ungefähr kommen in der Gothic-Szene die germanischen Gottheiten wieder hervor, die unter dem Einfluss des Christentums in den Hintergrund getreten waren, stimmt doch die Erfahrung destruktiver Mächte, wie sie die Gesellschaft heute bietet, mit der germanischen, gewaltbestimmten Mythologie viel besser zusammen als mit der Religion der Liebe und Gnade. Und doch werden wir feststellen können, dass der Durchgang durch das Christentum die Engelreligion unserer Tage tiefgreifend geprägt hat. Nicht nur sind die Engels- und Teufelsvorstellungen81, die Engelsnamen, die Vorstellungen von einer Ordnung und Hierarchie der Engel von der christlichen Tradition her genommen, sondern auch die Tatsache, dass jedenfalls in der lichten Engelreligion so viel von Liebe gesprochen wird, ist ein Beleg für die religionsgeschichtliche Wirkung des Christentums. Der christliche Glaube hat gewirkt, er hat in der Engelreligion maßgebliche Spuren hinterlassen! Ist es doch keineswegs selbstverständlich, dass aus der himmlischen Welt Liebe und positive Energie auf die Erde strömen.
Nehmen wir einmal zum Vergleich die Religion des alten Griechenland, wie sie uns in der Theogonie des Hesiod entgegentritt.82 Dieses Werk des 8. Jahrhunderts v. Chr. soll hier exemplarisch für die ,alte Engelreligion‘ stehen. Es beschreibt die Entstehung der Götter und der Welt, und es zeichnet ein keineswegs freundliches Bild des Götterhimmels. Am Anfang sind da nur das dunkle Chaos, mit dem sich „die breitbrüstige Gaia“ (117) verbindet, sowie „Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, der gliederlösende“ (120). Aus der Verbindung zwischen der Erde und dem dunklen Abgrund geht Uranos, der Himmel, hervor – die Unterscheidung von Erde und Himmel ist in der Tat die grundreligiöse Unterscheidung! Dass aber Eros keineswegs Liebe bedeutet, sondern nur die Macht der Begierde, zeigt sich in der weiteren Geschichte. Uranos überzieht Gaia mit einer Serie von Begattungen, die viel eher Vergewaltigungen sind, und das Schlimmste ist: Alle Kinder, die daraus hervorgehen, „waren dem Vater verhaßt“ (155). Sobald eines von ihnen geboren ist, stopft er es in die Erde zurück und lässt es nicht ans Licht. Gaia weiß sich keinen anderen Rat mehr, als Kronos (die Zeit), ihrem jüngstem Kind, eine „scharfzahnige Sichel“ (175) in die Hand zu geben, mit der dieser den Vater blutig entmannt (aus dem ins Meer geworfenen Genital des Uranos geht dann Aphrodite hervor, die Schaumgeborene. Aphrodite – eine genitale Männerphantasie? Richtig ist aber: Es ist die Zeit, das Alter, das den Vater aus seiner sexuell dominanten Rolle verdrängt.). Aber auch Kronos geht mit seinen Nachkommen nicht gerade freundlich um. Da er darauf sinnt, „daß nicht von den ehrwürdigen Himmelsabkömmlingen ein anderer unter den Unsterblichen die Königswürde innehätte“ (461 f.), hält „Kronos nicht unachtsam Wacht, sondern auf der Lauer liegend verschlang er seine Kinder“ (466 f.). Rheia, die Gemahlin des Kronos, ist untröstlich, und sie sucht bei Gaia und Uranos Rat, wie sie „rächen könne die Frevel an ihrem Vater und ihren Kindern, die der gewaltige, hinterlistige Kronos verschlungen hatte“ (473). Man sucht Kronos zu überlisten, und es gelingt auch: Als er seinen letztgeborenen Sohn Zeus verschlingen will, reicht man ihm stattdessen einen Stein. So kann Zeus überleben. Herangewachsen, befreit er sowohl die Kinder des Uranos – die Titanen – wie auch seine Geschwister, die Kinder des Kronos, aus ihrer Gefangenschaft. Zwischen beiden Göttergruppen entbrennt ein entsetzlicher, jahrelanger Krieg um die Herrschaft im Himmel. „Furchtbar hallte wider das endlose Meer. Die große Erde dröhnte. Es stöhnte der Himmel, erbebend, von Grund auf wurde der hohe Olymp erschüttert vom Ansturm der Unsterblichen“ (678 – 681). Schließlich gelingt es Zeus und den Seinen, die Titanen zu besiegen. Er verbannt sie in die Tiefen des Tartaros, die Unterwelt, ein vielfach gesichertes Gefängnis, aus dem sie bis auf weiteres nicht entfliehen können. Als bedrohlich-rumorende Gewalt bleiben sie aber weiterhin präsent. Zeus ist nun der unumschränkte Herrscher über die Sterblichen und die Unsterblichen, und der Dichter Hesiod kann nicht genug daran tun, sein Regiment zu preisen, denn Zeus regiert nach Recht und Gerechtigkeit. „Gut aber hat er jegliches den Unsterblichen festgesetzt und zugleich (ihnen) ihre Würden zugesprochen“ (74) – er schafft Ordnung im Himmel –, auf Erden aber begünstigt er den König, der „Urteile fällt mit gerechtem Spruch“ (85). So ist also eine einigermaßen zuträgliche Weltordnung begründet. Von Zeus hören wir weiterhin, wie er sich diversen „schönfüßigen“ oder „schönwangigen“ oder sonstwie