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500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen


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      17. Dieses Erbe fordert verschiedene negative Kräfte heraus. Es legt Gewicht auf ein Reifwerden, das mit dem Sich-selbst-Infragestellen umgehen kann, und stellt so die Publikums- und Medienkultur infrage, bei der die Verwaltung der persönlichen Bilder im Vordergrund steht. Ein offener, ehrlicher Austausch in der persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzung ist dafür wesentlich. Dazu muss grundsätzlich die Bereitschaft bestehen, die eigenen Träume, unangreifbar im Recht zu sein, zum Schweigen zu bringen. Angesichts der vagen Spiritualität, die leicht in tröstliche und sentimentale «Innerlichkeit» umschlägt, ist die öffentliche und persönliche spirituelle Praxis notwendig, um aufmerksam und genau zuzuhören und für das bereit zu sein, was dem faulen Ich nicht angenehm ist – altmodisch gesagt, um auf die «Stimme Gottes» zu hören. Im Unterschied zum allgemeinen Widerwillen, in mehr als lokalen oder kommunalen Erzählungen zu denken, bietet dieser Ansatz eine universale Erzählung der göttlichen Gnade und Wahl, die sich auf einzigartige Weise in der Schrift niederschlägt und sich auf Ereignisse konzentriert, in denen das echte Bild des Menschseins im gekreuzigten und auferstandenen Christus wiederhergestellt wird. Calvin selbst weist den Gedanken von sich, dass unsere Rettung nur in einer formalen, äußerlichen und mechanischen Beziehung zu einem Christus steht, der uns für |66| gerecht erklärt hat, aber keinen echten Wandel in uns bewirkt: «Er teilt mit uns sein Leben und alle Segen, die er vom Vater erhalten hat.» (Bibelkommentar zu Joh 17, 21).

      18. Entgegen der angstvollen fundamentalistischen Religion bekräftigt die reformatorische Tradition einen Gott, der von unseren Bemühungen und Erfolgen weder überzeugt werden kann noch muss: Die Sprache unseres Glaubens und besonders unseres Gebets wird bestimmt von der Dankbarkeit für die unverdiente, grundlose Liebe und Vergebung und von der Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er Gott ist. Entgegen auch einem rebellischen oder missgünstigen Atheismus, der fremder und zwingender Macht gegenüber misstrauisch ist, präsentiert die Reformation einen Gott, der kein Interesse daran hat, seine Geschöpfe herabzusetzen und dessen uneingeschränkte souveräne Freiheit so weit geht, dass er diese Geschöpfe keineswegs schikanieren oder nötigen muss; Gottes freier Wille ist ein Wille der Vergebung, der Heilung und der Weitergabe der göttlichen Liebe und Wonne an die Schöpfung.

      19. Hier zeichnen sich die Umrisse einer Theologie ab, die eine anspruchsvolle spirituelle Disziplin voraussetzt, einen nüchternen und bedachten Gebetsstil, eine Freiheit, die eigene Integrität ständig und ohne Panik prüfenden Blicken auszusetzen und dasselbe für die Gemeinde und ihre Einrichtungen zu tun, ein christozentrisches Verständnis der menschlichen Geschichte und eine radikale politische Vision, die Ungleichheiten und willkürliche Herrschaft jeder Art infrage stellt. Kurz: Die Leitthemen der wirklichen reformatorischen Theologie stellten nicht nur die radikalsten Ideen und Gedanken der Kirchenväter wieder her; sie bieten auch eine ebenso starre und profunde Hilfe zum Umgang mit den heutigen gesellschaftlichen Krisen an wie die Tradition der katholischen Soziallehre – nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Auffassungen, wobei der Beitrag der reformatorischen Tradition vor allem in der Betonnung der unvergleichlichen Souveränität Gottes liegt, die uns von der moralischen Beurteilung von Verdiensten befreit und uns einlädt, in unseren Taten und Beziehungen die «grundlose» Treue zum Liebesversprechen, das zu Gott gehört, zu widerzuspiegeln.

      20. Die größten Theologen der Reformation waren keine Zeloten, die die Geschichte und die Symbole aus der christlichen Gesinnung löschen wollten, noch waren sie Individualisten, die sich der Autonomie ihres Gewissens verpflichtet hätten, noch Theokraten, die der ganzen menschlichen Gesellschaft eine unveränderte Version des mosaischen Gesetzes aufzwingen wollten, noch Rationalisten, die, von Wörtern besessen, |67| Schweigen und Zeichen hintanstellten, noch biblische Literalisten mit einem mechanischen Inspirationsmodell. Versehen der Geschichte brachten das reformatorische Christentum jedoch in unterschiedlichen Zusammenhängen mit all diesen Kreisen in Verbindung; natürlich gibt es bei Luther, Calvin, Melanchthon oder Zwingli Elemente, die solche Gedanken fördern könnten. Die gängige Vorstellung vom Protestantismus im Westen wird immer noch stark von solchen Klischees beherrscht. Doch um die Wesensmerkmale und den Wert des Erbes der Reformation für die Gegenwart zu formulieren, müssen wir sie aus den grundlegenden Erkenntnissen und Fragestellungen der Reformatoren lösen.

