Jürgen Roth

Fußball! Vorfälle von 1996-2007


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Man weiß, wenn man sie abgeschrieben hat, nicht genau, ob sie an einen anderen Satz passen: akustisch. Das hört man erst im Studio. Ich habe dann oft einsehen müssen, daß es am Schneidetisch nicht so ging, wie ich wollte. Ich mußte viele eingeplante Sätze weglassen. Und dann hat man eben improvisiert, das ist klar, das ist kein Problem, wenn man eine so riesige Auswahl an Sätzen hat. – Die Transkriptionen waren ganz genau. Ich weiß nicht, wie viele Monate ich gebraucht habe. Ich bin fast wahnsinnig geworden in dieser Zeit, irgendwann hab’ ich’s dann aufgegeben, unter Zurücklassung großer Mengen von brauchbarem Material. Ich habe irgendwann gesagt: Es geht nicht mehr. Wenn du unter Kopfhörern sitzt, stunden-, tage-, wochenlang, dann pappst du zusammen, dann knickst du weg. Ab und zu steigst du ins Auto und fährst zum Hessischen Rundfunk, für zwei Stunden Schneidezeit; manchmal hatte ich Glück und konnte einen ganzen Nachmittag schneiden. So ist dann dieses lange Stück Die Stunde der Wahrheit entstanden. Es ist zu lang, und die Proportionen stimmen nicht. Eigentlich müßte man da noch mal rangehen und weiterschneiden. Aber das werde ich bleiben lassen.

      Ein Pionier? Ich? Na ja. Als ich das gemacht habe, im Rundfunk, hatte ich mein erstes Fußballbuch, Punkt ist Punkt, schon geschrieben. Ich war mir im klaren, als ich so ’66 damit anfing, daß ich ein Thema behandle, das literarisch noch ziemlich unberührt war. Unbearbeitet, ungebraucht. Ludwig Harig hat sich etwa zur gleichen Zeit damit befaßt [1966 wurde sein Hörspiel das fußballspiel urgesendet, das sich den militaristischen Konnotationen der Reportersprache widmet]. Ich habe mich allerdings jahrelang damit beschäftigt – sehr konsequent, neben meinen anderen Arbeiten. Es war so ein langsames Hineingleiten. Es war der Versuch, aus der Leidenschaft zum Fußball etwas zu entwickeln, was dann schließlich, ja, wenn man gnädig ist, sich in eine Art Kunstwerk verwandelt, in ein Sonett oder in eine Ballade oder in eine Geschichte oder in eine Textcollage.

      Zum Hörspiel bin ich relativ spät gekommen. Ich hätte ja als Radiomane, als den ich mich manchmal bezeichne, im Grunde ganz früh damit anfangen können. Ich bin als Achtundzwanzigjähriger Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk gewesen, aber ich habe mich eigentlich nicht für das damalige Hörspiel interessiert. Es wurden zu viele Theaterstücke ins Radio gequetscht, »eingesperrtes Theater« sozusagen. Ich dachte, das Radio müßte eigentlich andere Möglichkeiten haben. Jedenfalls wollte ich andere Möglichkeiten ausprobieren.

      Im Hörspielbereich gab es viele Traditionen. Aber eigentlich kaum das, was ich machen wollte. Ich bin nicht auf Widerstände gestoßen, aber auf Unverständnis, als ich da im Studio stand mit diesen unglaublich vielen Schnipseln und Spulen. Gelegentlich kam ein Redakteur und fragte: »Was soll denn das werden? Wie lange wollen Sie denn daran arbeiten?« Es gab auch die Befürchtung, daß mir die Fußballreporter übelnehmen könnten, daß ich einfach so mit ihren Sätzen umgehe. Daß ich sie als Material nehme. Daß ich einfach einen Satz von Oskar Klose nehme und dann einen Satz von Brumme oder Faßbender oder Hauffe, ohne zu fragen, ob ich das darf. Ich behaupte: Das darf ein Collagenmacher, er muß es dürfen.

      Die Reaktionen der Reporter waren übrigens absolut positiv. Im Rundfunk hatten Sportreporter damals oft das Gefühl, als würden sie von den Leuten des kulturellen Worts nicht so ganz ernst genommen. Und natürlich wollten sie ernst genommen werden, wer will das nicht? Sie waren ja viel berühmter als ihre kulturellen Kollegen, und für meine Begriffe waren sie auch die besseren Radioleute. Sie waren schnell, sie hatten die Fähigkeit, eindrucksvoll das zu schildern, was man nicht sehen konnte. Eine außerordentlich kreative Leistung, fand ich. – Und plötzlich kommt einer und bedient sich einfach dieser Kreativität. Es hätte vielleicht rechtliche Einwände geben können. Aber meine Partikel waren ja so winzig, und die Arbeit war so groß im Zusammenschnitt, und die Reporter waren zunächst wohl erstaunt darüber, daß jemand sich solche Arbeit macht, daß jemand derart penibel umgeht mit ihren Worten und Sätzen, um daraus etwas anderes zusammenzubauen. Wahrscheinlich hat ihnen das gefallen.

