Kay Tetzlaff

Moderne Tauchmedizin


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      Abb. 1.2: Eine Damenmode des 19. Jahrhunderts war Namensgeberin für die klassische Dekompressionspathologie

      In Norddeutschland wurden bei diversen Caissonprojekten wissenschaftliche Untersuchungen angestellt, und die Kieler Universitätsklinik trat unter Professor Quincke im Jahre 1889 mit einer ersten Doktorarbeit über die so genannte Druckluftlähmung an die Fachöffentlichkeit.

      1.6 Höhenflüge und Sauerstoff

      Zur gleichen Zeit zogen in Frankreich bei den sehr beliebten Ballonfahrten die unerklärlichen Zwischenfälle, die sich ereigneten, wenn bestimmte Höhen erreicht waren, das Interesse der Öffentlichkeit auf sich. Nachdem es dabei zu Todesfällen gekommen war, nahm der Inhaber des Physiologie-Lehrstuhls an der Pariser Sorbonne sich des Problems an. Paul Bert fand schnell heraus, dass es nicht die bloße Druckabnahme in der Höhe war, die sich lebensgefährlich auswirken konnte, sondern dass die damit einhergehende Abnahme des Sauerstoffpartialdrucks für die eintretende Bewusstlosigkeit verantwortlich war. Nach seiner nahe liegenden Empfehlung, bei solchen Aufstiegen Sauerstoff in Glasflaschen mitzuführen und aus ihnen in der Höhe zu atmen, stellte er sich der Frage, wie denn Sauerstoff im Überdruck auf den Organismus wirken würde. Das Fazit seiner Experimente in Druckkammern an verschiedenen Tierspezies und auch an sich selbst war die heute allgemein nach ihm benannte zentralnervöse generalisierte Krampfneigung, ähnlich dem epileptischen Anfall. Es muss allerdings herausgestellt werden, dass die Drücke, mit denen diese Symptome erzeugt wurden, sich in Bereichen bewegten, die sehr unrealistisch waren (zum Teil bis über 8 bar mit fast reinem Sauerstoff). Daher haben seine Ergebnisse für über hundert Jahre die tauchmedizinische Forschung eher nachteilig beeinflusst, weil die daraus abgeleitete Sauerstoffphobie, zusammen mit der Erhöhung des Brandrisikos, die segensreiche Nutzung des Sauerstoffs als Dekompressionsgas, vor allem in der Druckluftarbeit, bis heute in vielen Ländern ausschließt.

      1.7 Die Royal Navy wacht auf

      In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die entscheidenden Impulse für die ärztliche Beschäftigung mit Fragen der Überdruckexposition von der Anwendung der Caissontechnik ausgegangen. Zum einen hatte man die Baustellen praktisch vor Augen, während das Geschehen auf See wenig Aufmerksamkeit erhielt; der Hauptgrund war allerdings die Dosisabhängigkeit der Caissonkrankheit. Das Ausmaß der Übersättigung ist abhängig vom einwirkenden Druck und der darin verbrachten Zeit. Zwar waren die Caissonarbeiter im Allgemeinen in geringeren Drücken als die Taucher beschäftigt, aber ihr Arbeitstag war deutlich länger, so dass die Menge des aufgenommenen Stickstoffs für die Auslösung des bekannten Spektrums an Symptomen ausreichend war. Erst als die in der Taucherei üblichen Handpumpen durch mechanisch angetriebene Kompressoren ersetzt wurden und die Möglichkeit, Druckluft in eisernen Flaschen aufzubewahren, den Tauchern deutlich größere Einsatztiefen und eine längere Verweildauer ermöglichten, kam es um die Wende zum 20. Jahrhundert in Großbritannien zu einer Häufung von Taucherkrankheiten, die man bis dahin nur aus der Caissonarbeit kannte. Der Anlass dafür war ein militärischer: Die Erprobung des Torpedos als Unterwasserwaffe führte zu zahlreichen Verlusten dieses teuren Geräts in erheblichen Wassertiefen, so dass die Marinetaucher in bis dahin für unerreichbar gehaltene Drücke absteigen mussten.

      Der englische Marineminister beauftragte seinen Bruder John Haldane, den berühmtesten britischen Physiologen seiner Zeit, mit einem umfangreichen Forschungsprogramm zur Aufklärung dieser Zwischenfälle und der Ausarbeitung von Präventionsmaßnahmen. Dafür standen ihm fast unbeschränkte Mittel an Menschen und Material zur Verfügung. Ausgehend von der täglichen Tauchererfahrung, dass ein Aufenthalt bis maximal etwa 10 m Wassertiefe nach dem Auftauchen keinerlei Gesundheitsprobleme auslöste, und zwar unabhängig von seiner Dauer, postulierte Haldane, dass der menschliche Organismus offenbar eine Halbierung des Umgebungsdrucks toleriert, ohne dass klinisch fassbare Symptome auftreten.

