Leonhard Frank

Die Räuberbande


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junge Kaplan, mit gesundroten Flecken unter den hervorstehenden Backenknochen, saß, wie immer in seiner freien Zeit, auf dem Kanapee neben der blassen, schönen Schwester Winnetous. Kaffee, Kuchen, Likör standen auf dem Tisch.

      „Wo hast du das Buch!“ rief die Mutter. Winnetou blickte verwirrt auf die Heiligenbilder, die an allen Wänden hingen.

      „Weißt du nicht, was man zu tun hat, wenn man eintritt!“

      Winnetou ging zum Weihwasserkessel bei der Tür, tauchte die Finger ein und schlug das Kreuz.

      „Nun?“

      Zögernd ging er zum Kaplan und gab ihm die Hand. „Gelobt sei Jesus Christus.“

      „In Ewigkeit, Amen . . . Was ist es denn für ein Buch?“ fragte der Kaplan und nippte vom Likör.

      „. . . Wirst du dem Herrn Kaplan Antwort geben! . . . Hochwürden verzeihen.“ Sie tastete Winnetou ab und zog das Buch hervor.

      Der Kaplan blätterte im Buch und las vor: „Oldshatterhands Eisenfaust hatte die Rothaut getroffen. Ohne einen Laut von sich zu geben, sank der rote Mann tot zu Boden.“

      Winnetous blasse Schwester sah still vor sich hin.

      „Solche Lektüre darf man Kindern nicht in die Hände geben, Frau Steinbrecher . . . Denken Sie an die entwendete Schultinte.“

      Frau Steinbrecher wurde blutrot. „Von wem hast du das Buch!“

      „Vom bleichen . . . von Oskar Benommen.“

      Die Mutter legte das Buch neben die Mutter Gottes auf die gehäkelte Decke, welche über die polierte Kommode gebreitet war. „Morgen gehe ich mit dem Buch zu Frau Benommen . . . Vorwärts!“

      Winnetou sah seine Mutter entsetzt an.

      „Wird’s bald!“

      Langsam ging er zur Kommode, nahm aus der Schublade ein Lineal aus Eichenholz und reichte es der Mutter. Scham verdunkelte Winnetou den Blick; das Blut war ihm hinter die Augen getreten, als er die Hand vorstreckte.

      „Jetzt komm!“ rief die Mutter nach der Züchtigung und führte ihn am Arm hinaus, hinauf in sein Zimmer. Ihr Gesicht war weiß, die Augen schwarz geworden. Plötzlich schlug sie Winnetou ins Gesicht und verließ wortlos das Zimmer. Die Tür verschloß sie.

      Der Kaplan spielte mit den weißen Fingern von Winnetous Schwester, die zart errötend ihm die Hand überließ.

      Als die Mutter eintrat, nippte er vom Likör.

      Winnetou saß auf dem Bett, seine Scham hatte sich zu Entsetzen gesteigert. Zugleich empfand er so heftigen Abscheu gegen die Mutter, daß er abwehrend die Hände ausstreckte. Die nicht abgewischten Tränen trockneten. Die Gesichtshaut spannte.

      Winnetou schlief ein und träumte sofort, daß der Kaplan in fliegender Soutane hinter ihm her durch den Klostergarten stürze, die langen Hände nach ihm ausgestreckt. Die Mutter stand erhöht und deutete: „Dort . . . dort.“

      Mit einem entsetzensvollen Schrei erwachte er. Die Mutter war eingetreten. Sie stellte den Teller mit Wurstbrot auf den Tisch und verließ, ohne gesprochen zu haben, das Zimmer wieder.

      Winnetou hörte, wie sie zuschloß, und richtete sich automatisch auf. Er hatte die Empfindungsfähigkeit vollkommen eingebüßt, die erst allmählich sich wieder einstellte, in Form von Schwindelgefühl und Verlorenheit. Ohne etwas zu sehen, waren seine Augen auf den alten Stahlstich gerichtet, der Christus am Kreuz vorstellte. Der Christus hatte altersgelbe Flecken und Streifen; er war beim letzten Umzug oben auf dem Wagen gelegen und eingeregnet worden.

      Flüchtig dachte Winnetou daran, daß die beim „Lochfischer“ versammelten Räuber auf ihn warteten, und blieb reglos hocken.

      Es war Nacht geworden. Winnetou stand auf vom Bett, trat ans Fenster und sah, daß der Kaplan Arm in Arm mit der Schwester im Garten spazieren ging.

      Er wartete, bis das Paar zwischen den Büschen verschwunden war, stieg aufs Fenstersims und kletterte am Weinstock hinunter, der die ganze Südwand des Hauses bedeckte.