      Ja, und die Expertengespräche. Ich war oft am Riederwald mit dem Aufnahmegerät. Damals war Erich Ribbeck Trainer der Eintracht. Ich hab’ ihn gefragt, ob ich in der Spielerkabine Tonaufnahmen machen könne, vor dem Spiel, in der Halbzeitpause, nach dem Spiel. Eigentlich war das zu dieser Zeit unmöglich. Aber er hat ja gesagt. Er hat mir sehr geholfen. – Ich wohnte damals in der Nähe des Trainingsgeländes. Und wenn ich mir die Nagra umhing und morgens zum Riederwald ging, traf ich immer zwei Dutzend Experten mit Hut und Mantel, Rentner, die sahen so aus, als seien sie auf einem Sonntagsspaziergang. Aber sie brachten alles! Ich mußte mich nur dazwischen stellen und den Apparat anstellen – und los ging’s. Später bin ich auf die Tribünen gestiegen und bin mit den Fans zu Auswärtsspielen gefahren: in Bussen.

      Manchmal war das nicht ungefährlich. Einmal im Bus nach Schalke [am 5. Mai 1973] – am Anfang waren die Jungs ganz lieb und artig, sie haben mir von ihren Reisen erzählt und für mich gesungen. Ihre Gesänge brauchte ich für meine Stücke. Also: Die waren richtig nett. In Gelsenkirchen ging ich dann in die Schalke-Ecke, um dort Originaltöne aufzunehmen. Schalke gewann einsnull oder zweieins. Ich ging zurück in den Bus, und dann kam diese Gruppe – völlig alkoholisiert, teilweise blutbeschmiert, mit zerrupften Fahnen –, und sie kannten mich nicht mehr. Sie wußten wirklich nicht mehr, wer ich war. Ich war allein, zehn, fünfzehn Fans um mich herum, grölend, aber ich hab’ mich schon nicht mehr getraut, das Gegröle aufzunehmen. Ich hab’ mich ziemlich ruhig verhalten, und irgendwann sagt dann der eine, der Nette, der am Morgen für mich gesungen hatte: »Du, sag mal, wie haben wir eigentlich gespielt?« – Die wußten das nicht. Die sind damals, 1973, schon nicht so sehr wegen des Spiels hingefahren, sondern um sich mit Schalke-Fans zu kloppen. Ich hab’s ihm dann gesagt, einsnull verloren, und es hat ihn nicht weiter gestört, daß sie verloren hatten.

      In solchen Fällen sollte man eben zu zweit sein oder zu dritt, aber Eckhard Henscheid kannte ich damals noch nicht. Den hab’ ich erst 1974 kennengelernt. Wir haben sofort ein Interview zusammengebastelt: »Das ideale deutsche Mittelfeld«, das erschien in der FAZ. Wir haben den Titel geholt. Das ist klar. Er und ich. Ohne uns wäre Hölzenbein nämlich nicht aufgelaufen. – Oder?

      Jedenfalls, die Arbeit damals, das war Harakiri.

      Am 15. Mai, gut zwei Wochen vor dem Anpfiff zur siebzehnten Fußballweltmeisterschaft, erschien im Olympia-Verlag, Nürnberg, das kicker-Sonderheft WM 2002.

      Das 188 Seiten umfassende Magazin beeindruckt noch mehr als seine Vorgänger. Es vereint all die bewährten Stärken, die aus einer langen Tradition und einem umfänglichen Fachwissen erwachsen, und zugleich übertrifft es in Inhalt und Erscheinung sogar den Klassiker, das jährliche Bundesligasonderheft. Wenn der Verlag jenem Produkt stolz attestiert, »für Fußballfans mittlerweile zum echten Kult-Objekt geworden« zu sein, so darf man dem WM-Heft getrost eine mindestens ähnlich mächtige Aura bescheinigen, eine Qualität, die es bald zum begehrten Sammlerobjekt werden läßt.

      Sachliche Angemessenheit, journalistische Distanz, unbestechliche Urteile und Nüchternheit sind die Tugenden, derer sich kicker-Redakteure seit jeher befleißigen. Bereits der erste flüchtige Blick signalisiert, daß man auch bei der Fertigung des aktuellen Sonderheftes keinen Fußbreit von dieser Kardinalgesinnung abgewichen ist. Der Rückumschlag wird präsentiert von Krombacher, den Titel ziert auf erprobt rotem Hintergrund ein freigestelltes Bild des 1990er Weltmeisters Rudi Völler, der die »FIFA World Cup Trophy« in die Höhe stemmt – eine graphisch überzeugend prophetische Lösung, ein Eyecatcher bester, nämlich zweifellos unzweifelhaft eindeutiger Manier.

      Diese klare Linie setzt sich auf jeder Heftinnenseite konsequent fort. Der seiner unerbittlichen Formulierungskünste wegen geachtete Chefredakteur Rainer Holzschuh läßt gleichfalls keine Zweifel an der Bedeutung des kommenden Großereignisses aufkeimen. »Liebe Leser«, beginnt sein Editorial, »kein Zweifel: Die 17. Fußballweltmeisterschaft nimmt einen außergewöhnlichen Platz in der Fußball-Geschichte ein. Das erste WM-Turnier in Asien, das erste in einem neuen Jahrhundert, dazu das erste von zwei Gastgebern. Es ist der Reiz der Veränderungen«, öffnet er uns mit elliptisch hämmernden Sätzen Augen und Ohren für Aspekte, die wir wahrzunehmen bislang nicht den Mut besaßen, und diskutiert auf knappstem Raum und babyblauem Papier gewandt den