Jürgen Roth

Fußball! Vorfälle von 1996-2007


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zum Prototypen des Dummklumpens erkoren hatten, wird plötzlich allenthalben gehätschelt, gepriesen und gelobt. Vergessen scheint, woran sich die Claque jahrelang delektierte: an Lothar M.s zuweilen narrischer Posierlust, seiner röhrenden rhetorischen Rastlosigkeit, seinem rauschhaften Geschnatter. Immer dann, wenn er die vom Bundesligabetrieb erzwungene Selbstkontrolle verlor und herumkrabölkte, bis die Kameralinsen beschlugen, kreischten sich die Schmöcke ins Fäustchen und hauten sich die Schenkel blau: Seht her, welch wunderbaren Tölpel er uns gibt!

      Eigentlich wäre es gerechtfertigt, akkurat jetzt jenen Lothar M. zu schmähen, dessen Anhänger ich immer war; jetzt, da ihn alle liebgewonnen haben, weil er dem waghalsigen Projekt Weltmeisterschaft als wahrscheinlich vom HErrn persönlich gesandter Retter doch noch Perspektiven zu geben vermag. Nein, nun wär’s eigentlich zu spät, einen zu loben, der ganz und gar nicht ist, was sie aus ihm machten, auch wenn ich lediglich erahne, daß er »ein Guter«, wie die Mittelfranken sagen, sein muß.

      Der geschätzte Fachkollege Fritz Eckenga, Bayern-Verächter und Borussen-Addict, erzählt, im Umfeld der Münchner Bayern redeten die Leut’ hinter vorgehaltener Hand über Lothar M. äußerst respektvoll. Paradox: Der, der angeblich die Boulevardpresse mit »Internas« (Matthäus) füttert und seine Kollegen anschwärzt, darf nur unter strengster Geheimhaltung geachtet werden. Womöglich zehren seine Kritiker von solcher Schizophrenie. Thomas Helmer hätte Lothar M. nach Veröffentlichung des Tagebuchs nicht despektierlich einen »Kranken« rufen können, hätte Lothar M. Lobbies, die ihn schätzten für das, was er wohl verkörpert, nämlich vor allem »keinen Linkmichel« (Andy Brehme). »Ja, das tut einem weh«, sagt Lothar M. heute, »weil man ja weiß, wie man eigentlich ist.«

      Ich kann für mich in Anspruch nehmen, bereits Fan von Lothar M. gewesen zu sein, als meine Altersgenossen störrisch auf Hubert Kah oder Christiane F. schielten und aus ihrer merkwürdigen Zuneigung ein gerüttelt Maß an Prestigemehrwert schöpften. Dieser Tage trüge kaum Neues zur Diskussion bei, wer Lothar M.s mitunter beinahe rührende Offenherzigkeit priese, seinen sich nach Anerkennung verzehrenden Mitteilungscharakter, der stets Gefahr läuft, tapsig zu wirken. So angepaßt Lothar M. einem dünkt, so unangepaßt dürfte er tatsächlich sein, »lauter wie kein zweiter« (Günther Koch). Und daß er nun die Klappe hält und jedermann scheinheilig seine neuen »Tugenden« rühmt – »über alle Diskussionen erhaben« nennt ihn plötzlich das ZDF-WM-Studio –, ist, das ganze Klinsmann-Gedengel beiseite, der echte Skandal – für welchen allerdings der Blick eines Thomas Helmer entschädigte, als Bundestrainer Vogts im Jugoslawienspiel nicht ihn, sondern die Nummer acht auf ihren Einsatz vorbereitete und Jugendspielerhändler Helmer darob wie verkniffen-knieselig dreinschaute. Doch, das hat mir gefallen.

      Vom PLAYBOY (7/1998) über sein Verhältnis zu Berti Vogts befragt, mit dem er 1979 bei Borussia Mönchengladbach trainiert hatte, antwortete Lothar M.: »Ich hab’ ihn gleich umgetreten. Deswegen habe ich einen Vertrag bekommen.«

      Eben – »seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.« (Matthäus 10,16)

      Er läßt nicht locker. Da hatten wir ihn endlich aus unserem Gedächtnis gestrichen, schon reicht er die Scheidung ein und streckt uns beinahe täglich aus der Zeitung sein bumsfideles Face entgegen. Also gut, Wontorra, dann schauen wir in Deine Autobiographie Halbzeit mit Helden – Geschichten, die der Fußball schreibt (Düsseldorf/München 1997) hinein, doch, tun wir glatt, wir haben wirklich nichts Besseres zu schaffen, und was lesen wir?

      Franz Beckenbauer »ist halt in der Zusammenarbeit mit uns Journalisten ein absoluter Profiund einfach auch ein netter Mensch. Er hat in dem Moment erkannt, daß ich etwas riskiere, einen unkonventionellen Weg gehe.« Yeah, Wonti! Du arbeitest echt unkonventionell, risikofreudig und journalistisch! Daß das nie zusammenpaßt, dämmert Dir freilich nicht. Du bist nämlich damit beschäftigt, Deine erbärmliche »Laufbahn« zu heroisieren, Deinen mutigen Kampf gegen Vorgesetzte, »kantige« Spieler und Funktionäre (»Rummenigge, der seine Denkanstöße so gleichmäßig verteilt wie weiland die Flanken«; »schon so manchem Verein hat Hoeneß das Herz herausgerissen«).

