Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Frau - Männin - Menschin


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Balance der Geschlechter hin gelesen werden.

      Was in Kampf und Bezogenheit von Mann und Frau auf der „Erde“ aufscheint, kennt seine Analogie im „Himmel“ oder in der „Unterwelt“. Das Gleichgewicht von Göttern und Göttinnen in den griechischen oder germanischen Theomythen wiederholt spiegelbildlich die beschriebene anthropologische Erfahrung. Auch im göttlichen Bereich herrscht polare Ordnung: In der Ilias entscheidet das Schlachtenglück nicht nur zwischen Griechen und Trojanern, sondern entsprechend zwischen Göttern und Göttinnen verschiedener Parteien. Mehr noch, die Gleichgültigkeit der beiden Hälften ergänzt sich nicht nur im klassischen Rund des Pantheons. Sie kennt auch eine Unentschiedenheit der Werte, eine Auslieferung an alle Möglichkeiten. Gut und Böse, Leben und Tod, Zeus und Hera, aber auch Zeus und Pluto sind nach wie vor notwendig gleich stark, ein spannungsreiches Ganzes. Deus und Devil (Teufel) haben etymologisch denselben Wortstamm deu-, und die griechischen Götter können lügen und betrügen, wie Hermes der Götterbote und der Lügner ist, anhand derselben Botschaft übrigens. Ob der Gott den Menschen täuscht oder der Mensch die Götter – beides gehört zum Ganzen aus Wahrheit und Lüge, Schein und Sein, Ordnung und Chaos, aus dem die Welt unzweifelhaft besteht. Im Letzten lässt sich nicht entscheiden, was stimmt: Was oben gilt, gilt unten, wie es die orphische Tabula smaragdina formuliert, aber auch: Was oben gilt, gilt unten nicht. Und wieder treffen beide Sätze zu; ihre Bedeutung ist übrigens im genannten Sinne gleichgültig. Auch der göttliche Geschlechterbezug – Hera im Widerspruch zu Zeus, Zeus im Kampf gegen Hera – zeigt noch einmal den Unterschied von Kaiser und Kaiserin (als spielten sich ihre verschiedenen Aufgaben auf verschiedenen Ebenen ab und würden sich gleichsam im selben Hause gar nicht treffen) und zugleich das Verweben beider Seiten zum Ganzen der himmlischen Entscheidungen. Welchen Faden immer der betroffene Mensch aus dem Gewebe des Schicksals herauszieht: Er kann versichert sein, dass das ganze Gewebe ihm noch wesentlich anderes als erwartet bescheren wird.

      Personales Entschiedensein für etwas Bestimmtes, für einen erklärten Wert, ist ein Zug, der erst in späten Mythen auftritt und diese Welt des Gleich-Wichtigen oder des Gleichgewichts aufreißt. Dieser Zug kündigt sich etwa im Mythos von Athenes Geburt an: Athene49, die jungfräuliche Göttin der Tagesklarheit, die das Dunkle erstmals als Dunkles sieht (die Eule als erstes Attribut), wird Inbegriff des bewussten Denkens, der zielgerichteten Entscheidung (der Speer als zweites Attribut). Sie entspringt als Kopfgeburt (!) dem Haupt des Zeus und hinterlässt darin eine klaffende Wunde: Der Gleichklang des Kreises ist durchbrochen durch das erwachte, ichbewusste, entschiedene Denken.

      4. Der Begriff des Menschen und die Frau als „die Andere“. Die mentale Struktur

      Der Ausdruck „mental“ ist abgeleitet vom griechischen menis (Zorn, Mut, Kraft, Vorsatz), das in der lateinischen mens (Absicht, Zorn, Verstand, Vorstellung), schließlich im deutschen „man“, „männisch“, „Mensch“ noch durchklingt. Wenn die Ilias mit der Zeile beginnt: „Den Zorn, singe, o Göttin, des Achilles“, so zeigt das erste Wort menin gleichsam das Signalwort eines neu gewonnenen Wirklichkeitsbezuges an. Minerva, die lateinische Entsprechung zu Athene, nennt auch im Namen der Göttin die von ihr geforderte Richtung. Denn im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr., um in unserem Kulturraum zu bleiben, bricht ein Denken durch, das die alte mythische Polarität zur Dualität verschärft: Wo zuvor „sowohl – als auch“ galt, gilt nun „entweder – oder“. Diese Welt entwirft Gesetz, Richtung, Entschiedenheit, Recht, das jetzt notwendig wird, um gut und böse eindeutig zu scheiden; Hammurabi, Lykurg, Solon, Mose, Minos sind einige der zum Teil sagenhaften Begründer des Rechts. Zugleich geht damit einher der Sinn für das „Richtige“, das sinnfällig die Wendung zum Recht und nach rechts bedeutet; die griechische Schrift läuft nunmehr von links nach rechts.50