liebreizenden Göttinnen und Menschentöchtern naht und mit ihnen eine Unzahl von Kindern zeugt. Es ist also die Kraft des Eros, die das Geschehen in Gang hält. Als aber Prometheus auftritt und mit List für die Menschen das Feuer vom Himmel holt, da reagiert Zeus empfindlich. Er bindet Prometheus „mit unauflöslichen Banden, mit schmerzenden Fesseln“ an einen Felsen und stachelt seinen Adler an, täglich seine „unsterbliche Leber“ zu fressen (521 – 524). Und über das gesamte Menschengeschlecht, das heißt bis dato nur über die Männer, wird vom Obergott eine besonders gemeine Strafe verhängt. Er erschafft das „unheilvolle Geschlecht der Frauen und ihre Arten“, die hinfort „als großes Unglück wohnen unter den sterblichen Männern“ (591 f.). Die Frauen sind nämlich wie die Drohnen, die die fleißigen Bienen für sich arbeiten lassen, dabei aber „drinnen bleiben in den schattigen Bienenstöcken und ernten für sich in ihren Bauch das von fremden Händen Erarbeitete“ (598 f. – bei den Bienen ist es wohl umgekehrt). Für besonders fatal hält es Hesiod, dass der Mann im Alter auf die Pflege durch die Ehefrau angewiesen ist. Deshalb „lebt er mit unaufhörlichem Schmerz in der Brust, im Sinn und Herzen, und unheilbar ist das Übel. So ist es nicht möglich, den Verstand des Zeus zu täuschen und zu umgehen“ (611 – 613).
Sehr frauenfreundlich ist das nicht, und nicht sehr menschenfreundlich. Schauen wir auf die Himmelswelt der Griechen: Sie besteht zuletzt nur aus einer Orgie der Begierde und der Gewalt. Nicht zu bestreiten ist, dass in Hesiods Theogonie eine wirkliche Wahrnehmung himmlischer Mächte vorliegt. Da ist die Rivalität der Väter auf die Söhne, in die diese ohne ihren Willen hineingeboren werden und die sie tödlich bedroht. Da ist der Zwang für die Söhne, ihre Eigenständigkeit nur im Widerstand gegen den Vater erringen zu können. Hesiod zeichnet ein fluchbeladenes Geschick, in dem List, Betrug und Gewalt, also schuldhaftes Verhalten, unvermeidlich sind. Ohne Schuld kann es kein menschliches Leben geben – eine Art griechische Version der Erbsündenlehre. Dann ist da die Herrschsucht, der Kampf um die Macht als eine Gewalt, der die Götter unterliegen und die von ihnen kommt. Und es ist Eros, der erste Gott, die Macht der Begierde und der Bedürfnisse, die Götter und Menschen in ihrem Bann hält. Sie kann aus männlicher Sicht leicht in abstruse Frauenfeindlichkeit umschlagen, wie es bei Hesiod geschieht. Und zuletzt steht über allem die menschenverschlingende Gewalt der Vergänglichkeit, sind doch alle Götter Kroniden, Nachkommen des Kronos. Umso stärker muss der Neid zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen sein, wie er anlässlich des Falls Prometheus sich gewaltsam auswirkt. Hesiod ist aufmerksam für die Errungenschaften der Kultur, die die Macht des Schicksals begrenzen. Man gibt dem Kronos Steine zu fressen – mit steinernen Bauten ist ein schwaches Mittel gegen die Vergänglichkeit errichtet. Und doch bleibt das Leben der Menschen von Mächten und Gewalten bedroht. Vom Himmel her ein lüsterner, neidischer Gott, von der Unterwelt her die bedrohlichen Titanen. Wie mag es sich in einem solchen Weltbild gelebt haben? Von Liebe ist bei alledem keine Spur.
Der Durchgang durch das Christentum hat also die Engelreligion bereichert. Wenn Doreen Virtue Gott bzw. die Engel auch als „Liebe, reine Liebe“ bezeichnet, wenn Jana Haas ein goldenes Zeitalter der höheren Spiritualität heraufkommen sieht, das sich in der Abkehr von Gewalt und Unmenschlichkeit ankündigt, wenn Helga Schaub echten Glauben, Gebet und liebevolle Gedanken gegen die dunklen Mächte aufbietet, dann hat der christliche Glaube offenbar Wirkung gezeigt. Das ist dankbar anzuerkennen. Manche meinen, der christliche Glaube in seiner speziellen Form habe sich damit erübrigt, er sei aufgegangen in einer universalen Religion der Liebe und habe damit sein Bestes gegeben, aber wir werden sehen, dass dem nicht so ist. Doch zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Engelreligion auch umgekehrt das heutige Christentum bereichert. Sie gibt Christen, die sich darauf einlassen – und das sind nicht wenige – die verlorene Religion zurück. Man denke einmal an die katholische Kirche im Zeitalter des Barock. Über zwei Jahrhunderte – von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – war die barocke Kultur in den katholischen Ländern Süd- und Osteuropas, in der Alpenreligion, in Südamerika und in etwas anderer Weise auch in Frankreich höchst lebendig. Das Barockzeitalter war vielleicht die letzte Epoche einer integralen, den biblischen Glauben mit der Religion verbindenden Katholizität. Betritt man eine Barockkirche, sieht man sofort, welch