dreifachen Sinn: verneint, bewahrt und höhergehoben.
1. Erinnerung an den bleibenden Ursprung: Die archaische Struktur
Der Ausdruck „archaisch“ ist wörtlich zu nehmen, abgeleitet von arché, was heißt: Ursprung, raum- und zeitfreier Anfang, die Beherrschung, die sich in aller kommenden Veränderung prinzipiell durchhält. Die schöne lateinische Unterscheidung von principium und initium benennt mit Prinzip den bleibenden Ursprung, während initium den zeitlichen Beginn und Startpunkt meint, der dann verschwindet. Daher ist der Beginn des Johannesprologs richtig zu übersetzen mit „Im Anfang (en archè) war das Wort“ und nicht „Am Anfang“; dasselbe gilt für das erste Wort der Bibel: „Im Anfang (bereshit) schuf Gott Himmel und Erde.“
Dieser dauernde Ursprung markiert also nicht einen Zeitpunkt oder eine Frühgeschichte, die sich archäologisch mit dem Spaten ausgraben ließe. Vielmehr sprechen mythische Zeugnisse von einem Ur-Menschen in einem bildhaft ausgeschmückten Paradies als der wahren Wirklichkeit des Menschen, die nicht mit der raumzeitlichen Geschichte zu verwechseln ist. Traumhaft erfahren und gewünscht, U-Topos und U-Chronos, meint dieser herrschende Ursprung eine wunderbare Ganzheit des Menschen, mit dem All, mit sich selber, mit dem Göttlichen. Dieser „eigentliche“ Mensch sieht das All nicht sich gegenüber, weiß sich vielmehr in ihm eingeborgen. Hildegard von Bingen hat in De operatione Dei (1170 – 73) diesen „Kosmosmenschen“ zeichnen lassen: Luft und Wasser, Planeten und Winde, Feuerkreise schließen ihn nicht nur ein, umgekehrt durchdringt er alles, hält das Weltnetz mit den Elementen in Händen, selbst eingekreist vom göttlichen „Urlebendigen“.4 Auch das mythische „Weltei“5 mit seiner alles einbergenden Ganzheit dient als Bild eines uterinen Zustandes; Erde und Himmel werden noch ursprünglich in eins gesehen. Aus China liegt ein merkwürdiges Zeugnis von Dschuang Dsi vor: „Die wahrhaften Menschen der früheren Zeit schliefen traumlos.“6 Noch gibt es kein Gegenüber, nicht einmal als Traum-Spiegelung – im Anfang steht nach den Ursprungsmythen ein reines Ein-und-Alles. Erst später treten Innen und Außen, Seele und Himmel auseinander, wie Platon es kennzeichnet: „Die Seele (. . .) ist zugleich mit dem Himmel (entstanden).“7 Nietzsche, der den Weg dieser Trennung zurückzugehen sucht, formuliert: „Oh Himmel über mir, wann trinkst du meine Seele in dich zurück!“8
Auch für Frau und Mann gilt „eigentlich“ eine unlösbare Bezogenheit, ja ein Noch-Nicht-Unterschiedensein, wie es in dem starken Bild des platonischen Symposions vom „Kugelmenschen“ aus Mann und Frau erscheint. Darin wird besonders deutlich, dass es nicht im Geringsten um eine anatomische Aussage, ein historisches „Früher“ geht, das sich vielleicht mit einem ausgegrabenen Skelett erweisen ließe; es geht vielmehr um das innerste Empfinden, dass das Geschlecht etwas Zweitrangiges gegenüber einer ursprünglichen Ganzheit sei, hängt doch auch das deutsche Wort Geschlecht mit Geschlachtetsein zusammen. In die Empfindung einer Ganzheit gehören die Bilder vom Hermaphrodit, vom Androgyn, von der Venus barbata; in dem biblisch vertrauten Bild aus dem älteren Schöpfungsbericht (Gen 2) wäre es Adam vor der Abtrennung Evas.
Ebenso gilt das Verhältnis von Gott und Mensch als ungestört, noch nicht vom Fall aus der Einheit zerrissen: Beide ergehen sich im biblischen Anfang im selben Garten Eden, mehr noch: Im jüngeren Schöpfungsbericht von Gen 1 entstehen Adam und Eva zeitgleich; sie sind Ebenbild, zutiefst verwandt, zutiefst Sohn und Tochter. Unzählige Mythen aus anderen Kulturen beziehen sich ebenfalls auf eine fraglose Einheit: entweder auf die Abstammung der Menschen von den Göttern oder auf ihren gemeinsamen Ursprung.9 Die Auflistung göttlicher Vorfahren gehört schlechthin zur Kennzeichnung von Herrschern und Helden; auch der Besuch der Götter auf der Erde, insbesondere bei den Menschenfrauen, drückt noch in seinen spätesten Überschreibungen dieselbe Gewissheit einer Ursprungseinheit aus.
