, aber wenn es nur der wäre! Einerseits ist die Ernte kompromittiert, als wie im Eimer, und andererseits haben wir Horden streunender Hunde in der Stadt, die sich von Aas und Unflat ernähren und derer, weil es sind Hunderte, die Hundefänger einfach nicht Herr werden. Epidemien bedrohen die Stadt, Euer Gnaden, Keim und Pestilenz, auf Schritt und Tritt!
Aber, aber, meine Herren, entgegnete der Minister mit Vorwurf in der Stimme, wer wird sich denn beklagen! Wusstet ihr schon, dass zum Beispiel der Miami River in Nordamerika gerade mal zweihundertsechzig Kilometer lang ist und damit kürzer als eurer? Jawohl, meine Herren! Wenn ich es euch sage! Wobei dieser Miami in einen ungleich längeren Fluss mündet, den Ohio nämlich, so wie der Eure weiter unten in die Mariza fließt, denkt mal an, was für eine interessante Parallelität.
Und nun müsst ihr euch ausmalen, fuhr er fort, dass am 23. März 1913 das ganze Tal von diesem Miamifluss auf einmal mit dicken schwarzen Wolken vollhing, ein unerhörter Sturm brach los, meine Herren, und es begann zu schütten wie aus Kübeln, Sturzbäche, kann ich euch sagen, die reinste Sintflut – ein Drittel der mittleren Jahresniederschläge in dieser geplagten Gegend, aufs Mal. Und so wurde das Miamital – flächenmäßig, nebenbei gesagt, der Nutzfläche von ganz Südbulgarien entsprechend – von einem reißenden Strom geflutet, elftausend Kubikmeter in der Sekunde, zwölfmal mehr, Pardon, als die größten Überschwemmungen hier bei euch. Dreißigtausend Hektar abgeschwemmter Mutterboden, ersoffenes Vieh im Wert von Tausenden, was sag ich, Millionen Lewa, vierhundert wertvolle Menschen fielen der Flut zum Opfer, von den materiellen Verlusten nicht zu reden, unterm Strich runde achthundert Millionen Lewa Schäden. Und das nach damaliger Rechnung, wo das Geld noch was wert war! Aber diese Amerikaner, was haben die gemacht, kaum dass das Wasser weg war? Sie haben gleich mal ein Wassersyndikat gegründet und, wie sie einhundertvierundzwanzig Millionen im Topf hatten, fünf Staubecken angelegt, von denen das größte dreihundertneunzig Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen hat und, zusammen mit den kleineren allen, gehen da eine Milliarde und fünf Millionen Kubikmeter rein, und ihr, meine Herren, macht euch überhaupt kein Bild, wie viel Wasser das ist, eine Milliarde und fünf Millionen Kubikmeter, denn so viel kommt bei euch das ganze Jahr nicht vorbeigeplätschert, mit Verlaub. Aber das ist eben Amerika!
Und nun passt mal auf, was dann passierte.
Weil sie das Wassersyndikat hatten, konnten diese Amerikaner, indem sie sich vor neuen Überschwemmungen hüteten, mit dem aufgestauten Wasser auch gleich noch den Sommer lang ihre Saat bewässern und fahren seither eine fünf-, sechsmal größere Ernte ein als wir. Und so kommt es, dass sie bei den Nahrungsmitteln von dort aus bis nach hier konkurrieren, während doch eigentlich wir als die ausgefuchsten Landwirte und Gärtner denen da drüben Konkurrenz machen müssten.
Also sprach der Minister, und seine schönen grazilen Hände unterstrichen energisch, was er sagte, am Ende höhnte er noch: Für diese Sache bräuchte es wohl erst mal ein paar so furiose Überschwemmungen, wie die Amerikaner sie hatten, dann kämen wir vielleicht drauf.
