Группа авторов

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen


Скачать книгу

die Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade aussagen können – jedoch so, dass diese eben nicht mit der Alleinwirksamkeit des Glaubens gleichgesetzt wurde. Was reformatorisch unter Glauben zu verstehen ist, wird aber auch verdunkelt, wenn man unter Glauben ein allgemeines Urvertrauen, Transzendenzbewusstsein oder Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit versteht, das allen Menschen mehr oder weniger eigen sein soll. Glaube im reformatorischen Sinne ist Glaube an Jesus Christus als den alleinigen Grund göttlicher Annahme und Vergebung. Was das bedeutet, muss allerdings, wie sich noch zeigen wird, trinitätstheologisch erschlossen werden. Die Rechtfertigung des Sünders um Christi willen ist ein trinitarisches Geschehen. Woher aber wissen die Glaubenden das alles? Worauf gründen sie ihr Vertrauen und ihre Zuversicht? Darauf antwortet die reformatorische Tradition, dass es die Bibel Alten und Neuen Testaments ist, die dies auf gewiss machende Weise bezeugt, weil in ihr Christus selbst zu hören ist.

      Der rechtfertigende Glaube ist also nach reformatorischem Verständnis exklusiver Glaube – exklusiv in dem Sinne, dass er allein das Heil bewirkt. Doch erschließt sich dieser exklusive Glaube nur durch das Geviert der sich wechselseitig interpretierenden reformatorischen Exklusivpartikel, wobei dem solus Christus der Primat gebührt, ist doch der Glaube im reformatorischen Sinne wohl eine menschliche Tat, aber kein menschliches Werk. Im Glauben ist der Mensch auf eigentümliche Weise passiv, weil das Glaubenkönnen eben kein menschliches Vermögen und keine von der Natur mitgegebene Begabung, sondern eine unverfügbare Gabe ist und bleibt. Die Tat des Glaubens aber besteht darin, der Christusbotschaft – dem Evangelium – Glauben zu schenken und darauf im Leben und im Sterben zu vertrauen. |70|

      Solch ein exklusives, nämlich christologisch zugespitztes Verständnis von Glauben erweist sich nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute als anstößig. Mit einem sola gratia mag man sich ja für sich genommen vielleicht noch halbwegs anfreunden. Aber müssen die Exklusivpartikel reformatorischer Theologie in einer pluralistischen Kultur und im Dialog der Religionen nicht ermäßigt werden? Ist das solus Christus nicht enorm intolerant gegenüber nichtchristlichen Religionen? Untergräbt das sola fide nicht jede Ethik und jedes Engagement zur Weltverbesserung? Und lässt sich das sogenannte reformatorische Schriftprinzip, also das sola scriptura, angesichts der Befunde historisch-kritischer Kanonforschung überhaupt noch begründen?

      Nun wird bisweilen auch noch eine fünfte Exklusivpartikel genannt, wenn man die Botschaft reformatorischer Theologie zu bündeln versucht: solo verbo – allein durch das Wort. Daran ist richtig, dass sich der Glaube nach evangelischem Verständnis an das Wort hält, das den Menschen Gottes Gnade und Vergebung bezeugt und zuspricht. Das Glauben provozierende und bezeugende Wort wird als Gottes Wort im Menschenwort verstanden, das letztlich den bezeugt, der als Gottes lebenschaffendes und befreiendes Wort in Person begriffen und geglaubt wird, nämlich Jesus Christus. Auch wenn sich die Formel solo verbo gelegentlich bei Luther findet, so ist ihre Zuordnung zu den reformatorischen Exklusivpartikeln doch erst neueren Ursprungs, nämlich eine Auswirkung der Wort-Gottes-Theologie im 20. Jahrhundert. Gegenüber der Reformationszeit finden in der Wort-Gottes-Theologie aber durchaus inhaltliche Verschiebungen und Neuakzentuierungen statt. Das solo verbo kann auch, wie z. B. bei Eberhard Jüngel,19 an die Stelle des sola scriptura treten und erweist sich damit als Reaktion auf die viel diskutierte Krise des reformatorischen Schriftprinzips. Ich werde im Folgenden bei den vier klassischen Exklusivpartikeln reformatorischer Theologie bleiben und ihr hermeneutisches Potenzial auszuloten versuchen. Das solo verbo möchte ich weder neben noch an die Stelle des sola scriptura setzen, sondern als ein Interpretament verstehen, das sich auf alle vier Exklusivpartikel anwenden lässt, weil es in allen vier Fällen den grundlegenden Zusammenhang von Wort und Glauben thematisiert. Dieses Interpretament ist freilich gegen manche Verengungen zu schützen, die der Wort-Gottes-Theologie |71| von Kritikern zur Last gelegt werden, welche die Wortlastigkeit und das Erfahrungsdefizit evangelischer Gottesdienste bemängeln.20 Es sollte auch nicht vorschnell zum kontroverstheologischen Unterscheidungsmerkmal erklärt werden, um die konfessionelle Differenz zwischen evangelischer und katholischer Tradition zu markieren, wie es gelegentlich in der Auseinandersetzung um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) geschehen ist.21

