Группа авторов

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen


Скачать книгу

– dargestellt werden konnten. Trotz Luthers ausgeklügelter Theologie zur Dialektik zwischen dem Verborgenen und dem Offenbarten im Wirken Gottes an uns tendierte das protestantische Denken zunehmend zur Annahme, dass wahres Wissen zwangsläufig eine Frage von klarer verbaler Kommunikation sei. Dies war schwer mit |62| dem Verständnis des «unausgesprochenen» Erkennens zu vereinbaren, wie Denker jüngeren Datums es nannten, bzw. mit den materiellen Dimensionen des Erkennens (z. B. der Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen, ein Instrument zu spielen, auf einem Pferd zu reiten, aus Zeichen am Himmel das Wetter vorherzusehen) – ganz zu schweigen von Codes in Gesten, Zeichen und vor allem visuellen Bildern, die das übermitteln, was nicht effizient oder ausreichend in Sprache codiert werden kann. Wörter sollten für alles ausreichen; die Reformation legte deshalb – wie Torrance und andere es festhalten – einen deutlichen Akzent auf das Hören gegenüber dem Sehen als Paradigma des Erkennens.

      12. Letztlich kam es zu einer Polarisierung zwischen den verschiedenen Beschreibungen des menschlichen Erkennens. Entweder wissen wir, weil wir in der Schrift die einfachen Aussagen der göttlichen Wahrheit hören/lesen, oder wir lesen aus der Natur und Umwelt alles heraus, was wir wissen müssen, und ignorieren Wissensansprüche, die bestimmten Prozessen der Erkenntnisgewinnung widersprechen. Wir geraten in eine sinnlose und törichte Pattsituation zwischen «Wissenschaft» und «Religion», die in unserer Kultur immer noch in vielen Köpfen vorherrscht. Um zu einer gesamtheitlichen Sicht des Erkennens zurückzufinden, müssen wir wie bereits angedeutet die besten Erkenntnisse der Reformation gegen ihre eigenen Verzerrungen stellen.

      13. Luthers Revolution des theologischen Denkens implizierte, dass keine Umstände der Welt eine offensichtliche Bedeutung besaßen, die als Instrument der menschlichen Macht ergriffen und eingesetzt werden konnte. Um die Verborgenheit Gottes im gekreuzigten Christus zu verstehen, mussten wir vor dem potenziellen Abgrund der Bedeutungslosigkeit zum Schweigen gebracht und kleingemacht werden, damit wir letztlich frei wurden, Gottes Gabe anzunehmen, ohne auf unsere eigenen anmaßenden Vorhaben, Bedürfnisse und Ehrgeiz zu zählen. Die Klarheit der Wörter allein ändert nichts an der Notwendigkeit dieser Enteignung; je mehr wir uns von einer Sprache abwenden, die den Anspruch hat, die Welt umfassend abzubilden und in ein schlüssiges Erklärungssystem einzufügen, desto mehr erkennen wir, dass unser Lernen als Menschen an die Fähigkeit geknüpft ist, bewusst oder unbewusst auf Zeichen und Signale zu reagieren. Unsere Argumentation muss der für das Thema geeigneten Methode folgen; sie muss davon geprägt sein und soll etwas vom Leben dieses Themas «mitteilen.» Ohne dabei die spätmittelalterliche Besessenheit vom symbolischen Lesen von Texten und Welt wiederzuerwecken, kehren wir zu einer Sensibilität für die Kommunikation |63| zurück, die nicht einfach verbal ist, bzw. wenn sie verbal ist, mit Ironie und Umwegen arbeitet (sehr klar in der protestantischen Poetik von Fulke Greville oder George Herbert im 16. und 17. Jahrhundert).

      14. Die Schwäche des Nachdenkens über die Kirche, die ich als weiteres zwiespältiges Erbe der Reformation beschrieben habe, geht auf die komplexe Verzerrung des Begriffs der «unsichtbaren» Kirche zurück. Einmal mehr: Was ursprünglich als Argument zur Betonung der Verborgenheit von Gottes Handeln und damit dessen uneingeschränkter Freiheit und Transzendenz erarbeitet wurde, entwickelte sich im populären Protestantismus zu einer starren Skepsis gegenüber Doktrinen, wonach die christliche Gemeinde für die Formung der christlichen Identität notwendig ist. Die Unklarheit der Grenzen der Kirche, die Wahrheit, die der junge Calvin äußerte, als er «halb begrabene Kirchen» wahrnahm, der Widerstand dagegen, die institutionelle Zugehörigkeit zum Träger einer beinahe automatischen Gnade zu machen: All dies weckte bei vielen das unbestimmte Gefühl, dass das christliche Selbstverständnis nichts sichtbar Gemeinschaftliches aufweisen müsse. Auch hier helfen uns die Grundsätze der Reformation selbst, der Verzerrung zu entgehen – vor allem die offene Bibel als Bereich der gemeinsamen Sprache. Der Einzelne, der sich in die private Frömmigkeit flüchtet (in einer Weise, die Calvin und Luther schockiert hätte), hat noch nicht begriffen, dass eine innere Lebenswelt abseits des geteilten Erkennens und Prüfens von Gottes Willen genau jenen Rückzug des menschlichen Geistes auf sich selbst darstellt, der die Sündenherrschaft festigt. Zu betonen, dass die Fülle der Gnade beim Abendmahlsteilnehmer vom Glauben des Kommunikanten abhängt, ist eine verständliche Reaktion auf den mechanischen Ansatz ohne die Gnade, womit Gottes Gegenwart automatisch gewährleistet wurde; doch die populäre Frömmigkeit deutete dies rasch so, dass die äußere Form einen rein praktischen Weg zur Verstärkung der geistigen Lektion bildet und keinen gemeinschaftlichen objektiven Akt, Gott eindringlich zu bitten, durch das tatsächliche Wirken des Geistes von sich selbst und von seinem Werk in Christus Zeugnis abzulegen. Der Glaube an die bedingungslose Hoheit der Gnade bedeutet nicht, dass wir die Gnade eher in unseren privaten Erfahrungen als Einzelne am Werk sehen müssen als anderswo, ganz im Gegenteil. Der Glaube relativiert private Erfahrungen genauso maßgeblich, wie er gemeinsame Erfahrungen relativiert. Unser gemeinsames Gebet führt uns hin zur bleibenden Wirklichkeit der Schrift und des Sakraments als objektive Zeugen von Gottes |64| Handeln, unabhängig von unserer subjektiven Befindlichkeit oder unseren Bestrebungen.

