Thomas Ruster

Die neue Engelreligion


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in den beliebten Jesuitendramen auf, die davon erzählen, wie Menschen von Teufeln verführt und von Engeln beschützt werden. Bei den Aufführungen wurde auch mit szenischen Tricks nicht gespart: Die Teufel treten aus einer Versenkung auf der Bühne, die Engel schweben mittels einer komplizierten Maschinerie vom Himmel herab und zum Himmel zurück. Beliebt war das Motiv des versöhnten Teufels, eines armen Wesens, das sich im Grunde nach Liebe und Erlösung sehnt – so in Friedrich Gottlieb Klopstocks „Messias“.83 Helga Schaub könnte ihre Freude daran haben. Barocke katholische Religiosität war Christentum inklusive Engelreligion. Und dadurch war es eine Religiosität, die einen ungezwungenen Zugang zur Welt der Geister, Naturwesen und der Magie hatte. Der Historiker und Barockforscher Peter Hersche spricht von der „kirchlichen Halbmagie“ jener Zeit.84 „Magie gehörte damals zur selbstverständlichen Lebenswirklichkeit“, in vielfacher Weise war sie auch im kirchlichen Leben verankert. Schon die kirchlichen Segnungen und Weihen profaner Gegenstände sowie die Reliquienverehrung reichten in den Bereich der Magie hinein. Daneben gab es den Wettersegen, verbunden mit „Schauermessen“, Hagelprozessionen und dem Wetterläuten bei aufziehendem Gewitter, dem man eine abwehrende Kraft gegen die Blitze zuschrieb. Segnungen gegen Ungeziefer wurden gegen Mäuseplage und Engerlinge eingesetzt. Allerhand heilkräftige Gegenstände, Kreuze, Andachtsbilder, geweihte Wässer und Amulette waren im Umlauf, besonders beliebt waren die so genannten Kompositamulette, die aus tausenden unterschiedlicher Ingredienzien zusammengesetzt sein konnten: gesegneten Wässern und Kräutern, Reliquienteilen, Wachsen und Ölen, geschriebenen Segen hoher kirchlicher Funktionäre bis hin zu den Päpsten. „Das alles wurde [in Klöstern] zusammengemengt, pulverisiert, in Rollen verpackt anderen Konventen zugesandt, von diesen portionsweise weiterverteilt und, versehen mit einer geistlichen Gebrauchsanweisung, als Mittel gegen sämtliche denkbaren Leiden benutzt.“ Auch Liebeszauber waren beliebt. Wunder kamen häufig vor. Große Bedeutung hatte der Exorzismus, der auch gegen Tierseuchen eingesetzt wurde. Als ein besonders krasses Beispiel der kirchlichen Halbmagie nennt Hersche den Brauch des so genannten Kinderzeichnens. Totgeborene Kinder wurden, damit sie nicht der ewigen Verdammnis anheimfielen, durch Wärmeeinwirkung scheinbar wiederbelebt und dann getauft. Letzteres hatte nicht die offizielle Billigung der Kirche, wurde aber geduldet, schon wegen der Verzweiflung der Eltern. Insgesamt versuchte die katholische Kirche „eine Integration bzw. Umwandlung magischer Vorstellungen in religiöse.“ Die Magie wurde verkirchlicht, dadurch zugleich anerkannt, begrenzt und integriert. Die Protestanten ihrerseits hatten Gelegenheit, sich über den katholischen ,Aberglauben‘ aufzuregen und ihre Abgrenzung gegen das Katholische zu betonen. Die barocke Religiosität ist dann unter dem Einfluss der Aufklärung, des Josephinismus in Österreich, der Revolution in Frankreich, der Säkularisierung in Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts an rigide zurückgedrängt worden. Sie überlebte nur in Restbeständen der Volksreligion, am längsten in den katholischen Mittelmeerländern. Der im barocken Katholizismus enthaltene Anteil von Religion, das heißt vom Umgang mit übersinnlichen und himmlischen Mächten, ist im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils praktisch ganz aus der katholischen Kirche ausgemerzt worden.85 Und dann kommt die Engelreligion und lässt all das, zumindest sehr viel davon, wieder aufleben! Viele katholische Christen nehmen das dankbar an. So zum Beispiel die Italienerin Paola Giovetti, die ein hinreißendes Buch über die „unsichtbaren Helfer der Menschen“ geschrieben hat.86 Sie ist katholisch und findet die Existenz der Engel und anderer übersinnlicher Wesen einfach überall belegt. Andachtsvoll zitiert sie Worte des Papstes Johannes Paul II. über die Engel, berichtet von Engelwundern bei Heiligen und an Wallfahrtsorten, bezieht aber auch die Naturgeister Rudolf Steiners, die Lichtwesen Raymond Moodys und die Engellehre Emanuel Swedenborgs problemlos mit ein. Sie erzählt sensationelle Geschichten der wunderbaren Rettung durch Engel, die auch bei Giulia Siegel oder Doreen Virtue stehen könnten. Sie überlässt es den Lesern, sich das alles zusammenzureimen. In das gleiche Spektrum gehören die viel gelesenen Bücher Uwe Wolffs.87 Der katholische Theologe führt kenntnisreich und gekonnt durch die bunte und bisweilen düstere Welt der Engel und Dämonen. Von Geburt an, ja schon vorgeburtlich beeinflussen machtvolle Gestalten den Menschen im Guten wie im Bösen. So wusste es das frühere Christentum, so wissen es aber auch allerhand angeführte Zeugnisse aus den Religionen, der Literatur und der Parapsychologie. Ausführlich erzählt Wolff von Teufelspakten und Teufelsaustreibungen. Auch ihm ist ein Stück seiner Religion wiedergegeben worden, das er genüsslich schaudernd durchstreift. Seinen theologischen Lehrern in Münster konnte er nichts davon sagen, es hätte sonst passieren können, dass ihm der Professor für Neues Testament die Seminararbeit über die Dämonenaustreibung in der Synagoge von Kafarnaum aberkennt.88

