Religion der Bedürfnisse, aus Bedürfnissen entstanden und auf die Erfüllung von Bedürfnissen ausgerichtet. Sie passt in eine Welt, in der die Erfüllung von Bedürfnissen der fraglos höchste Wert und überdies der Motor der wirtschaftlichen Dynamik ist.
Nun hat diese Religion, wie gezeigt, ihre zwei Seiten, eine helle und eine dunkle – die übrigens sicher nicht zufällig im Blick auf ihre Akteure auch als weibliche und männliche Seite zu erkennen sind. Beide Seiten fügen sich zu der Kennzeichnung „Religion der Bedürfnisse“, aber sie bilden gewissermaßen die Vor- und Rückseite. Während auf der lichten Seite die Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse gepredigt wird, ist die dunkle Seite für die diabolische Verkehrung der Bedürfnisse – „Lust“ – in Zerstörung aufmerksam, ja, sie treibt sie selbst voran. Was bei den „Kindern des Zorns“ (so will ich sie einmal mit Eph 2,3 nennen) an Kapitalismuskritik, an Beobachtung der verhängnisvollen Auswirkungen unserer Industriekultur, an „Todesfaszination“ vorhanden ist, verweist auf die Paradoxie der Bedürfnisse. Sie sind gut und sie sind schlecht. Gut sind sie, weil der Hunger gestillt werden will und weil es Freude macht, ihn zu stillen, und sei es der Hunger nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Schlecht sind sie, weil sie von sich aus kein Maß kennen. In ihrer Maßlosigkeit bewirken sie Zerstörung – so wie die ,bröckelnden‘ Atomkraftwerke auf maßlosen Energiebedarf reagieren, der grausame Umgang mit Tieren auf maßlosen Fleischbedarf. Vor dieser Problematik bleiben die Versuche Doreen Virtues, zwischen den Wünschen des höheren und des niederen Selbst zu unterscheiden, ebenso hilflos stehen wie die Unterscheidung von Jana Haas zwischen weißer und schwarzer Magie oder die von Helga Schaub zwischen positiver und negativer Energie. Denn wie soll hier unterschieden werden? Was für den einen als ,weiß‘ erscheint, kommt beim anderen ,schwarz‘ an, und leicht kann man um eines höheren Zwecks willen auch das niedere Bedürfnis als höheres erleben. Zumal in einer Zeit, für die die ständige Steigerung der Bedürfnisse zur Notwendigkeit einer zum unablässigen Wachstum gezwungenen Wirtschaft geworden ist. Ist es denn da nicht ,positiv‘, ,negative‘ Dinge zu tun, z. B. zur Schaffung von Arbeitsplätzen die Wirtschaft anzukurbeln, noch mehr überflüssige Dinge und damit zukünftigen Abfall zu produzieren, noch mehr zu konsumieren, noch mehr Geld anzulegen? Bedenklich ist, dass die lichte Seite der Engelreligion ihre Beispiele und ihre Anschauung nur aus dem persönlichen, privaten Leben nimmt. Der politische und ökonomische Bereich sind völlig ausgeblendet. Und doch hängt beides zusammen. Der Slogan „Gott sorgt für die Erfüllung all unserer Bedürfnisse. Wir brauchen nie zu befürchten, dass uns irgendetwas vorenthalten wird“ (Virtue) scheint doch geradezu einem ökonomischen Imperativ zu gehorchen. Grenzenlose Bedürfnisbefriedigung – jetzt auch religiös legitimiert und ermöglicht. Autofahren – jetzt ohne Parkplatzprobleme. Energieaufwändige Reisen in die Südsee – jetzt auch zur Begegnung mit den Delfinengeln, die sehnsüchtig nach dir rufen. Partnerwechsel – durch den Engel-Raben selbst angezeigt. Warum hören wir nie von Engeln, die zum Öffentlichen Nahverkehr raten? Oder zur Treue in der Partnerschaft? Und weiter: Die Religion verlängert die Bedürfnisse ins Unendliche, ins Transzendente. Nun sollen wir gar das Göttliche in uns selbst entdecken, mit dem ganzen Universum verbunden sein, in jeder Lebenslage Trost und Beistand erfahren, das ganze Wissen der Welt in Himmelsbüchern lesen können. Das ist in etwa das, was die Schlange der Eva im Paradies versprochen hat. Die Maßlosigkeit der Bedürfnisse greift nach der Unendlichkeit des Himmels. Die Engelreligion überträgt insoweit die Logik der grenzenlosen Steigerung, die dem Kapitalismus eigen ist, ins Religiöse. Was Wunder, dass sich auch viele Wirtschaftsgrößen zum Glauben an die Engel bekennen.76
Von Ferne erinnern die beiden Seiten der Engelreligion an die früheren Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Zur rechten Seite des Weltenrichters – zur Linken des Betrachters – die Seligen, die von lichtvollen Engeln ins Paradies geführt werden. Zu seiner Linken die Verdammten, die von Teufeln gequält und in die Hölle gebracht werden. In der Engelreligion fehlt jedoch die Figur des Weltenrichters, der nach Gottes Maß und Gesetz richtet. So schieben sich beide Seiten übereinander. Das alte Bild ist zerstört. Beide Seiten richten sich nach derselben Logik. Wir werden verdammt durch das, was uns selig machen soll. Die Seligen sind schon die Verdammten, sie wissen es nur noch nicht.
