wird durch den gegenfarbigen Pol der beiden Hälften.41
Für die Geschlechter gilt vorwiegend ein polares Gleichgewicht von Mann und Frau; so in der klassischen Formulierung von Laotse im Tao Te King: „Das Männliche liebt das Weibliche. Yin umarmt Yang, und zehntausend Dinge leben in Harmonie durch die Verbindung dieser Kräfte.“42 Doch sind diese Kräfte ebenso gleichgewichtig wie deutlich unterschieden und getrennten Aufgaben zugeordnet. Ein chinesischer Mythos kennzeichnet die Aufgaben von Kaiser und Kaiserin folgendermaßen: Die Welt des Kaisers ist der Tag; er herrscht von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. In dieser Sonnenzeit nimmt er die Truppenschau ab, spricht Recht, erlässt Gesetze, unternimmt Verteidigung oder Angriff, lässt Kanäle bauen – mit einem Wort, er ist zuständig für Handlung im Sinne von Veränderung. Mit Sonnenuntergang beginnt das Reich der Kaiserin: Ihre wesentliche Aufgabe lässt sich überhaupt nicht bestimmen. In der ihr zugehörigen Nacht kann sie schlafen, dichten, musizieren, mit einem Wort: Sie hat nur da zu sein im Sinne von lebendiger Richtigkeit. Ist sie nicht „richtig da“, dann allerdings kommt es zu elementaren Katastrophen: Es regnet nicht oder zu viel, die Pflanzen sterben, die Frauen bleiben unfruchtbar, die Feinde brechen über die Grenzen, die Jahreszeiten geraten durcheinander. Ihre Zuständigkeit ist der Kosmos, dessen Gesetze sie durch ihr Dasein in Ordnung hält; die Zuständigkeit des Kaisers ist das Leben im Detail, das der Entscheidungen bedarf, aber nicht an die kosmische Selbstverständlichkeit heranreicht. In dieser Gegenüberstellung ist die Welt immer noch primär durch die Frau im Lot; dennoch hat die Erfahrung gezeigt, dass aus beiden Hälften, dem jeweilig Handelnden und der reinen Stimmigkeit des Daseins, das ganze Leben besteht.
Ein anderes, aber gegenteiliges Beispiel: Im Schachspiel kämpft die Dame, der König bleibt fast untätig, ja er wird vom Einsatz der Dame geschützt. Dieses Gegenbeispiel darf aber nicht unter dem Zeichen des Widerspruchs gesehen werden; strukturell handelt es sich um dasselbe polare Empfinden zweier Hälften, die in Spannung zueinander und aus Gegenrichtungen kommend sich zum Einen des Lebens ergänzen.
So entsprechen in den Abenteuern der Helden auch Heldinnen notwendig der Herausforderung des Schicksals. Nausikaa, Penelope, Brunhilde, Ariadne, Isolde stellen unterschiedlichste Gestalten vor, die ihren Helden gleichwertig gegenübertreten und einen Gegenpol zum Mann bilden. Nicht selten kommt es zu einem Wettkampf von höchst merkwürdiger Verflechtung: Brunhilde, stärker als Siegfried, fordert ihn zum Dreikampf heraus, den er nur durch List gewinnt – andererseits wird sie von ihm zuvor aus der Brünne herausgeschnitten, von ihm als ihrem Erlöser. Noch in den späten Aventuren der Artusrunde herrscht diese eigenartige Verflechtung der Geschlechter: Aufeinander angewiesen, kämpfen sie doch um die Macht. Sir Gawan hat auf Tod und Leben das Rätsel zu lösen, was den Frauen das Allerliebste auf der Welt sei. Wieder nur mit List erschleicht er sich die Lösung von Dame Ragnell: „Was wir vor allem anderen von Männern wünschen, das ist: sie zu beherrschen.“43
Überhaupt das Rätsel: Auf Tod und Leben fragt die Sphinx Ödipus, fragt Turandot ihre Freier. Wer die Antwort nicht findet, hat verloren: Das Leben und die Frau, beides ist ihm bestimmt, beides steht aber nicht einfach zur Verfügung, im Gegenteil, dem Mythos gemäß ist es nur durch List zu lösen. Und dennoch: Wird es nicht gelöst, ist das eigene Dasein verscherzt. Die Frau als Rätsel und Verheißung des Mannes – eine unentwirrbare, ebenso bedrohliche wie beseligende Erfahrung, die erst in den späten Märchen notwendig gut ausgeht. Frühe Mythen, etwa das Nibelungenlied oder auch die Geschichte der Turandot, enden mit der Bluthochzeit: dem Sichfinden im Untergang, auf dem „Scheiterhaufen“44, manchmal im „Verbrechen“45. Kampf und Erlösung, beides gegenseitig gemeint, bleiben offen für Sieger oder Siegerin: Die Geschlechterbeziehung kennt Beispiele für beide Möglichkeiten.
