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500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen


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katholische Formel wie das «sola gratia – allein aus Gnade.» Seine reformatorische Zuspitzung und damit zugleich seine Abgrenzung von der spätmittelalterlichen katholischen Gnadenlehre erfährt das solus Christus nach der reformatorischen Wende freilich durch seine Verknüpfung mit dem «Sola fide – allein durch den Glauben» in Verbindung mit dem sola gratia und dem sola scriptura. |74|

      In gewisser Weise wird das genannte Geviert von Exklusivpartikeln durch die Formel «Gott allein» gebündelt.29 Eine derart radikale Sicht der alleinigen Heilswirksamkeit Jesu Christi scheint sich mit der heutigen Forderung nach Toleranz, zumal im interreligiösen Dialog, schlecht zu vertragen. Kann diese biblische Aussage auch heute noch theologische Geltung beanspruchen? Oder ist sie im Rahmen einer Theologie der Religionen abzuschwächen? Es sei betont, dass es sich bei dieser Frage um eine gemeinsame ökumenische Herausforderung handelt und nicht nur um ein Problem einer evangelischen Theologie der Religionen.30

      In kritischer Abgrenzung von heutigen Konzeptionen einer Theologie, die Religion zu ihrem Leitbegriff erklärt und von der gelebten Religion in ihrer Vielfalt ausgehen möchte, sei hier die These vertreten, dass es beim christlichen Glauben nicht um Religion oder Spiritualität geht, sondern um Gott. Das Evangelium verspricht nicht «kleine Transzendenzen», die man im Urlaub oder im Fußballstadion erleben kann, sondern antwortet auf die Frage, was mein einziger Trost im Leben und im Sterben ist, wie es der reformierte Heidelberger Katechismus (1563) ausdrückt. Und das drängende Problem der Kirchen ist nicht der Mangel an irgendwelcher Spiritualität, sondern die Sprachnot des Glaubens, die sich in einer bisweilen erschreckenden Banalisierung christlicher Glaubensinhalte zeigt, die mit Recht als Selbstsäkularisierung der Kirche kritisiert wird.31 Die Respiritualisierung, die manche als Antwort auf die Krise der Kirchen empfehlen, ist in Wahrheit keine Alternative, sondern leistet solcher Selbstsäkularisierung möglicherweise nur weiteren Vorschub.

      Zwar kann auf den Religionsbegriff theologisch nicht verzichtet werden, doch ist zunächst zwischen Religion und Gottesglauben zu unterscheiden. Auch ist zwischen der Frage nach Gott und der Frage nach Sinn zu unterscheiden. Nicht jeder, der nach dem Sinn des Lebens fragt, fragt darum schon nach Gott. Wer heute im biblischen Sinne von Gott reden will, kann nicht davon ausgehen, dass immer schon nach ihm gefragt wird. Der Anknüpfungspunkt einer vorgängigen Gottesfrage ist keineswegs selbstverständlich und unausweichlich. Darum hängt die |75| Möglichkeit, von Gott zu reden, nicht von der Frage nach ihm ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung.

      Die Frage nach Gott kann heute nur gestellt werden, weil vor uns Menschen von Gott geredet und sein Wirken bezeugt haben. Die neutestamentlichen Texte aber tun dies so, dass sie zugleich von Jesus Christus sprechen. Von Jesus wiederum lässt sich angemessen nur sprechen, wenn im Blick auf seine Person und sein Leben zugleich von Gott gesprochen wird, so dass der Sinn seines Lebens im Horizont Gottes offenbar wird, wie umgekehrt das Wort «Gott» erst in Verbindung mit dem Leben Jesu seine letztgültige Bedeutung gewinnt. Das Geschick Jesu macht offenbar, dass das Wesen Gottes Liebe ist.32 Worin aber die Liebe besteht, die Gott ist, lässt sich nur im Verweis auf den Lebensweg Jesu bestimmen. So gewinnt das Wort «Gott» seinen christlichen Sinn, indem Gott und Jesus zusammengesprochen werden. Gott und Jesus von Nazareth aber lassen sich nur so zusammensprechen, dass vom alttestamentlich bezeugten Gott Israels als dem Vater, von Jesus als dem Sohn und vom Heiligen Geist, mit anderen Worten: dass von Gott trinitarisch gesprochen wird.33

      In diesem Sinne sehe ich die Kirchen gefordert, das Profil des Christlichen zu schärfen. Christlicher Glaube unterscheidet sich von allen sonstigen Formen von Religion durch das Bekenntnis zu Jesus Christus als Heilsbringer. Eben darum wurden und werden die an ihn Glaubenden Christen genannt. Dieses Bekenntnis aber schließt den Glauben an den von Jesus verkündigten Gott ein, der wiederum der Gott Israels ist. Dennoch: Nicht eine vage Gottoffenheit, sondern das Christusbekenntnis ist der entscheidende «Marker», an dem das Label «Christentum» auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten erkannt wird. Von hier aus ist die Identität von Glaube und Kirche zu bestimmen.

