Kay Tetzlaff

Moderne Tauchmedizin


Скачать книгу

ließ auch die ersten maritimen Aktivitäten wie Schiffbau, Fischerei und Seehandel entstehen. Besonders begehrt waren bereits in der Antike Luxusartikel wie Perlen, Purpurschnecken (zum Färben von Prachtgewändern), Schwämme und heilkräftige Algen, die nur durch Taucher zu gewinnen waren. Sie praktizierten die älteste Form des Apnoetauchens, wobei einzelne Individuen durch Konstitution und Training sicherlich erstaunliche Tauchtiefen und -zeiten erreichen konnten. Homer beschreibt in der „Ilias“ die Eleganz des Tauchers beim Kopfsprung ins Wasser; bei der u. a. von Shakespeare beschriebenen Angeltour von Marc Anton und Cleopatra spielten Taucher eine wichtige Rolle und Aristoteles hat sich in seinen Schriften mit der Frage beschäftigt, wie der Taucher unter Wasser Luft mitführen könnte. Bei solchen Überlegungen spielten vornehmlich militärische Aspekte eine Rolle: Wie konnte sich jemand unerkannt einem feindlichen Schiff nähern und es dann z. B. durch Anbohren des Rumpfes versenken? In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass in der weiteren Evolution der Tauchtechnik durch die Jahrhunderte immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen und die Vorbereitungen dafür Anstoß zu Neuentwicklungen gaben. Das lässt sich bis heute für das „technical diving“ im Sporttauchbereich nachvollziehen.

      Dass sich in überlieferten Schriften abenteuerliche Berichte über Unterwassererlebnisse finden, ist eher orientalischer Fabulierkunst zur Verherrlichung der Herrscher als realer Technologieanwendung zuzuschreiben: So soll sich beispielsweise Alexander der Große in einer gläsernen Kugel mehrere Stunden unter Wasser aufgehalten haben …

      Es sind von den Ärzten jener Zeit keine medizinischen Beobachtungen über die gesundheitlichen Auswirkungen von Unterwasseraktivitäten überliefert worden, bis auf eine, die Eingang in die lateinische Umgangssprache fand: Dort wurde der Taucher als „urinator“ bezeichnet; die harntreibende Wirkung des Eintauchens ins Wasser war also schon im Altertum bekannt. Im Übrigen ist es nachvollziehbar, dass beim damaligen medizinischen Kenntnisstand keine im heutigen Sinne physiologischen, d. h. funktionsorientierten Erkenntnisse zu gewinnen waren.

      1.2 Das Mittelalter

      Kaum eine menschliche Aktivität ist solchen extremen Interaktionen von physikalischen Gesetzen und physiologischen, also körperlichen Antworten darauf, unterworfen wie das Tauchen. Solange die Naturwissenschaft sich nicht emanzipiert hatte und das Experiment an die Stelle mystischen Hokuspokus getreten war, konnte man keinen Erkenntnisfortschritt erwarten. Auch die Medizin war weit davon entfernt, ein überzeugendes und nachprüfbares Bild vom Inneren des Menschen zu besitzen, noch viel weniger von den Funktionszusammenhängen der einzelnen Organe. Und so sind aus dieser Zeit allerlei Mythen und Heldensagen von Tauchern überliefert, auch zunehmend aus dem nordischen Raum, die sich durch die Jahrhunderte erhalten haben, jedoch keinen Beitrag zur Klärung medizinischer Zusammenhänge leisteten.

      1.3 Das Zeitalter der Entdeckungen

      Seit der Entdeckung Amerikas öffneten sich neue Horizonte für die Menschen Europas; Forschung wurde nicht mehr verteufelt, und die Medizin machte sich auf, mit wissenschaftlichen Methoden den Menschen zu entdecken und die Geheimnisse seiner Organsysteme zu entschlüsseln. Es war dem Physiker Boyle vorbehalten, im Jahre 1660 bei Tierexperimenten mit der gerade erfundenen Luftpumpe eine Zufallsbeobachtung zu machen, die im Nachhinein dem Formenkreis der neurologischen Dekompressionserkrankungen zuzurechnen ist: Im Auge einer kleinen Schlange, die er in einem Glaskolben einem erheblichen Unterdruck ausgesetzt hatte, beobachtete er eine sich bewegende Blase, während sich das Tier wie in Krämpfen wand. Als gewissenhafter Forscher verzeichnete er diese Beobachtung, konnte aber keine Erklärung dafür liefern. Erst 200 Jahre später wurde diese Textstelle für einen deutschen Mediziner Ausgangspunkt für eine schlüssige Erklärung der Dekompressionsproblematik. Ein Ergebnis der Forschungen von Boyle ist jedoch jedem Taucher präsent: Der reziproke Zusammenhang zwischen Umgebungsdruck und einem eingeschlossenen Volumen wird bei jedem Abtauchen und Wiederauftauchen eindrucksvoll, z. B. im Mittelohr, demonstriert.