      Allerdings bleibt die Frage bestehen, ob die Pointen der reformatorischen Rechtfertigungslehre – bei allem Verständnis für das Bemühen um ökumenischen Konsens – in der Gemeinsamen Erklärung hinreichend gewahrt bleiben. Doch wollen wir uns im Folgenden nicht vornehmlich mit dem Stand des ökumenischen Gespräches zur Rechtfertigungslehre beschäftigen, sondern der Frage nachgehen, inwieweit die reformatorischen Exklusivpartikel eine Hilfe bieten, um die Rechtfertigungslehre für die Gegenwart zu erschließen und verständlich zu machen.

      2. Rechtfertigung heute

      Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die reformatorische Rechtfertigungslehre in der Moderne obsolet geworden zu sein, weil die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht, die Frage nach dem gnädigen Gott und die Angst vor Sündenstrafen verblasst sind und die Existenz Gottes überhaupt fraglich geworden ist.22

      Die moderne Infragestellung der Rechtfertigungslehre ist eng mit dem Theodizeeproblem verbunden. Die Theodizee mutiert zur Anthropodizee. |72| Wenn Gott nicht existiert, bleibt nur der Mensch als Handlungssubjekt in der Welt. Von ihm allein hängt das Wohl und Heil der Welt ab. Weil Gott fehlt, tritt an die Stelle der Rechtfertigung des Menschen eine Unkultur des Rechthabens, wie der Schriftsteller Martin Walser schreibt.23 So steht die vermeintliche Obsoletheit der reformatorischen Rechtfertigungslehre in einem eigentümlichen Widerspruch zum heute allgegenwärtigen Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung und zur Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit.24

      Die Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der, modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft. Existenzielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung.25 Gesellschaftliche Konflikte lassen sich daher nicht auf ökonomische reduzieren, sondern sind immer auch moralische und – wie wir in jüngster Zeit wieder sehen – religiöse. Im – auch massenmedial ausgetragenen – Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit26 getrieben.

      Auch die Schuldfrage und damit die Frage nach Vergebung und Annahme sind nicht wirklich verschwunden. Der Sinn der Rechtfertigungsbotschaft erschließt sich freilich nur, wenn nicht allein von unterschiedlichen Gestalten der Schuld, sondern auch von Sünde gesprochen wird. Sünde meint ein verfehltes Gottesverhältnis, das sich in einem verfehlten Selbstverhältnis und einem verfehlten Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen wie zur gesamten Schöpfung manifestiert. Sie bildet die Tiefenstruktur des Kampfes um Anerkennung. Schon in der biblischen Überlieferung lässt sich der Kampf um Anerkennung auf Schritt und Tritt festmachen. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören bereits nach alttestamentlicher Auffassung zusammen. Paulus bestimmt den sündigen Menschen |73| radikal als Feind Gottes. Die paulinische Rechtfertigungslehre aber besagt, dass Gott die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt.

      Die Rechtfertigung des Sünders bedeutet auch, dass dieser sich auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Das Ziel der Rechtfertigung ist ein neues Verständnis der menschlichen Geschöpflichkeit. Indem das gestörte Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, gewinnt der Mensch auch ein neues Verhältnis zur Natur, die ihm nun als Schöpfung aufgeht.

      3. Christus allein

      In der lukanischen Apostelgeschichte findet sich ein steiler Satz, der für heutige Ohren in einer Zeit der religiösen Toleranz und Pluralität, aber auch der religiösen Indifferenz äußerst anstößig klingt. Petrus und Johannes sind vor dem Hohen Rat angeklagt. In seiner Verteidigungsrede sagt Petrus über Christus: «In keinem anderen ist das Heil, auch ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden» (Apg 4, 12).27 Diese kühne Aussage liest sich wie ein Echo auf die einschlägigen Aussagen des Apostels Paulus in Phil 2, 9–11 und Röm 10, 9.

      Martin Luther und die Reformation haben diese Aussagen auf die knappe Formel «solus Christus – Christus allein» gebracht. Beim frühen Luther hat diese Formel allerdings noch nicht jene kirchenkritische Bedeutung,