      Die Räuber hatten sich beim „Lochfischer“ um einen langen Tisch herumgesetzt.

      Die Stube war drei Tische und einen Kachelofen groß und so niedrig, daß der rote Fischer, der eben eintrat, mit seinem Haupthaar das pfeildurchstoßene rote Stuckherz der Mutter Gottes an der Decke streifte.

      Er setzte sich an den Tisch zum Wirt und zur Wirtin, die auf dem Schoße ihren alten Schnauz und über ihm die gefalteten Hände liegen hatte.

      Am dritten Tische saß Herr Spenglermeister Hieronymus Griebe und aß bedächtig eine Portion gebackene kleine Fische, deren Köpfchen er immer seinem Sohne, dem Duckmäuser, auf den Teller legte.

       Die Räuber sahen mit unverhohlener Verachtung auf den gleichaltrigen Duckmäuser, einen großen, kräftigen, immer hungrigen Burschen, blond, mit Pickeln im Gesicht, der täglich in die Kirche lief, fleißig ins Geschäft, mit anderen Jungen nicht verkehren durfte und stark stotterte. Er wagte nicht, die Räuber anzusehen, die er fürchtete und haßte, weil sie ihm den Namen „Duckmäuser“ gegeben hatten.

      Herr Hieronymus Griebe gab seinem Sohne jetzt gleich drei Fischköpfchen auf einmal, die sofort in des Duckmäusers Mund verschwanden.

      Die von allen Mitgliedern der Räuberbande aus gehöriger Entfernung verehrte blonde Kellnerin mit den sanften Augen stellte freundlich die frischgefüllten Weingläser auf den Tisch und sagte singend: „Nooo, seid ihr auch wieder einmal da.“

      Die Räuber lächelten befangen.

      „Heiland der Welt! Das Fischsterbe! Der ganze Mee schwimmt voll verreckte Fisch. Heiliger Kilian! I wenn wüßt, wer mir’s Wasser so versaut.“

      Der Wirt zwinkerte mit dem einen Auge dem Fischer zu und zuckte verächtlich mit dem Kopf einmal zur Seite: „No, wo wird’s herkumme, d’r Michl läßt halt ’n ganze Drääk vo seiner Färberei ins Wasser läff.“ Er drückte mit den Händen seinen schweren Körper in die Höhe und trat zu den Räubern. „Was wird’s sei, d’r Drääk vo d’r Färberei is.“

      „No, da soll aber doch weeß d’r Teufl was alles neischlag! Läßt der Hammel sei Farbsoß wied’r ins Wasser läff? Wied’r?“

      „Jau“, winkte der Wirt ab, „die alte G’schicht . . . Grüß Gott, meine Herrn.“ Die Hände auf die Stuhllehne gestützt, sah er lächelnd auf die Räuber hinunter. Verächtlich zuckte er noch einmal mit dem Kopf seitwärts zum Fischer hin: „Die alte G’schicht! . . . No, Herr Vierkant, wo is denn der Vater. Der hat sich a scho lang nimmer bei mir seh lass.“

      Oldshatterhand schüttelte verlegen den Kopf. „Ich weiß nit, wo er is.“

      „Ein guter Tropfen“, sagte der bleiche Kapitän, zwang sich, gleichgültig zu trinken, und stülpte die nassen Lippen nach außen.

      Der Wirt lächelte. „No, Herr Widerschein.“ Er legte dem Schreiber die Hand auf die Schulter.

      „Mei Vater is daheim und arbeit, weil er so viel zu tun hat“, sagte der Schreiber sehr schnell.

      „So, so . . . No, lasse Sie sich’s nur schmeck, mitnander . . . Gretl! ’n Herrn Widerschein sei Glas is leer“, sagte der Wirt und ging nach hinten zu seinem Schanktisch.

      Die verlegenen Räuber wagten nicht, einander anzusehen. „Beim ‚Lochfischer‘ müssen wir Stammgäst werden“, sagte der bleiche Kapitän. Alle stimmen freudig zu. Plötzlich verstummt, blickten sie zur Tür. Ein eleganter Handlungsreisender aus Berlin war eingetreten; er schlug die Hacken zusammen gegen die Wirtin, gegen den Fischer, gegen Herrn Hieronymus Griebe, gegen den Räubertisch und fragte: „Hören Sie mal, kann man hier Fische bekommen? Gibt es hier Fische? Frische Fische?“

      Der rote Fischer wandte sich schwerfällig um, sah den Berliner an, deutete auf einen Stuhl: „No, da setze Sie sich nur erst amal, Fisch kriege