      Es war schwer, denn »ich galt bei meinem Eintritt in seine [Fritz Kleins] Redaktion als ausgewiesener Linker«, der es schließlich fertigbrachte, den Kaiser anzusprechen, ohne gefeuert zu werden: »Damals habe ich eine ganze Menge erfahren über den Menschen Franz Beckenbauer. Daß er einer ist, der es am liebsten wirklich jedem recht machen will, manchmal sogar gegen seine Überzeugung.«

      Wir haben das Buch von Mister »Mittlerweile duze ich auch Franz Beckenbauer. Aber dahin führte ein langer Weg« sogar wegen unserer Überzeugung einfach weggeworfen. Was Du, Wontorra, mit Deiner »Karriere« genauso machen könntest, oder? – Wutsch!

      Na bitte.

      Natürlich, sagte der ältere Mann, müsse man sonntags, am Nachmittag, hinaus zum Fußballplatz gehen, wolle man richtigen Fußball sehen, Fußball, der mit Einsatz, mit dem dieser Sportart eignenden Biß, mit Leidenschaft betrieben werde. Wenn die Leidenschaft fehle, brauche er sich ja gar keinen Fußball anzusehen, da könne er sonntags auch gleich zu Hause bleiben und einen Sonntagnachmittagsfilm schauen, erklärte mir der Mann.

      Am Rande des Dorfes lag der Platz des TSC. Hinter ihm erstreckten sich Äcker und Wiesen. Man blickte, über den gepflegten Rasen hinweg, gelehnt an ein rotes Geländer, auf vereinzelte Kiefernwälder. Hundert, manchmal zweihundert Zuschauer säumten das Feld. Vor der Turnhalle des Sportkomplexes konnte man Bier kaufen. Man grüßte, man plauderte, und man kannte die Aufstellung, weil sie der Trainer am Abend zuvor im Wirtshaus verraten hatte.

      Das würde wohl wieder nichts werden, war die verbreitete Meinung, der Abstieg sei schon zur Saisonmitte praktisch besiegelt. Selbst die Bruckdorfer hätten mehr Elan, mehr Pfiff. Wohin das führen solle. Seit ewigen Zeiten in der vierten Liga, und jetzt gehe es noch weiter hinab. Das werde nie mehr was, das könne man eigentlich vergessen und vor dem Anpfiff abhaken.

      Diese Wurst schmecke besonders gut, sagte der Mann neben mir, die habe er gestern, am Samstag, kurz vor eins noch schnell beim Metzger Neukam geholt und dann daheim in den Kühlschrank gelegt, und seine Frau, sagte der Mann, die immer nach dem Geld schaue, habe ihm kurz vor dem Spiel die noch ganz frische Wurst hier zu diesem Weck in die Tüte gesteckt und mitgegeben, denn er könne zwar hier, auf dem Fußballplatz, freilich auch sich eine Wurst kaufen und einen Weck und beides während des Spiels, während der ersten Halbzeit genaugenommen, verspeisen, und wahrscheinlich stamme diese Fußballplatzwurst hier wahrscheinlich auch vom Neukam oder sogar vom Konkurrenten Ströbel und schmecke daher so oder so nicht schlecht, aber ob diese Wurst vom Neukam geliefert worden sei oder eben, was er sich kaum vorstellen könne, vom Ströbel, das mache ihm, der sich seine Wurst von daheim mitbringe hierher zum Fußball, nichts aus, denn den Aufschlag von fünfzig Pfennigen müsse er weder dem Neukam noch dem Ströbel, wem und wie auch immer, in den Rachen schieben. Es sei doch ein leichtes, sich seine eigene Wurst, schön eingepackt in ein sauberes Butterbrotpapier und eine braune Papiertüte vom Bäcker Hammon, der sicherlich die wohl besten Wekken des ganzes Dorfes führe, Mohn, Sesam oder ohne alles, sich diese für die erste Halbzeit vorgesehene Wurst selber mitzubringen, zur Stärkung, verstehe sich.

      Denn erwartungsgemäß beginne die Heimmannschaft immer recht stürmisch, komme gut über beide Flügel, mit anfänglich, etwa in den ersten zwanzig Minuten, präzisen Flanken, erarbeite sich etliche Chancen, auch wenn es mit dem Abschluß meist durchaus nicht klappen wolle, und die Offensive entlaste so den traditionell anfälligen, ja schwachen Viererabwehrblock, aber spätestens nach Wiederanpfiff gerate die ganze Mannschaft ins Schwimmen und wakkele bedenklich, und dann müsse er, sagte der Mann, sich schon gestärkt haben, um das nervlich überhaupt durchzustehen. So eine Wurst, bis die ihre stärkende Wirkung entfalte, so eine Wurst müsse ja erst mal den angestammten Weg nehmen und verdaut werden, bis die wertvollen Inhaltsstoffe dieser sehr guten Wurst hier vom Neukam wirkten und er die Strapazen der zweiten Hälfte dann auch ertragen könne.

      Nun rannte sich der Neumeister Bernd bei einem der wenigen Angriffe des TSC wieder fest, und die Schwabacher drückten. Die grätschenden,