      4. Allein aus Gnade

      Allein aus Gnade – und zwar um Christi willen – wird der sündige Mensch vor Gott gerechtfertigt und von ihm angenommen. Allein aus |76| Gnade – auch das um Christi willen – lebt der gerechtfertigte Sünder als neugewordenes Geschöpf Gottes. «Ist jemand in Christus», schreibt Paulus in 2Kor 5, 17, «so ist er ein neues Geschöpf.» Die Rechtfertigung zielt also nicht nur auf die Vergebung der Sünde und die Versöhnung mit Gott, sondern auch auf die Erneuerung der Schöpfung. Daher sind die Rechtfertigungslehre und das sola gratia nach evangelischem Verständnis das Kriterium aller kirchlichen Verkündigung,34 das Kriterium für das Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus und ebenso für das Verständnis der Welt als Schöpfung und des Menschen als Geschöpf Gottes.

      Das lässt sich sehr schön an Luthers Auslegung des 1. Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses verdeutlichen. Was bedeutet die Aussage: «Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde»? Luther antwortet: «Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was nottut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.»35

      Der Schöpfungsglaube hat nach Luther also die Struktur der Rechtfertigungsbotschaft. Sola gratia: Das bedeutet schöpfungstheologisch gewendet, das Leben als gute Gabe aus Gottes Hand zu empfangen – «und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit.» Dass der Glaube im Sinne Luthers gleichbedeutend mit der Gewissheit des sola gratia erworbenen Heils ist, unterstreicht der Schlusssatz seiner Auslegung des ersten Glaubensartikels: «Das ist gewisslich wahr.»

      Das sola gratia bildet aber auch einen Kontrast zur Gnadenlosigkeit unserer heutigen übertribunalisierten Lebenswelt, welche die Frage nach einer Kultur des Erbarmens und des Verzeihens laut werden lässt. Nach christlichem Verständnis ist es Jesus Christus als das fleischgewordene |77| Wort Gottes, in dem eine solche Kultur des Verzeihens ihre Quelle und ihren Maßstab hat.

      Das Evangelium ist die Zusage bedingungsloser Liebe. Hat schon der irdische Jesus für sich die Vollmacht beansprucht, im Namen Gottes Sünden zu vergeben, so begreift das Neue Testament schließlich seinen Tod und seine Auferstehung als definitiven göttlichen Akt der Vergebung. Mit Paulus ist der Tod Jesu als Inbegriff göttlicher Feindesliebe (Röm 5, 10) zu verstehen, in welcher die Zuspitzung des Gebotes der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe (Mt 5, 38–48) ihren eigentlichen Grund hat. Die göttliche Vergebung aber zielt auf endgültige und universale Versöhnung.

      Gerade seine religiöse Dimension macht das Christentum zur maßgeblichen Ressource einer Kultur des Verzeihens. Darauf hat bereits Hannah Arendt aufmerksam gemacht.36 Besondere Beachtung verdienen ihre Ausführungen zu Taten, die von Menschen nicht vergeben werden können, weil sie auch durch keine irdische Strafe gesühnt werden können. Dieser Gedanke ist hilfreich, um den Sinn der biblischen Rede vom Jüngsten Gericht neu zu verstehen. Recht verstanden ist der Gerichtsgedanke eine Implikation der christlichen Gewissheit, dass bei Gott auch in Sachen Vergebung kein Ding unmöglich ist, gerade weil er der richtende, Gerechtigkeit verbürgende Gott ist. Ohne den Gedanken des richtenden Gottes verliert auch derjenige des gnädigen Gottes seine Plausibilität.

      Der Gedanke des Jüngsten Gerichts verwandelt sich freilich unter dem Vorzeichen von Rechtfertigung und Versöhnung von einem Symbol der Angst zu einem Symbol der Hoffnung, wie sich schon an der Frage 52 des Heidelberger Katechismus zeigt.37 Der biblische Gerichtsgedanke und die |78| Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bringen eine Hoffnung zum Ausdruck, die nicht nur den Opfern der Geschichte, sondern auch den Tätern gilt, freilich so, dass die Mörder nicht über ihre Opfer triumphieren.38

      Für den christlichen Glauben erschließt sich der Gerichtsgedanke