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500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen


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sind; sie können nicht miteinander wetteifern und sie können nicht wie im Wettstreit um ein einziges umstrittenes Gebiet gesehen werden. Dieses Prinzip durchzieht die theologische Welt von Thomas von Aquin (es ist in sehr interessanter Weise besonders in seiner Christologie am Werke). Der Protest der Reformation beharrt jedoch darauf, dass es auf jeder Ebene der Theologie und Praxis angewandt werden muss. Theologische Idiome oder Gebetsgewohnheiten, die davon ausgehen, dass Gott auf die Initiative des Menschen reagiert, sind vom echt theologischen Diskurs auszuschließen, weil Gottes Handeln in keiner Weise durch menschliches Handeln bedingt ist. In der von Calvin vertretenen Prädestinationstheologie – die umstritten, ja schockierend ist – geht es im Wesentlichen um diese grundlegende Unvergleichbarkeit des erschaffenen und des nicht erschaffenen Akts: zeitliche Abfolge, logische Konsequenz, moralische Angemessenheit – all dies sind ein fatal falscher Rahmen für Überlegungen über das Verhältnis von Gott zur Schöpfung. Paradoxerweise impliziert dies – dem calvinistischen Gedankengut nicht so fremd, wie einige glauben –, dass die Würde des Menschen durch die Erhabenheit Gottes nie bedroht werden kann, so wie auch die Erhabenheit durch die Affirmation konkreter Menschenrechte nicht bedroht werden kann, weil das Endliche und das Unendliche gar nicht miteinander konkurrieren. Der Grundsatz der Reformation, die bedingungslose Souveränität Gottes, sollte uns vor Angst und Groll gegenüber Gott befreien und eine solide Theologie der menschlichen Berufung und der Freiheit im sozialen/politischen Bereich zulassen.

      7. Dies hängt mit dem zweiten positiven Argument zusammen. Wenn die Schrift «Gottes geschriebenes Wort» ist, dann ist sie eine Trägerin desselben bedingungslosen göttlichen Handelns. Die Schrift ist kein vom Menschen zu entdeckendes passives Instrument, das Wahrheiten äußert, die in ein ordentliches Schema von Konzepten gegossen werden können (aus diesem Grund bildet der Fundamentalismus im Wesentlichen eine |59| Antithese zur echten reformierten Theologie); die Schrift lebt und wirkt, ein Feld voller Erinnerungen, Lieder und Maximen, in dem der menschliche Diskurs jederzeit in greifbarer Weise zum Träger einer verbindlichen Kommunikation werden kann und zur Jüngerschaft ermahnt. Dies bedeutet, dass die Schrift in der Kirche immer eine entscheidende Präsenz darstellt. Obwohl manche reformierte Theologen dies so auslegen, dass die Schrift eine genaue Verfassung für die Kirche bildet – was dort nicht vorgeschrieben ist, ist implizit verboten (die Auffassung einiger englischer Calvinisten im 16. und 17. Jahrhundert) –, vertieften die meisten reformierten Denker des Mainstreams das Argument anders. Der Grundsatz, wonach alles im Leben der Kirche daran zu messen ist, ob es der Verkündigung des Evangeliums von Gottes freier Wahl und Gnade dient, ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Schrift ein umfassendes Rechtsbuch für die Kirche darstellt. Die Schrift kann jedoch nie als einfaches Instrument für die Zwecke der Kirche oder als Quelle von Dokumenten zur Veranschaulichung der kirchlichen Lehre gesehen werden. Sie muss als Anfrage von außerhalb des kirchlichen Lebens gehört werden, obwohl die Schrift selbst in das Leben der Kirche eingebunden ist und nicht in einem luftleeren Raum existiert. Sie bleibt ein Buch, das von der Kirche gelesen wird; doch sie wird von der Kirche gelesen, damit die Kirche hören kann, was sie sonst nicht hören würde.

      8. Im Leben der Kirche – und besonders im Gottesdienst der Kirche – werden wir in Frage gestellt. Wir werden zu aufmerksamem Schweigen geführt, zu Lob und Bestätigung; das Lesen und Hören der Schrift ist eine primäre Verkörperung dieser Dimension. Beim Zuhören vernehmen wir nicht automatisch die genaue Äußerung von Gottes Willen; wie bereits festgestellt können wir die Handlungsmacht Gottes keineswegs als automatisch vorhersehbar betrachten. Wir hören aber in der Erwartung zu, einer mehr christusgleichen Art des Seins gewandelt zu werden. Manchmal geschieht dies in einer Weise, die wir sehen und verstehen können. Meistens hingegen geschieht es in einer Weise, die nicht sofort wahrnehmbar ist. Die Disziplin des erwartungsvollen Zuhörens bedeutet aber, dass wir uns immer fragen müssen, was wir Neues über unsere Jüngerschaft lernen sollten. Dabei geht es nicht darum, sich neue Auslegungen von bekannten Texten zurechtzulegen oder radikal neue Doktrinen zu erarbeiten: Es gibt bereits einen Rahmen für die Lehre und Praxis, nämlich die gemeinsame Identität der in Christus Getauften, die allen unseren Handlungen im Gebet Bedeutung verleiht; ohne sie wäre unser Tun sinnlos. Aber innerhalb dieses Rahmens streben wir ständig nach |60| Unterweisung und Vertiefung beim Lesen, beim Dienst und beim Zeugnis. Die bezeichnende Form des Gottesdienstes kann genau die Einstellung des erwartungsvollen Zuhörens, verbunden mit unaufhörlichen Zeichen von Dankbarkeit für das, was wir gehört haben und was uns geschenkt wurde, sein.