Neben der erotischen Herausforderung wird eine weitere Bestimmung des Frauseins wichtig: die doppelte Möglichkeit eines Lebens als Mutter oder Jungfrau. Gerade im Dasein der Jungfrau sieht die mythische Tradition eine Ich-Gewinnung, unabhängig vom Mann, gleichgewichtig zu seiner Selbstständigkeit – freilich nur im Rahmen bestimmter Aufgaben: der Priesterin, der Prophetin, der Sibylle. Die mythische Überlieferung von dem Einhorn, das nur von einer Jungfrau gebändigt werden kann, von dem Schiff, das tiberaufwärts von Ostia bis Rom von einer Vestalin mit Leichtigkeit gezogen wird, während hundert Ruderer es nicht von der Stelle schaffen können – diese eigenartige Gewalt der Jungfräulichkeit drückt sich im Mittelalter noch in der Rechtsform jungfräulicher Lösegewalt für Verbrechen aus. Vom Galgen weg konnte eine Jungfrau den Verbrecher durch Heirat begnadigen, im Sinne eines Naturrechtes, dem gegenüber das positive Recht ungültig wurde.46 Es lässt sich fragen, ob dieses Bild der Jungfrau nicht bereits zum magischen „Untergrund“ sakral verstandener Weiblichkeit gehört; dies ist sogar zu vermuten. Dennoch hat die mythische Ausformung, im Sinne der genannten Entsprechung zweier Hälften, die beiden Möglichkeiten des mütterlich gebundenen und des jungfräulich freien Lebens in ihrem notwendigen Zusammenhang entfaltet.
Je länger, je mehr bilden sich für die beiden „Hälften“ Mann und Frau gleichsam feststehende Eigenschaften heraus, die in der Folge als unverrückbare geschlechtliche Merkmale verstanden wurden. So hat etwa die Romantik folgende Zuordnungen entwickelt47:
Mann | Frau | |
außen | innen | |
Weite | Nähe | |
Öffentlichkeit | Haus und Familie | |
Energie, Wille | Schwäche, Hingebung, Ergebung | |
Festigkeit | Wankelmut | |
Tapferkeit, Kühnheit | Bescheidenheit | |
selbstständig | abhängig | |
erwerbend | bewahrend | |
gebend | empfangend | |
Durchsetzungsvermögen | Selbstverleugnung, Anpassung | |
Gewalt | Liebe, Güte | |
Geist | Gefühl, Gemüt | |
Denken | Rezeptivität | |
Wissen | Religiosität | |
Würde | Anmut, Schönheit |
In dieser späten Festschreibung ist die Polarität mythischer Geschlechtererfahrung nicht nur schematisch geworden, sondern, zumindest unterschwellig, bereits aus der Gleich-Gültigkeit herausgetreten. Dies darf jedoch nicht dem mythischen Ansatz als solchem angelastet werden, in dem in der Tat weder Unter- noch Überordnung, eben deswegen auch noch keine Wertigkeit der beiden Hälften gegeben schien, sondern die Notwendigkeit der Spannung des Daseins zwischen zwei Polen zu Wort gebracht wird. Noch einmal: Schweigen und Reden, hell und dunkel, aktiv und passiv sind zwar getrennte, aber nur aneinander verständliche Erfahrungen. Die Entscheidung nur zu einer Seite würde mythisch das Eingeholtwerden von der anderen Seite