      1.4 Kolonialismus und Bergungstaucher

      Der einsetzende Kolonialismus, d. h. die Ausbeutung der gerade entdeckten überseeischen Länder durch die europäischen Seefahrtsnationen, bewirkte im Nebeneffekt die Entstehung der eigentlichen Berufstaucherei. Es kam immer wieder zu Schiffsverlusten auf unbekannten Riffen und an nebligen Küsten, bei denen die oft sehr kostbare Ladung aus Übersee nicht dem Meer überlassen werden sollte. Zunächst mit den überlieferten Verfahren des Apnoetauchens versuchten wagemutige Männer, gegen hohe Prämien aus den relativ geringen Tiefen alles zu bergen, was sich zu Geld machen ließ oder für den Schiffsneubau zu gebrauchen war. Bald suchte man dann aber nach Methoden, die Einsatzdauer unter Wasser zu verlängern, und erprobte verschiedene Methoden, atembare Luft mitzunehmen oder nach unten zu schaffen. Am erfolgreichsten war dabei die Methode des englischen Astronomen Halley, der im Jahre 1690 ein glockenförmiges, unten offenes Holzfass mit Gewichten beschwerte und auf den Boden der Themse absenkte, wobei er und zwei weitere Männer aus der in dieser „Taucherglocke“ gefangenen Luft atmen konnten (Abb 1.1). Mittels kleinerer bleibeschwerter Fässer wurde immer wieder neue Luft von oben herabgelassen und in die Glocke entleert.

      Abb. 1.1: Der englische Naturforscher Edmund Halley gilt als Erfinder der Taucherglocke (1690)

      Die von den Männern berichteten Schmerzen in den Ohren stießen als Laienbeobachtungen in der örtlichen Ärzteschaft allerdings nicht auf weitergehendes Interesse.

      Hinweis. Bei der Betrachtung der historischen Wechselbeziehungen zwischen Medizin und Tauchen ist bis heute immer wieder festzustellen, dass die medizinische Wissenschaft nur in ganz seltenen Fällen von sich aus Interesse an den pathophysiologischen Fragestellungen der Überdruckexposition zeigt. Nur wenn das öffentliche Interesse sich an gehäuften Zwischenfällen entzündete oder wenn militärische Fragestellungen unaufschiebbar waren, fanden sich Wissenschaftler, die sich mit einzelnen Aspekten dieser besonderen Arbeitsumwelt befassen mochten. Valsalva hat 1704 das nach ihm benannte Manöver nicht etwa für Taucher erfunden, sondern um bei Kindern mit Mittelohrentzündung nach Durchlöchern des Trommelfells den Eiter herauszublasen …

      1.5 Verkehrswege und Druckluftarbeiter

      Mitte des 19. Jahrhunderts nahm eine neue Technologie einen enormen Aufschwung, die letztendlich das Prinzip der Taucherglocke aufnahm und ins fast Gigantische steigerte: Die Caissontechnik ermöglichte es, unter Wasser trockenen Fußes z. B. Gründungspfeiler für Brücken über tiefe und breite Gewässer zu bauen, die für die Verkehrserschließung der alten und der neuen Welt erforderlich waren. Nachdem ein französischer Bergwerksingenieur bei einer überschwemmten Kohlengrube dieses Verfahren erfolgreich eingesetzt hatte, finden sich bei Pol und Watelle (1854) die ersten medizinischen Erörterungen über einige der dort aufgetretenen Probleme, wie die Einwärtswölbung der Trommelfelle und die Möglichkeit, den auftretenden Schmerz verschwinden zu lassen, die Verlangsamung der Pulsfrequenz, die druckfallbedingte Abkühlung der Schleusenluft und die erste Selbstbeschreibung von tagelang anhaltenden Gelenkbeschwerden. Es wurden kurze Zeit danach auch die ersten unerklärbaren Todesfälle bei den französischen Bergleuten, die in Überdruck gearbeitet hatten, beschrieben.

      Angeregt von diesen Publikationen, unternahm der deutsche Physiologe Hoppe dann Tierexperimente, die Boyle schon vor ihm durchgeführt hatte, nur dass Hoppe daraus die richtigen Schlüsse zog: Er publizierte 1857 die noch heute gültige These, dass die Druckerniedrigung im Organismus Gasblasen freisetzen kann. Diese bewirken je nach Lokalisation unterschiedliche klinische Symptome, die durch erneutes Verbringen in Überdruck zum Verschwinden gebracht werden können. Trotzdem dauerte es noch vier Jahrzehnte, bis dieser Gedanke in der Caissonpraxis angewendet wurde. In der Zwischenzeit verloren viele Druckluftarbeiter ihr Leben oder fristeten ihr Dasein als Krüppel, so beim Bau der Mississippibrücke in St. Louis oder in New York, wo die örtlichen Druckluftärzte keine Vorstellung von der Entstehung oder der Behandlung der damals „Caissonkrankheit“ genannten Gesundheitsstörung hatten. Diese Baustellen brachten allerdings einen Begriff hervor, der heute jedem Sporttaucher geläufig ist: Wegen der gebeugten Schonhaltung, mit der die befallenen Arbeiter die Personenschleuse verließen und die an die damals angesagte Damenmode „(Grecian) Bend“ erinnerte, wurden sie von ihren Arbeitskameraden mit diesem Ausdruck verspottet, der heute im angelsächsischen Sprachgebrauch nicht nur für die