      9. Der oft missverstandene reformatorische Grundsatz der offenen Bibel und der allen zugänglichen Schrift bildete vor dem damaligen Hintergrund einen Protest gegen die Behörden, die weder der Gesellschaft als Ganzes noch der vorausgehenden Wirklichkeit von Gottes Kommunikation in der Schrift Rechenschaft schuldeten. Dieser Grundsatz war nicht als Freibrief für unbegrenzte individuelle Auslegungen gedacht, sondern sollte das Leben der Kirche für einen gemeinsamen Prozess des Lesens und Erkennens öffnen, in dem alle Getauften mitsprechen durften. Christi Gnade wurde nicht von einer Priesterkaste an den Leib der Gläubigen weitergegeben; die Priesterweihe bildete in der Kirche ein feierliches, lebenslanges Amt und die Zusicherung ihrer Kontinuität eine ernsthafte Angelegenheit, jedoch keine Einführung in eine regierende Elite. Mit der klassischen calvinistischen Unterscheidung zwischen regierenden und lehrenden Kirchenvätern sollten diesbezügliche Bedenken aufgegriffen werden. Obwohl der lehrende Priester häufig bald genauso autoritär wurde wie das System, das er ersetzt hatte, bildete das Ideal des «dialogorientierten» Leseprozesses, bei dem alle gleich verantwortlich waren, eine zutiefst theologisch motivierte Anstrengung, um dem Grundsatz der Würde aller Getauften Ausdruck zu verleihen. Eine «offene» Bibel gibt der Gemeinde eine gemeinsame Sprache; alle haben das Recht in dieser Sprache zu sprechen und es ist nicht mehr vertretbar, den Zugang zur gemeinsamen Welt zu begrenzen, um die Macht einer regierenden Klasse zu festigen. Darin steckt ein solider Kern von klassischem Republikanismus (ironischer Weise erkennen wir hier einige politische Gedanken von Thomas von Aquin). Der Erfolg dieser Gedanken in der Geschichte verschiedener Nationen überrascht daher wenig. Dies ist aber weder als Anarchie der Liebe noch als Demokratie, wie wir sie heute deuten, zu verstehen. Es konnte das Streben nach einer realen Theokratie genauso beinhalten wie Ideale der (vielleicht gewerkschaftlichen) Mitbestimmung, Diskussion und Entscheidung. Der springende Punkt ist, dass der universale Zugang zu einer gemeinsamen, maßgebend kulturellen Ressource in Schriftform grundsätzlich der Gründung einer theologischen Konversation gleichkam, in der alle verantwortlich waren und die keine Stimmen |61| von vornherein ausschloss. Die von der Reformation nicht immer erfolgreich bewältigte Herausforderung bestand darin, einen Konsens zu finden, der maßgeblich bleiben würde.

      10. Im Sinne dieser Ausführungen ist das positive Erbe der Reformation eng mit der Idee einer (säkularen und kirchlichen) Gesellschaft verbunden, die sich selbst hinterfragt und die auf die vorausgehende Bekräftigung von Gottes Handeln vertraut, so dass Angst und Konkurrenzkampf entfallen; die geeint ist in einem gemeinsamen Gespräch zur Erzählung der Schrift; und die wachsam und aufmerksam für die Möglichkeit neuer Einsichten und Herausforderungen vor diesem Hintergrund ist. Dies ist nicht einfach identisch mit der sogenannten «modernen» Gesellschaft, geschweige denn mit der «aufgeklärten» Gesellschaft, obwohl es letztere sonst nicht geben würde. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die Moderne die Autonomie besonders begünstigt, so dass Gottes Souveränität (trotz der wichtigen Klarstellungen der Reformation) als Gefahr für die menschliche Würde bzw. die Sprache der Rechenschaft gleichermaßen als Gefahr für die individuelle Freiheit gesehen werden. Die reformatorische Vorstellung vom menschlichen Gedeihen beinhaltet Gehorsam: Die tiefsten Freiheiten hängen also mit der Unterwerfung zusammen, sich von einer Realität, einer Wahrheit, die über unsere individuellen Pläne hinausgeht, hinterfragen zu lassen.

      11. Die Moderne erscheint in diesem Lichte als systematisches Missverständnis des Bildes der Reformation. Was oben als zwiespältige Aspekte des Erbes der Reformation bezeichnet wurde, sind im Grunde Umkehrungen der grundlegenden theologischen Prinzipien der Reformation des 16. Jahrhunderts, die vieles, was die Bewegung hinwegzufegen suchte, wieder einführten. Ein bestimmtes Rationalitätsmodell galt als allerwichtigst und normativ; darin zeigte sich ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Wissensansprüchen, die sich nicht mit der Argumentation erwachsener Menschen verteidigen lassen. Die Denker der Reformation beharrten gegenüber der Mystifizierung und Manipulation darauf, dass Gott sich in einer allen zugänglichen Weise mitteilte.