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Gemeinsames Gebet


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der Predigt doch eine wesentliche und für das Verständnis des Gottesdienstes nachhaltige Verschiebung. Auch wenn Luther selbst darüber nicht eigens reflektiert, war ihm die Tragweite dieser Predigt-Fokussierung im Wechselspiel mit der Beibehaltung der überkommenen Mess-Struktur wohl bewusst. So überlegt Luther noch 1523, ob die Predigt insgesamt vor der Messe gehalten oder als integrierter Bestandteil in die Messe einwandern soll.121 Dass das Ganze der «Messe» einen neuen Akzent durch das Schwergewicht der Predigt erhält, war klar spürbar – und Karl-Heinrich Bieritz spricht zurecht von einem neuen «Vorzeichen», das die Messe/der Gottesdienst durch die Wort-Betonung Luthers erhält.122 In der Confessio Augustana heißt es: «So ist auch in den offentlichen Ceremonien der Messe keine merklich Anderung geschehen, dann daß an etlichen Orten teutsch Gesänge, das Volk damit zu lehren und zu uben, neben lateinischem Gesang gesungen werden, sinetemal alle Ceremonien furnehmlich darzu dienen sollen, daß das Volk daran lerne, was ihm zu wissen von Christo not ist.»123

      Inzwischen ist das Problem einer pädagogisch funktionalisierten Liturgie im evangelischen Kontext vielfach beobachtet worden. Joachim Stalmann etwa warnte immer wieder vor dem Missverständnis, «das Fest der Gegenwart des Auferstandenen in der Gemeinde mit der Lehrveranstaltung eines amtierenden Theologen zu verwechseln. Dieses Mißverständnis erreicht in der Aufklärung einen Höhepunkt. Es sitzt aber tief in jedem evangelischen Theologenhirn.»124

      Wahrscheinlich ist es nicht falsch, diese Fokussierung auf eine pädagogisch orientierte Liturgie mit einem Wandel der gesellschaftlichen Leitparadigmen in Verbindung zu bringen, wie sie vor allem Hans Ulrich Gumbrecht in seinem kleinen, m. E. aber beeindruckenden Buch «Diesseits der Hermeneutik» benennt. Gumbrecht spricht von dem Umbruch von einer mittelalterlichen Präsenz- zu einer neuzeitlichen Sinnkultur.125 War die mittelalterliche Kultur von der Gegenwart der |43| Dinge und von der Körperlichkeit der Interaktion geprägt, so gehe es neuzeitlich um die geistig-intellektuelle Distanz, um die Entzauberung der Dinge und um das Verstehen. Der Literaturwissenschaftler Gumbrecht erwähnt selbst das Beispiel des Abendmahls: Wurden Leib und Blut Christi im Mittelalter in denkbar unmittelbarstem Realismus im Abendmahl als gegenwärtig betrachtet, so seien Brot und Wein seit dem 16. Jahrhundert als symbolisch-hermeneutisch interpretierbare Zeichen für Christi Leib und Blut verstanden worden.126

      1.3 Gottesdienst als Gott-menschlicher Wortwechsel. Ein anderer Akzent Luthers und seine gegenwärtige Bedeutung

      Martin Luthers Predigtbegeisterung mit ihren problematischen liturgischen Konsequenzen markiert nur einen, wirkungsgeschichtlich allerdings bedeutsamen Aspekt der lutherischen Reformation in liturgicis. Ein anderer wird etwa in der berühmten Kirchweihpredigt Luthers in Torgau aus dem Jahr 1544 erkennbar, aus der ein Satz eine erstaunliche Karriere gemacht hat und zu einem liturgietheologischen Leitsatz wurde. Luther wollte das Haus weihen, damit «nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang».127 Seit dem 19. Jahrhundert nennt man diese Worte aus einer Predigt die «Torgauer Formel». Wechselrede von Gott und Mensch – das ist der Gottesdienst nach dieser Bestimmung oder zugespitzt formuliert ein Gott-menschlicher Wortwechsel. In dieser Bestimmung erscheint Gottesdienst dann nicht im pädagogisch-verkündigenden Paradigma, sondern als Doxologie und d. h. im Spiel- und Wirkungsraum, der durch die hebräische Verbwurzel barak eröffnet wird, die beides, «segnen» und «preisen», bedeuten kann: Anabase und Katabase.