2. Magie und Macht, das Mütterliche und das Numinose: Die magische Struktur
Eine geschichtlich greifbare – in vormodernen Gesellschaften heute noch in Resten wirksame – Stufe stellt das magische Lebensgefühl dar. Hier erfährt sich der Mensch bereits als herausgefallen aus dem Einklang mit dem All, freilich sucht er sich in ritueller Beschwörung wieder mit ihm zu vereinen und den heimlich-unheimlichen Mächten anzuschließen: Ausgeliefert sucht er nach magisch beförderter Bergung. Denn Welt steht ihm bereits schemenhaft, später immer genauer als geheimnisvolle, schwer durchdringliche Gegenmacht gegenüber. Freilich ist noch nicht von einem Erkennen im Ganzen die Rede, vielmehr wird diese Macht in bestimmten Punkten verdichtet erlebt, an heiligen Orten, zu heiligen Zeiten, in Gegenständen, die ein Ganzes versinnbildlichen (pars pro toto: in Amulett, Totem, magisch besetzten Symbolen).
In solchen frühgeschichtlichen Kulturen ist das Ich noch unzentriert und kaum ausgebildet; es erfährt sich spiegelmäßig im Außen, überträgt sich auf ein Gegenüber und hängt vom projizierten Abbild ab: vom Spiegelbild im Wasser, von einem dem Clan zugeordneten Tier, einer bestimmten Pflanze. Die Wir-Identität der Gruppe wird durch äußere Merkmale hergestellt und häufig in einem Gruppensymbol gesichert. Dabei herrschen Ichlosigkeit ebenso wie Einbindung ins Gruppen-Wir. „Älter ist an der Herde die Lust als die Lust am Ich.“10 Aufschlussreich ist die magische Möglichkeit, einen Feind über das Spiegelbild zu töten: entweder durch das Beerdigen einer Puppe – eine Zeremonie, während der die abgebildete Person tatsächlich oder „sozial“ stirbt11 – oder durch das Zerschlagen des Spiegelbildes im Wasser. In diesen Zusammenhang einer Daseinserfahrung von außen gehören die abergläubischen Annahmen offener Übergänge in andere Lebewesen, der Auf- und Abstieg in Verwandlungen nach „unten“ und nach „oben“, in ein Tier, den „Werwolf“ etwa, in Pflanze, Stein oder in einen Dämon.12 Solche gleitenden Metamorphosen entsprechen zutiefst dem Empfinden der Seelenwanderung und später der Wiedergeburt: Sie erklären sich aus einem unzentrierten Dasein, das sich durchaus noch nicht in einer (meiner) Seele erfährt, sondern das Leben in verschiedenen Gestaltungen und noch ohne klare Formgebung ablaufen sieht. Wiederum hängen die unbewussten, aber als „normal“ geltenden Formen der Kommunikation wie Telepathie, Telekinese damit zusammen: Es sind gleichsam „Abstrahlungen“ eigener Vitalität – auch Letalität! – nach außen. Je später diese Stufe wird, desto nachhaltiger zeigen sich Befreiungsversuche aus der Einbindung, ja Bannung durch Natur und Gruppe: Es geht um Macht und den Kampf um Macht. Magie hängt etymologisch in der Wurzel magh mit machen, Mechanik, Maschine, Macht zusammen.
Das erwachende Ich stellt sich zunächst gegen die Natur, je länger, je mehr auch gegen die Gruppe: Es beginnt zu handeln und selbst zu bannen in Zauber, Fluch, Tabu, Beschwörung, Segen, Ritus. Auch die allgegenwärtige Numinosität wird gebannt oder verfügbar gemacht, durch das Einweisen in bestimmte Orte, Zeiten und Gegenstände, und der Macht bestimmter Rituale unterworfen. Trieb und Instinkt – noch nicht Bewusstsein! – verdichten sich zu einem naturhaft vitalen oder letalen Wollen, zu einer Übertragung von libido.
In Abbildungen früher Zeit fehlt vielfach der Mund, stattdessen erscheint in Andeutungen eine Aura oder Ausstrahlung um den Kopf oder den ganzen Leib13 – Zeichen jenes eigenartigen vitalen Kontaktes mit der Außenwelt. Übrigens ist auf die Betonung des Ohres als des frühen Organs hinzuweisen14: Die deutsche Wortfolge hören, gehören, gehorchen, hörig sein, gibt, gerade in letzterem Wort, jene unbedingte Bindung an das gehörte Außen an, die beispielsweise auch für Ekstase durch Rhythmus und Heilung durch Besprechen Voraussetzung ist.
In breiter Fülle ist belegt, dass diese magische Welt nicht nur auf Erde, sondern ebenfalls auf Mond und Nacht bezogen ist. Nicht allein weil sich das Leben vorwiegend in der lichtlosen Höhle, der fensterlosen Hütte, im Dämmer des Urwaldes vollzieht, sondern weil die Nacht auch Schutz bietet, weil an den Mondphasen und der Sternenwanderung die erste Zeitbestimmung möglich wird (Mond und Monat hängen etymologisch zusammen), weil vom Mond die Fruchtbarkeit der Erde abhängt – ein unerhört reiches Netz von Bezügen spannt sich von der Erde zu Nacht, Mond und Sternen.15 Das Lebensgefühl dieser zeitlosen Zeit sitzt noch unbedingt im Bauchraum: in den Eingeweiden und Genitalien und dem Mutterschoß. Wenn die Psalmen die „Eingeweide der Barmherzigkeit Gottes“ (viscera misericordiae Domini)