      In der Entscheidung des „Herkules am Scheidewege“ geht der Held richtig nach rechts; im Y des Pythagoras drückt dieser in die rechte Hand der Schüler gezeichnete Buchstaben das Bewusstsein der beiden Richtungen aus – überall steht hier rechts für Zukunft, auch für gut, wahr oder lebendig, links für sinister im Sinne von böse, falsch und tödlich.51 Eine den unzähligen Formulierungen für den jetzt notwendig gewordenen „Scheideweg“ ist das mittelalterliche Verschen:

      „Nur himel oder hellen,

      Der selben weg der sind nur tzwen,

      Got geb, daz wir den rechten gen,

      und nicht den tzu der linkhen hant!“

      Dass diese Aufforderung kein Zufall ist, vielmehr im Gegenteil mit einer Fülle anderer Entscheidungen und Bewertungen zusammenhängt, zeigt ein Text, der in Zusammenhang mit der Geschlechterfrage bisher kaum zur Kenntnis genommen ist. Pythagoras, der Begründer der Philosophie im 6. Jahrhundert v. Chr., hatte gleichsam als Urstiftung der Philosophie eine Gegensatztafel von zehn Prinzipien aufgestellt, die sich unversöhnlich von zehn Gegensätzen abstoßen. Damit sind Unterscheidungen getroffen, die nicht nur Ordnung der Welt, sondern zugleich Wert, Einsicht, Beherrschung bedeuten – ein grundsätzliches „Sich-Zurecht-Finden“ anstelle der bisherigen Richtungslosigkeit des Mythos. Damit beginnt nicht nur Philosophie, es beginnt Bewusstwerdung überhaupt im Sinne von Klarheit, Gültigkeit, Wahrheit, die sich nicht mehr durch das Vergessen ergänzt. Aletheia bestimmt die Wahrheit gerade im Gegenzug zur Lethe, dem Fluss des Vergessens. In der Überlieferung des Aristoteles nimmt sich die elementare Gegensatztafel des Pythagoras so aus:

      „Grenze und Unbegrenztes

      Ungerades und Gerades

      Einheit und Vielheit

      Rechtes und Linkes

      Männliches und Weibliches

      Ruhendes und Bewegtes

      Gerades und Krummes

      Licht und Finsternis

      Gutes und Böses

      gleichseitiges und ungleichseitiges Viereck“52

      Jeder dieser Gegensätze könnte für sich selbst beleuchtet werden; in Zusammenhang mit der Geschlechterfrage springt aber vor allem die Gleichsetzung des Weiblichen mit ausdrücklich negativen Werten ins Auge. Deutlicher: Die Gegensatzreihe darf nicht symmetrisch gelesen werden; sie ist vom Ansatz her asymmetrisch, da nur eine Seite, die eine, rechte, lichte, gute, männliche Seite qua Definition (= Grenze) sich der Einsicht zuordnet. Über das Weibliche lässt sich nur noch ausgrenzend, deswegen aber nur noch im Unterschied zum Erkennbaren sprechen.

      Damit wird die bisherige Verwiesenheit der beiden Hälften aufeinander nicht aufgegeben, aber sie wird neu bewertet, denn nunmehr richtet der Wert den Unwert, bestimmt ihn durch Bändigung. Mythisch ließ sich noch sagen:

      „Der Reifen eines Rades wird gehalten von den Speichen,

      aber das Leere zwischen ihnen ist das Sinnvolle beim Gebrauch.

      Aus nassem Ton formt man Gefäße,

      aber das Leere in ihnen ermöglicht das Füllen der Krüge.

      Aus Holz zimmert man Türen und Fenster,

      aber das Leere in ihnen macht das Haus bewohnbar.“53

      Nun wird die Leere, das Unbestimmte, die Potenz von der männlichen Form her gelesen, gehalten, definiert. Nur vom Einen aus lässt sich über Vielheit reden, nur vom Guten aus das Böse aussondern. Der Mann wird zum Wirklichen, die Frau zum Möglichen, das vom Mann verwirklicht wird. Folge (oder Ursache?) dieses Denkens ist eine Zeugungstheorie, worin der Mann als Sämann, die Frau als Ackerfurche auftritt. „Ist die Erde dem Vermögen nach ein Mensch? Doch wohl nicht; vielmehr erst, wenn sie Same geworden ist. Was ist die Ursache im Sinne von Stoff? Etwa die Menstruation?“54 Wenn es bei Parmenides (um 500 v. Chr.) noch heißt: „Auf der Rechten (der Gebärmutter lässt der Same entstehen) die Knaben, auf der linken die Mädchen“55, so ist bei Aristoteles diese räumliche Zuordnung bereits in eine hierarchische Ordnung umgewandelt. Seit daher bestimmt die klassische Philosophie den Mann als den einzigen Erzeuger des neuen Menschen, der im Übrigen wieder