6. Der Himmel ist wieder offen!
Trotz dieser Zweideutigkeit der Engelreligion, die nur christlich-theologisch aufzulösen sein wird – dazu später mehr –, die gute Nachricht lautet: Es gibt in unserer Zeit wieder eine richtige Religion!77 Der Himmel ist wieder offen! Die himmlischen Mächte, die guten wie die bösen, werden wieder wahrgenommen, und es werden wieder die Beziehungen zwischen der Erde und dem Himmel geregelt, wie es eben in Religionen geschieht. Denn dies ist ja eigentlich die Aufgabe von Religion: dass sie die Verhältnisse zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Empirischen und dem Numinosen, dem „Natürlichen“ und dem „Übernatürlichen“, letztlich zwischen der Erde und dem Himmel beobachtet und behandelbar macht. Religion gibt dem Unvertrauten einen Platz im Vertrauten. Sie benennt heilige Orte und Zeiten, sie liefert Bilder des Unsichtbaren, entwickelt Rituale für den Verkehr mit dem Göttlichen und schafft auf diese Weise Formen des Umgangs mit dem Bereich der Welt, der der direkten Beobachtung unzugänglich ist.78 Genau dies geschieht in der Engelreligion – bis hin zur Angabe von konkreten Methoden, von Orten und Zeiten zur Kontaktaufnahme mit den Engeln.
Die Engelreligion hat den Bann gebrochen, der mehr als 200 Jahre über der ,aufgeklärten‘ Welt lag. Gemäß der Aufklärung sollte sich die Erkenntnis auf das Empirische, Nachprüfbare und Berechenbare beschränken, und daraus ist unser Begriff von Wissen und auch von Wissenschaft entstanden. Der Himmel mit seinen Mächten war von diesem Begriff des Wissens ausgeschlossen und folglich auch aus der Wissenschaft. Der Himmel, der Bereich übermenschlicher Kräfte und Mächte, wurde dem mythologischen Weltbild zugeordnet, das aus der Kraft menschlicher Vernunft zu überwinden die Philosophie der Aufklärung angetreten war. Religion im beschriebenen Sinn wanderte in die Esoterik und den Okkultismus ab. Das Christentum, insoweit es in der Moderne noch geduldet werden wollte, sah sich gezwungen, sich von seinen ,mythologischen‘ Elementen zu reinigen. In der weltweit verbreiteten Engelreligion ist nun dieser Bann gebrochen. Das esoterische Wissen schickt sich an exoterisch zu werden, wie Jana Haas richtig bemerkt. Und von Seiten der Philosophie her mehren sich die Stimmen, die erklären, dass die Aufklärung ihr Ziel nicht erreicht hat, dass sie in ihrer eigenen „Dialektik“ verfangen geblieben ist. Die Moderne hat die mythologischen, naturgeschichtlichen Zwänge nicht durchbrechen können, die sie überwinden wollte, diese sind vielmehr in der Gestalt der alles beherrschenden Markt- und Warengesellschaft wiedergekommen.79 So ist auch von dieser Seite her wieder Raum für die Religion in der Moderne geschaffen worden. Das Christentum wird diese Wiederkehr der Religion mit Freude begrüßen können, denn ohne das Wissen um die himmlischen Mächte ist ein Weltbild unvollständig und blind.
Die Engelreligion tritt das Erbe der gesamten Religionsgeschichte an. In der Gothic-Szene ist uns die keltische und altgermanische Religion begegnet, man nimmt Bezug auf den Schamanismus, den alten russischen Geisterglauben, das asiatische Wissen um feinstoffliche Energien, die Lehre vom Karma und von der Wiedergeburt, den Voodoo-Kult, afrikanischen Ahnenkult, indianische Religion usw. usw. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Und das ist so in Ordnung. Egon Wenberg, ein Kenner der Wissenschaft von den Engeln, sagt mit Recht: „Die Engel sind älter als alle Religionen der Welt. […] Es gibt keine nur christlichen Engel. […] In jeder Religion gibt es Engel. Die Religionswissenschaften sprechen auch von Begleitgöttern, von Geistwesen, von dienenden göttlichen Wesen“80, oder einfach, so ist hinzuzufügen, von Göttern, denn die Götter des Polytheismus sind nichts anderes als himmlische Mächte, also das, was später unter dem Einfluss der Bibel angeloi bzw. Engel genannt worden ist. Der Reichtum der alten Religionen kehrt in der Engelreligion in unsere Zeit zurück, damit auch ihre Weisheit, ihre Himmels-„Wissenschaft“, das heißt ihre Kenntnis der himmlischen Mächte, deren Einfluss auf das irdische Leben in Rechnung zu stellen ist. Das ist ein Gewinn, eine Erweiterung unserer Erkenntnis! Zwar treffen die Vertreterinnen und Vertreter der Engelreligion ihre Auswahl aus dem reichen Stoff der Tradition je nach ihrer Erfahrung mit dem Himmlischen, aber darin bestätigt sich nur ein Moment, das für die Entwicklung der Religionen überhaupt typisch ist. Nicht zu allen Zeiten ist der Himmel gleich, nicht immer