      In meinem bescheidenen Beitrag zu diesem Unterfangen habe ich versucht, darauf hinzuweisen, wo wir meiner Meinung nach die Schwerpunkte setzten sollten. Hilfreich und ermutigend war für mich eine Denkströmung in jüngeren Arbeiten zu Calvin, die ihn als humanistischen Gelehrten betrachten, der Erkenntnisse aus den ersten Jahrhunderten des Christentums zu gewinnen versucht und einen neuen Fokus auf die eucharistische Transformation des Gläubigen und der Gemeinde anbietet; kein Logiker, der die allmächtige Freiheit Gottes auf Kosten der Vernunft und der menschlichen Würde etablieren will. Calvin birgt in sich eindeutig ein «tragisches» Element, das besonders in seiner Betonung der gründlichen Verderbtheit der gefallenen Menschen und der (daraus folgenden) Willkür der Prädestination sichtbar wird. Calvin und weitgehend auch die calvinistische Tradition tun sich damit genauso schwer wie Augustinus. Allerdings handelt es sich nur um eine Nebenströmumg seines Denkens, die wir relativieren sollten. Am bedeutsamsten ist die umfassende Erforschung der Leitmotive der erneuerten Theologie, die der menschlichen Reife derart große – politische und psychologische – Freiheit einräumt und gleichzeitig die menschliche Fähigkeit in einem schonungslos realistischen Rahmen behält. Ein christlicher Glaube, der vom Gläubigen keinerlei Bevormundung verlangt, ist wohl das wichtigste Streben der Reformation des 16. Jahrhunderts; dieses Bestreben ist heute gebotener denn je, wenn der christliche Glaube überzeugen, gewinnen und bekehren soll.

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      Ulrich H. J. Körtner, Wien

      Exklusiver Glaube – Das vierfache «Allein» reformatorischer Theologie18

      1. Reformatorische Theologie

      Wenn wir darüber nachdenken wollen, was es heute bedeutet, evangelisch zu sein, müssen wir zunächst zwischen «evangelisch» und «protestantisch» unterscheiden. Das bevorstehende Reformationsjubiläum 2017 bietet Anlass, sich auf die zentrale Botschaft der Reformation zu besinnen, die das Evangelische im Sinn des Evangeliumsgemäßen neu zur Geltung gebracht hat. Das Evangelium von Jesus Christus aber ist ein kritischer Maßstab für die Verkündigung aller Kirchen und Konfessionen, der sich durchaus gegen bestimmte Entwicklungen und auch heutige Tendenzen im Protestantismus richtet. Die Frage, was heute evangelisch ist, soll auch nicht allein als Ausdruck konfessioneller Selbstvergewisserung, sondern in ökumenischer Weite gestellt werden. Ich verstehe das Reformationsjubiläum als Einladung an alle Kirchen und Konfessionen, darüber nachzudenken, inwiefern die Einsichten der Reformation von ökumenischer Tragweite sind, wenn es heute darum geht, sich auf das Evangelium und das Evangeliumsgemäße zu besinnen.

      Die nachfolgenden Ausführungen gehen davon aus, dass die Lehre von der bedingungslosen Annahme und Rechtfertigung des Gottlosen und die aus ihr abgeleitete Kirchenkritik zwar nicht der alleinige Inhalt, wohl aber das theologische Herzstück reformatorischer Theologie sind. In ihnen gründen das evangelische Verständnis christlicher Freiheit wie auch das evangelische Kirchenverständnis und sein Kerngedanke vom Priestertum aller Gläubigen.

      Nach reformatorischer Auffassung beruht die Rechtfertigung auf der bedingungslosen Vorgabe des Heils und damit auf der klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und dem tätigen Wesen des Glaubens. Diese Unterscheidung wird durch ein Geviert von Exklusivbestimmungen zum Ausdruck gebracht, deren Sinn für die Gegenwart erschlossen werden soll: Allein durch den Glauben – sola fide – wird der |69| Mensch vor Gott gerechtfertigt, und zwar durch den Glauben an Jesus Christus, weil allein Christus – solus Christus – das Heil und die Rettung des sündigen Menschen erwirkt. Das geschieht allein aus Gnade – sola gratia – und wird gültig bezeugt allein durch die Schrift – sola scriptura – als der Quelle und dem Maßstab des rechtfertigenden Glaubens, des Lebens aus dem Glauben, aller Verkündigung und der Theologie.

      Die Pointe der reformatorischen Botschaft erschließt sich nur, wenn man beachtet und bedenkt, wie sich die vier genannten Exklusivpartikel gegenseitig interpretieren. Keine von ihnen darf isoliert genommen werden. Dass das Heil des Menschen allein an Gottes Gnade hängt, konnte