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Gemeinsames Gebet


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viele benutzen es als «liturgisches Nachschlagewerk», weniger als die Hälfte (44 %) gibt an, es als «Altaragende» zu gebrauchen.139 Darin spiegelt sich eine Entwicklung, die seit den 1960er Jahren ohnehin greifbar ist, die das Evangelische Gottesdienstbuch aber sicher noch weiter befördert hat: Pfarrerinnen und Pfarrer sehen den Gottesdienst als ihre Gestaltungsaufgabe und keineswegs als einigendes Band der Kirche!140 |50|

      Gegenwärtig erlebe ich im evangelischen Bereich in Deutschland eine polare Ausdifferenzierung, wenn es um die Frage geht, wie wir agendarisch weiter verfahren könnten. Da gibt es die, die eine deutliche Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Agende artikulieren. Wir bräuchten, so sagen viele, ein Musterbuch für den traditionskontinuierlichen Gottesdienst: ein Werk, das Texte von so hoher sprachlicher Dignität und traditioneller Verwurzelung bietet, dass es zugleich «Archiv» in kulturwissenschaftlichem Sinn als auch konkretes Werk für die Nutzung im Gottesdienst sein kann. Ein solches Buch brauche nicht durch kirchenamtliche Normierung verbindlich gemacht werden, sondern müsse schlicht überzeugen, weil es so gut sei.141

      Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einen solchen Schritt für völlig utopisch halten, die aber zugleich das Evangelische Gottesdienstbuch mit seinem Integrationsanliegen für gescheitert erklären. Im Gegenteil zeige die zunehmende Pluralisierung liturgischer Milieus, dass jede Idee einer Vereinheitlichung scheitern müsse. Je nach Individualität der Gemeinde, je nach Persönlichkeit des gestaltenden Liturgen und je nach Milieusituation im gesellschaftlichen Umfeld müsse und werde Gottesdienst äußerst unterschiedlichen Logiken folgen und daher auch äußerst unterschiedliche Gestalten hervorbringen. Natürlich könne es dazu Anregungen geben – aber weder ein «Musterbuch» wäre da hilfreich noch eine am Strukturbegriff orientierte Agende.

      Brauchen wir in dieser Situation, so frage ich, vielleicht ein Book of Common Prayer? Ein Buch, das nicht einfach nach dem Lego- oder Baukastensystem mit unterschiedlichen Strukturen spielt, sondern Textzusammenhänge im Kontext schlüssiger Feierdramaturgien bietet, die durch ihre sprachliche und theologische Qualität überzeugen? Und dies gleichzeitig nicht in einer Form tut, sondern in mehreren, jeweils in sich logischen und aufeinander bezogenen Formen?

      2.3 Gemeinschaft der Kirchen und individuelle Feiergestalt

      Mit dem Evangelischen Gottesdienstbuch geschah liturgiehistorisch Bedeutsames. Zum ersten Mal gab und gibt es eine gemeinsame Agende der Unierten und der Lutherischen Kirchen in Deutschland – und gleichzeitig ein Gottesdienstbuch, das im vierten Leitkriterium bewusst von dem Zusammenhang des evangelischen Gottesdienstes mit den anderen Kirchen in der Ökumene spricht.

      Wollen kann man das mit Sicherheit, aber ist es faktisch möglich? Ich habe eben schon die Klugheit kirchenleitender Organe bei der höchst unterschiedlichen |51| Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuchs erwähnt. Nun blicke ich aus der Perspektive der Rezipienten. Und aus dieser gilt: Gottesdienst wird nicht in Strukturen erlebt, sondern in Gestalten! Die Berneuchener, die ich oben mit ihrer ästhetisch formatierten Kritik an einem formalen Strukturbegriff zitiert habe, haben m. E. Recht.

      An dieser Stelle eine persönliche Beobachtung: Ich war in den vergangenen drei Jahren berufsbedingt ein Wanderer zwischen drei verschiedenen Landeskirchen – und damit: drei verschiedenen Gottesdienstkulturen –, in denen sämtlich das «Evangelische Gottesdienstbuch» gilt und eingeführt ist. Aus Bayern kommend, einer lutherischen Landeskirche, ging ich nach Wittenberg, der Lutherstadt, die aber nicht auf dem Boden einer lutherischen Landeskirche liegt, sondern auf dem Boden der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), die in sich wiederum die alte thüringische lutherische Landeskirche und die unierte Kirche der sogenannten Kirchenprovinz Sachsen aufgenommen hat. Von dort zog ich knapp 70 km weiter südlich nach Leipzig – und befinde mich nun auf dem Boden der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens. Drei Kirchen, ein Gottesdienstbuch – und drei völlig verschiedene Gottesdienstkulturen, die dann natürlich jeweils am Ort nochmals völlig unterschiedlich wahrgenommen werden, wenn ich in der Thomaskirche in Leipzig, in der Schlosskirche in Wittenberg, in der Lorenzkirche in Nürnberg oder in einer kleinen Dorfkirche irgendwo am Stadtrand oder in der Provinz feiere, wenn fünf Menschen anwesend sind oder 200, wenn ein älterer Pfarrer als Liturg agiert oder eine Vikarin. In Sachsen beginnt der Gottesdienst vielfach noch immer mit dem gesungenen (!) Votum. Auch ein gesungenes Kollektengebet und ein gesungener aaronitischer Segen gehören häufig dazu. In Bayern und in Wittenberg wäre dies undenkbar – und meine bayerischen Freunde, die mich besuchen, reagieren in einer Mischung aus amüsiert, verwundert und berührt auf diese Eigentümlichkeit. Die gleiche Struktur des Gottesdienstes spielt da keine Rolle. David Plüss hat in einem 2003 erschienenen Beitrag den Begriff der Stiltypen hilfreich eingeführt, um das, was ich mit diesen Beobachtungen umschreibe, näher zu bestimmen. Erlebt werden weit weniger unterschiedliche «Theologien» des Gottesdienstes oder unterschiedliche «Konfessionen», sondern unterschiedliche Stile, zu denen das Ensemble von Texten und Gestalten gehört.142