      Natürlich ist die Wirklichkeit komplexer; dennoch aber erkenne ich in den beiden Paradigmen – dem der Verkündigung und dem der Doxologie – zwei Weisen, den (nicht nur: evangelischen) Gottesdienst zu verstehen und zu beschreiben. Und es scheint mir keine Frage, welches der beiden Paradigmen in der primär sinnkulturell bestimmten Neuzeit den Sieg davon getragen hat. So flächendeckend, dass inzwischen Kritiker der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils – wie etwa Alfred Lorenzer mit seiner beeindruckenden Schrift «Das Konzil der Buchhalter» oder Martin Mosebach mit seiner «Häresie der |44| Formlosigkeit» – davon sprechen, dass Wittenberg siegreich und nun auch der katholische Gottesdienst statt Kultus und Feier Lehrveranstaltung geworden sei.128 Auch evangelischerseits kämpfen viele dagegen an. Der Erlanger Praktische Theologe Martin Nicol etwa legte 2009 ein engagiertes Plädoyer für ein doxologisches Gottesdienstverständnis vor, in dem er den Gottesdienst als «Weg im Geheimnis» beschreibt, von einer «doxologische[n] Wirklichkeit» spricht, die im Gottesdienst Ereignis werde, und eine «zweite Kultfähigkeit» imaginiert, die evangelische Christenmenschen unserer Tage (und vielleicht auch Katholiken) wieder lernen müssten.129

      Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist es kaum verwunderlich, dass das Evangelische Gottesdienstbuch aus dem Jahr 1999 im Vorwort der Altarausgabe mit Martin Luthers Torgauer Formel beginnt – und gleich danach die kritische Frage stellt: «Können die Menschen das [scil. das Wechselspiel von Gottes Wort und menschlicher Antwort] in den Gottesdiensten in unseren Gemeinden, kirchlichen Diensten und in den Medien erleben?»130

      Die Frage scheint mir berechtigt und problematisch zugleich. Berechtigt ist sie, weil es sein könnte, dass die vielfältigen Aporien des evangelischen Gottesdienstes der Gegenwart vor allem unter der theologischen Perspektive in den Blick genommen werden müssten, dass also vordringlich die Frage gestellt werden muss, wie wir (Pfarrerinnen und Pfarrer, Gemeinden, Liturgiekommissionen etc.) den Gottesdienst theologisch verstehen und auf diesem Hintergrund zu Gestaltungsfragen voranschreiten.

      Problematisch erscheint die Frage, weil sich – so, wie sie gestellt ist, – eine Logik einzuschleichen droht, die dem Wort-Wechsel von Gott und Mensch eher entgegenläuft. Stattdessen zeigt sich die Logik eines kirchlichen Anbieters, der für Rezipienten ein Angebot macht. Wenn ich frage, ob «die Menschen das in den Gottesdiensten in unseren Gemeinden […] erleben» können, stelle ich mich jedenfalls tendenziell den Menschen als den Besuchern der Gottesdienste gegenüber – statt die Ekklesia als miteinander verwoben, als zugleich aktives und passives Subjekt und Objekt des Gottesdienstes zu begreifen. Es ist dies im Extremfall eine völlig verschobene Perspektive zum kirchlichen Charakter der Liturgie. Reformatorisch – und hier ist es sehr gut möglich, diese allgemeine Formel zu verwenden |45| und keineswegs ausschließlich von einer «lutherischen» Perspektive zu sprechen – bedeutet der Gottesdienst jenen Ort, an dem Kirche jeweils neu konstituiert, ins Leben gerufen wird, indem Menschen das göttliche Wort in, mit und unter den Worten der Bibel/der Predigt und den Sakramenten hören und Gott in Gebet und Loblied antworten. Keineswegs ist es dagegen so, dass ein kirchlicher Anbieter das ihm irgendwie «vorliegende» Evangelium möglichst anschaulich oder unterhaltsam, erlebnisintensiv oder dramaturgisch anregend einem Publikum darbietet. Die ecclesia ist jene congregatio sanctorum, in der das Evangelium gepredigt und die Sakramente gemäß dem Evangelium verwaltet werden.131 Das «Gegenüber», das im evangelischen Gottesdienst Gestalt gewinnt, ist das von befreiendem und herausforderndem Wort und einer durch dieses Wort konstituierten Gemeinde. Das «Amt» hat im Gegenüber zur Gemeinde nur die Funktion, das auch ihm entzogene (!) Wort Gottes in der Gemeinde laut werden zu lassen. Es verweist über sich hinaus auf jene Externität, die mit dem Begriff verbum externum präzise bezeichnet wird.

      An diesen Grundlagen wird weiterzudenken sein (vgl. unten 3). Zunächst aber blicke ich konkreter auf das «Evangelische Gottesdienstbuch» als gegenwärtigen Ausdruck der Liturgie der unierten und lutherischen Kirchen in Deutschland, stelle sein Anliegen und einige wesentliche Kennzeichen vor Augen – und tue dies beständig im Spiegel der in diesem ersten Punkt erarbeiteten Perspektive des Gottesdienstes als «gemeinsamen Gebetes».

      2. Das Evangelische Gottesdienstbuch (EGb) im Spiegel des gemeinsamen Gebets oder: Gelingen und Scheitern eines Projekts

      2.1 Integration als das große Thema des EGb und die Problematik der Struktur

      Die Agende I als erstes Stück der Agendenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstand lutherisch 1955 und uniert 1959. Sie war – im Bild gesprochen – wie eine schön gestaltete Schatulle, in die man den evangelischen Gottesdienst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu sperren versuchte: fern von den Gefährdungen einer natürlichen Theologie, fern von den Anfechtungen einer Anpassung an den Zeitgeist.

      Aber die Schatulle bekam Risse, das gottesdienstliche Leben ließ sich nicht einsperren.