      15. Wie die richtig verstandene reformatorische Theologie die Polarität zwischen Gemeinde und Einzelnen mit dem Hinweis auflöst, dass Gott beiden gegenüber frei handelt, so löst sie auch das quälende und hartnäckige Gefühl von Rivalität zwischen Gott und der Schöpfung auf – eine Rivalität, die wie oben festgestellt viele zur Annahme führt, dass Gott zu entthronen sei, damit die Menschheit frei werde. Gottes Souveränität ist nicht nur eine überhöhte Art der menschlichen Macht. Wenn wir dies begreifen, erkennen wir allmählich die radikalen Implikationen der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes und der Absicht Gottes, dem Menschen über Jesus Anteil am göttlichen Leben zu verleihen. Wie Calvin richtig erkannte, ist diese Einsicht für reformatorischeTheologie nur dann störend, wenn die Würde oder das Gedeihen der Menschen für Gott bedrohlich sein kann, was ex hypothesi undenkbar ist. Die kompromisslose Betonung der absoluten Differenz von Gottes Macht sollte zu einer verstärkten theologischen Bekräftigung der menschlichen Würde führen: Kein Tribut, der der endlichen Menschheit gezollt wird, tut dem, was Gott geschuldet wird, in irgendeiner Weise Abbruch. Götzendienst bedeutet, der Schöpfung das zuzuschreiben, was allein Gott gehört, d. h. Geschöpfe mehr denn nur als Geschöpfe zu behandeln. Die wahre christliche Herausforderung besteht darin, die Menschheit für das zu lieben und zu verehren, was sie ist – sterblich und verletzlich und doch unermesslich glorreich, weil Gott sie als Ort der göttlichen Offenbarung und Wirkung geschaffen hat. Um die Brücke zu den oben behandelten Themen zu schlagen: Unsere Fähigkeit zu radikaler Selbstbefragung als Individuen und als Gesellschaft wird durch diese grundlegende Überzeugung möglich, dass unsere sterbliche und fehlbare conditio humana in ihrer Zerbrechlichkeit von Gott, der das Menschsein erlöst und umwandelt, aber nie aufhebt, bestätigt wird. Mit andern Worten: Wir können alles an unserem Menschsein in Frage stellen – seine genauen Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen – und wir können die gefallene Natur mit fast schon ätzendem Pessimismus betrachten, aber wir können nicht an der Würde zweifeln, die Gott uns ohne Bedingungen verliehen hat – ein Gott, der nicht eifersüchtig ist auf unser Menschsein, weil das göttliche Leben nicht denselben Raum bewohnt wie wir.

      16. Dass die reformatorische Theologie es vermochte, diese Aussage zu formulieren, verleiht ihr in den heutigen kulturellen Kämpfen Bedeutung. Christliche Hoffnung zu verkünden bedeutet keineswegs, die |65| Fähigkeiten oder den Charakter des Menschen optimistisch zu schildern; die theologische Perspektive erlaubt uns, das Schlimmste zu befürchten (genauso wie in der populären Assoziation der Denkweise von Augustinus und von Calvin), aber sie erlaubt uns nicht, geringer von unserem Menschsein zu denken, als der Schöpfer es tut. Indem sie uns die Sprache und die Welt der Schrift als das Haus vorschlägt, das wir gemeinsam bewohnen, und als den Dialekt, den wir sprechen, vermittelt sie uns, dass wir eine Richtung und sogar eine Transformation finden könnten, wenn wir die Geschichte von Gottes Umgang mit einem Volk, mit dem er einen Bund abschließt, zu unser eigenen machen. Wer von christlicher Hoffnung spricht, spricht von der Treue Gottes; unsere gesellschaftliche Vision beruht auf dem Glauben an einen Gott, der aus freien Stücken verspricht, der Gott jener zu sein, die seine Liebe weder verdient noch erzwungen haben. Die radikale Andersheit der göttlichen Liebe und Hingabe und demzufolge die nicht reduzierbare, geheimnisvolle Tragweite von Gottes Wahl beinhalten eine systematische Verehrung der Menschen, unabhängig von ihrem Status, von Leistung oder ethischem Verhalten.