      Gottesdienst lebt nicht in Strukturen, sondern in Gestalten. Struktur ist im Unterschied zu Gestalt ein analytischer Begriff. Strukturen werden nicht wahrgenommen, |52| sondern analytisch ermittelt. Helmut Schwier schreibt: «[…] als Gegenbegriff zu ‹Gestalt›, als das[,] was zu sehen ist, ist ‹Struktur› das, was nicht zu sehen ist».143

      Schon allein aus diesem Grund sollte uns – so meine ich – jeder Vereinheitlichungsfuror und jede «von oben» gesteuerte Normierung fern liegen. Wir könnten uns dabei auf Luther berufen, der schon im 16. Jahrhundert eine gewisse Gelassenheit zeigte: «Denn ich nicht der Meinung bin, das ganze deutsche Land so eben müßte unser wittenbergische Ordnung annehmen. Ists doch auch bisher nie geschehen, daß die Stifte, Klöster und Pfarren in allen Stücken gleich wären gewesen; sondern fein wäre es, wo in einer jeglichen Herrschaft der Gottesdienst auf einerlei Weise ginge und die umliegenden Städtlein und Dörfer mit einer Stadt gleich bardeten; ob die in andern Herrschaften dieselben auch hielten oder was besonders dazu täten, soll frei und ungestraft sein.»144

      Was wir bräuchten und was uns evangelischerseits verbinden könnte, wäre wohl eher eine Haltung (ich könnte moderner sagen: eine Spiritualität) des gemeinsamen Gebetes, auf die ich im folgenden Punkt näher eingehe.

      2.4 Beteiligung der Gemeinde – aber welche?

      Das erste (!) leitende Kriterium für das Evangelische Gottesdienstbuch lautet: «Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.»145 Hingewiesen wird im ausführenden Text auf das «Priestertum aller Getauften», auf die Verantwortung der Gemeinde und die Vielfalt der Geistesgaben. Mit allen diesen Gaben solle sich die Gemeinde «am Gottesdienst beteiligen».146 Das Kriterium wird so wichtig, dass der erste Band der «Neuen Folge» des liturgiewissenschaftlichen Standardwerks Leiturgia den Titel erhält: «Gemeinde hält Gottesdienst» – und damit das Verb «halten» dem Amtsträger entzieht und auf die Gemeinde bezieht.

      Immerhin, so ließe sich mit einem Augenzwinkern sagen: Mehr als 30 Jahre, nachdem «Sacrosanctum Concilium» (SC), die erste Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, die «participatio actuosa», die aktive Beteiligung, zum grundlegenden Prinzip erklärt hatte, tat dies dann auch die evangelische Kirche. In SC 14 heißt es: «Die Mutter Kirche wünscht sehr, alle Gläubigen möchten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk, ‹das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, der heilige Stamm, das Eigentumsvolk› (1Petr 2,9) kraft der Taufe Recht und Amt besitzt» («plena, |53| conscia atque actuosa liturgicarum celebrationum participatio»). Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, seit den Anfängen der Liturgischen Bewegung, war die aktive Beteiligung eines der Leitworte der liturgischen Reform. Jetzt spielte es in «Sacrosanctum Concilium» eine entscheidende Rolle für die Neuausrichtung der Liturgie. Und gleichzeitig begann die Diskussion, was aktive Beteiligung eigentlich heißen und bedeuten solle. Als der vorige Papst dieses Amt noch nicht innehatte und einfacher Kardinal in Rom war, verfasste er sein Buch «Der Geist der Liturgie». Im Blick auf die participatio actuosa warnt er vor Veräußerlichungen und erkennt, dass es dabei nicht darum gehe, dass möglichst viele Aufgaben im liturgischen Kontext von möglichst vielen Teilnehmenden übernommen werden.