So redete er zu ihnen, während sie ihn herzhaft angähnten, schwitzend unter dem Eindruck der niederschmetternden Zahlen (selbst wenn diese viel zu viele schillernde Nullen aufwiesen, um korrekt zu sein), doch bemüht, an den rechten Stellen zu lachen oder begeistert mit der Zunge zu schnalzen. Worauf sie sich einer nach dem anderen verbeugten und artig zur Seite trippelten, um ihm den Vortritt zu lassen zum sommerabendlichen Rundgang von einem Tanzpodium zum anderen, zwischen Turngeräten und tänzelnden Pferden hindurch, an Marktständen entlang, mit einem Abstecher zum verkrauteten Flussufer, wo Sprengmeister, vollkommen versengt und verrußt, Raketen zündeten. Zu guter Letzt landeten sie alle miteinander zum rustikalen Abendbrot im Familienlokal Harmonie, das von Georgi Walow und Dimo Semerdshiew (vormals Kebabbrater im Restaurant von Iwaniza Kawardshikow) geführt wurde und erst vor Wochenfrist, zum Ersten des Monats, neben dem Kontor von Jomtow, Awramow & Sohn in der Straße des 5. Januar eröffnet worden war. Im Separee hinter einem grünen Jägerzaun probierte der Minister von Georgis und Dimos Kebabtscheta2 und was der Grill noch so bot – Rostbraten von Rind und Schwein in heroischen Dimensionen, auch Lamm und Pute – und war des Lobes voll; nicht minder ob des gut gereiften und gekühlten Bieres, der naturreinen Rotund Weißweine, erlesenen Kognaks und Obstler, Kartäuser- und Benedektinerliköre, des Mastika aus Stara Sagora und all der anderen Schnäpse und sonstigen Alkoholika; und natürlich lobte er die schnelle, adrette und diskrete Bedienung in den weißen Schürzchen und Moiréseidenwesten. So aß und trank er, was der Herrgott den Seinen in diesem August gegeben, warf zuletzt zufrieden die Serviette von sich und sprach: Prima, meine Herren, ganz vorzüglich, das verdient ein volles Lob! Ein so modern geführtes und eingerichtetes Lokal in K. vorzufinden habe er wirklich nicht erwartet, fügte er an, doch wenn alle sich einig seien, dann klappe eben auch dies.
So sprach er zu ihnen, und bei dem Wort »einig« wurden alle Anwesenden enthusiastisch und riefen laut hurra und es lebe.
Hier im Lokal Harmonie verabsäumten es die Honoratioren der Stadt nicht, dem Minister noch einmal zu versichern, dass ganz K. und Umgebung dem Zusammenschluss der Parteien zu einem wahrhaft demokratischen Bund mit großer Ungeduld entgegensehe. Nicht nur ihr wünscht euch das, gottlob!, entgegnete der Minister, das ganze rechtschaffene Volk, unter Wahrung von Ruhe, Ordnung und Bürgerfriede, erwarte den Parteienbund, der – als hohe demokratische Geste des neuen Kabinetts – nurmehr eine Frage von Tagen sei … So siehts aus, meine Herren, schloss er. Denkt mal an!
Worauf die Männer um ihn her erneut in ohrenbetäubende, orkanartige Hurrarufe ausbrachen, aufsprangen, um donnernd ihre Bierkrüge gegeneinanderzustoßen, und das Orchester gegenüber spielte Es rauscht die Mariza3.
Daraufhin hatte man anscheinend genügend Mut gefasst, den Minister, ohne dass Dantschew davon erfuhr, auf die Räuber anzusprechen, die Bewaffnung der Bevölkerung und die Verfolgungstrupps …
Wie?, horchte der Minister auf. Von was für Räubern faselt ihr da, meine Herren? Im ganzen Land gibt es keine Räuber! Das hat bloß die Presse aufgebauscht, wusstet ihr das nicht?
O nein, Herr Minister, kam Widerspruch von allen Seiten, mit Verlaub, Euer Gnaden, es gibt sie leider doch, und es ist nicht nur die Presse, die sie aufbauscht! Bandenweise, mit Verlaub, treiben sie in unserer Gegend ungestraft ihr Unwesen. Kaja Burun, Pantakli, Talaschmanli und noch ein paar Dörfer sind buchstäblich umzingelt von den Gangstern, weil da ist nichts drumherum als Wald und Felsen! Am Dritten dieses Monats erst wieder haben die Männer aus Botewo im Arpa-Dere-Tal eine ungleiche Auseinandersetzung mit diesem Hajdukengesindel gehabt. Und womit traten die Bauern dort zum Kampf an? Mit simplen Jagdflinten die einen, die anderen mit Knüppeln oder mit Forken und Rechen und was sonst zur Hand war, ihr Vieh zu schützen, während die Räuber aus properen Parabellum-Pistolen auf sie schossen, mitunter auch aus weitreichenden Mannlicher-Karabinern. Und hinterher verzogen sie sich mit Leichtigkeit wer weiß wohin, und an ihrem Nachtlager hinterließen sie einen Zettel, aus dem hervorgeht, dass sie nur zu fünft gewesen – der blanke Hohn, Herr Minister! Fünf Spitzbuben, die ein ganzes Dorf in Schach halten! Denn so hat es auf dem Zettel gestanden: Hier lagerten fünf Kämpfer für das Volkswohl. Gezeichnet: Gruppe Schwarzer März – und jetzt wirst du uns, Eurer Gnaden, bestimmt fragen, wie kann das sein: fünfzig-sechzig Bauern, gesunde Männer, tapfere Bulgaren, kommen mit fünf tumben Räubern nicht zu Rande, vermögen sie weder zu schnappen noch an Ort und Stelle zu liquidieren … Tja, dazu ist zu sagen, dass man die Situation vor Ort kennen muss, wenn man dort hinkommt sieht