      Haldane war der Erste, der den Körper in fünf fiktive Kompartimente mit unterschiedlich langen „Halbwertszeiten“ einteilte, und schuf auf dieser Basis die ersten Austauchtabellen, wobei die stufenweise Dekompression im Vergleich zur linearen sich als praktikabler erwies. Die von ihm gewählte Einteilung in 10-Fuß-Abstände findet sich noch heute weltweit; im deutschen Sprachraum wurde sie in 3-Meter-Stufen umgerechnet. Er testete diese Tabellen zunächst in einer Druckkammer mit Ziegen (Abb 1.3), nachdem sich Hunde als ungeeignet herausgestellt hatten (sie simulierten Bends, weil sie gelernt hatten, dass sie dann aus den Tests herausgenommen wurden), und setzte die Erprobungen danach mit Navy-Tauchern im offenen Wasser in seiner schottischen Heimat fort. Die Aussagekraft dieser Expositionen bleibt indes fragwürdig, weil es sich um ausgesuchte, d. h. positiv selektionierte Taucher handelte, die unter Wasser keine Arbeit im physikalischen Sinne verrichteten, sondern mit dem Kran abgesenkt und nach einer bestimmten Zeit unter Einhaltung der vorher festgelegten Stufen wieder aufgewinscht wurden. Sofern sich bei mehreren Tauchern dabei gesundheitliche Störungen zeigten, wurden die Zeiten entsprechend modifiziert. Die Tabellen reichten bis in eine Wassertiefe von knapp 70 m, wofür nach einem Aufenthalt von maximal 12 min eine Dekompressionsdauer von 32 min vorgesehen war. Die US-Marine wiederholte diese Tests 10 Jahre später vor Hawaii; als Ergebnis wurde das erste U.S. Navy Diving Manual veröffentlicht, das jahrzehntelang auch für die internationale Berufstaucherei Maßstäbe setzte. Einer davon war die in den Tabellen vorgeschriebene maximale Auftauchgeschwindigkeit von 18 m pro Minute, die keiner wissenschaftlichen Überlegung entsprang, sondern durch die Leistung des verwendeten Bordkrans von 60 Fuß/min vorgegeben war (Abb 1.4).

      Abb. 1.3: Versuchstiere leisteten einen entscheidenden Beitrag zur Erprobung der ersten Austauchtabellen (Haldane 1908)

      Abb. 1.4: Erprobung der US-Navy Diving Tables (1915): Der Bordkran benötigte eine Minute für 60 Fuß = 18 Meter

      1.8 Hundert Jahre medizinische Tauchforschung

      Die technischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Überdruckexposition hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts viele medizinische Fragen aufgeworfen, die nur ansatzweise von der Wissenschaft geklärt werden konnten. Es handelte sich ja im weitesten Sinne um arbeitsmedizinische Herausforderungen, denn es ging um den Schutz der Taucher und Druckluftarbeiter vor den gesundheitlichen Risiken und Folgen ihrer Tätigkeit. Nur wer sich exponierte, war gefährdet; aber die Arbeitswelt war schon damals voller Gefahren, und die Aufgeschlossenheit der wissenschaftlichen Medizin gegenüber diesen Fragen war wenig ausgeprägt.

      Allerdings gilt dies nicht für den Bereich der militärischen Taucherei: Hier wurde von den führenden seefahrenden (englischsprachigen) Mächten schon früh in Forschung investiert; nicht zuletzt trug die zunehmende Bedeutung der UnterwasserKriegsführung dazu bei. Während im gewerblichen Bereich die gesundheitlichen Voraussetzungen für Berufstaucher nur vage definiert waren, ging es bei der Frage der militärischen „Tauglichkeit“ um die Vorhersage künftiger Bewährung bei bestimmten Einsatzanforderungen.

      Die führende Position der US-amerikanischen Marine zeigt sich schon an der Aufzählung wichtiger Entdeckungen und Verfahren, die seit den zwanziger Jahren weltweiten Einfluss hatten:

      ■ 1919: Erprobung von Helium als Inertgas zur Verringerung des Atemwiderstands in großen Tiefen;

      ■ 1931: Erkennung der arteriellen Luftembolie als eigenständiges Krankheitsbild (Folge der Lungenüberdehnung bei U-Boot-Rettungsübungen);

      ■ 1935: Aufklärung des Phänomens „Tiefenrausch“ als stickstoffinduziert durch den US-Marinearzt Behnke (noch in den Sechzigern beharrte der führende deutsche Anästhesiologe [Prof. R. Frey] öffentlich auf der konkurrierenden CO2-Theorie);

      ■ 1936: Anwendung von Sauerstoff bei 2 bar Überdruck als Therapiegas bei der Rekompression von Bends;

      ■ 1939: operativer Einsatz von Helium zur Vermeidung der Stickstoffeffekte bei Einsätzen über 70 m mit Sauerstoffdekompression im Wasser;

      ■ 1957: Formulierung des Prinzips „Sättigungstauchen“ durch