      So besteht also kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen der Engelreligion und dem Christentum, jedenfalls in seiner katholischen Gestalt. Nachdrücklich muss aber auch das andere gesagt werden: Es führt kein direkter Weg von der Engelreligion zum Gott des christlichen Glaubens! Von diesem Gott, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott des Mose und dem Gott Jesu Christi ist in der ganzen einschlägigen Engelliteratur nicht die Rede. Zwar fällt verschiedentlich das Wort Gott oder es wird vom Göttlichen gesprochen, aber damit ist nicht der Gott des christlichen Glaubens gemeint. Der Pan-Angelismus dieser Religion ist vielmehr ein Pantheismus; ,Gott‘ gilt als Chiffre für das Universum, für die Welt der Engel allgemein, für spirituelle Energie. Die Engelreligion bezieht sich nur auf die Erfahrung himmlischer Mächte, Gott aber ist der Schöpfer des Himmels. Wie sollten sie auch auf Gott stoßen, wo Gott doch in der Welt nicht vorkommt? So ist denn auch kein Glaube gefordert, sondern nur eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit für spirituelle Energien. Der Begriff Engel – von angeloi, Boten –, der aus der Bibel übernommen ist, wird demgemäß eigentlich ungenau oder sogar missbräuchlich verwendet, denn Boten Gottes oder Vermittler zu Gott können die Engel in dieser Religion nicht sein. Sie gelten selbst als göttlich. Sie verweisen offensichtlich nicht auf ihren Schöpfer. Somit ist übrigens der Beweis erbracht, dass die in der Religionspädagogik vielfach wiederholte These, die Weckung natürlicher Religiosität bereite von selbst auf den christlichen Glauben vor, nicht stimmt. Hier haben wir es mit einer voll ausgebildeten Religion zu tun, aber Gott kommt darin nicht vor.

      Die Engelreligion ist eine Religion ohne Gott. Sie ist die Fortsetzung des vor- und außerchristlichen Polytheismus unter den Bedingungen der Moderne, nur dass die Götter jetzt Engel heißen. Sie weiß nichts von der Offenbarung des wahren Gottes. Deshalb ist sie auf immer neue Offenbarungen der Engel-Medien und spirituellen Seherinnen angewiesen. Wie viele dieser Engelbücher behaupten doch nicht von sich, sie seien „im Auftrag der geistigen Welt“ entstanden89, oder man hat gleich einen heißen Draht zur himmlischen Führung wie Doreen Virtue. Diese Offenbarungen wuchern aus, sie verlieren sich ins Unentscheidbare und Unübersehbare.90 Und doch ist eine Religion ohne Gott immer noch die einfachere Religion. Sie braucht sich ja nur an ihre Wahrnehmungen zu halten und kann das unergründliche Geheimnis Gottes aussparen. In der Engelreligion äußert sich ein zeitgemäßes Bedürfnis nach religiöser Komplexitätsreduktion. Es wird Ordnung in der Religion geschaffen. Immer wieder trifft man auf Versuche, den religiösen Kosmos zu vereinheitlichen, Engelordnungen und -hierarchien aufzustellen, die zwar zueinander nicht widerspruchsfrei sind, aber doch jeweils für sich ein stimmiges Bild ergeben. Sieben Erzengel für sieben Tage, verbunden mit sieben Energiechakren, das passt. Und wenn die Bibel nur mit drei Erzengeln dienen kann, dann müssen eben vier weitere gefunden werden. Entsprechende Hellsichtigkeit kommt hier wie bei Jana Haas gerade recht.

      Christen können sich damit nicht zufriedengeben. Nicht, weil das Christentum unter allen Umständen Recht behalten muss. Sondern weil der Engelreligion eine wilde und maßlose, eine verwilderte Angelologie zugrunde liegt.91 Und diese kann leicht gefährlich werden. Wie gezeigt, fügt sie sich allzu sehr unseren Bedürfnissen und damit der Maßlosigkeit unserer Ökonomie, der sie nichts entgegenzusetzen hat, die sie vielmehr ins Religiöse hinein verlängert. Und wo die dunkle Seite des Himmels gesehen wird, da bleibt Erlösung aus. Die lichte Seite dieser Religion wird mit der Macht des Bösen nicht fertig, sie ist ja nur ihre andere Seite. An die Stelle von im Glauben begründeter Erlösungshoffnung treten Todessehnsucht, Gewaltfantasien und Satanismus, nicht selten und nicht zufällig verbunden mit fanatischem Antichristentum. Die Wiederkehr der germanischen Kampfgottheiten in der Gothic-Szene zeigt einen schlimmen Zustand der Religion an. Heinrich Heine hat es vorausgesehen: „Das Christentum – und das ist