auf dem Wasser herum, bis die Nacht hereinbrach, worauf sie erhitzt nach Hause eilten.
Zweites Kapitel
Das war plötzlich gekommen. Gleichalterige vierzehnjährige Lehrjungen hatten aus der Kneipe der Witwe Benommen heraus über die Räuberbande gelacht, die geschlossen vorbeigegangen war. Der Schreiber machte den Vorschlag, auch in die Kneipe zu gehen, was bis jetzt für verächtlich und der Räuber unwürdig gegolten hatte, jedoch einem schon lange zurückgedrängten Wunsche entgegengekommen war. Seitdem hatten die Räuber viele Stunden in den Kneipen verbracht, und es galt für eine Ehre, betrunken zu sein. Des Schreibers Ansehen wuchs, denn er war mit ganzer Seele dabei und immer betrunken. Die Zusammenkünfte im „Zimmer“ wurden zum Entsetzen Oldshatterhands nicht mehr ganz regelmäßig eingehalten.
Die Räuber lagen auf dem Schloßbergrasen in der Sonne und warteten auf den bleichen Kapitän. Winnetou kaute nachdenklich Gras.
Der bleiche Kapitän stieg langsam den Schloßberg hinauf; er hatte ein schmutziges Karl May-Buch ohne Einbanddecke in der Hand. Eine Weile blickte er schweigend und gespannt auf die Räuber hinunter. „Was glaubt ihr, daß passiert ist? Das hätt ich niemals gedacht . . . Winnetou ist erschossen worden.“
„Oh, halt doch’s Maul!“
„Da hockt er ja“, sagte der Schreiber lachend und deutete auf Winnetou.
„Ich meine doch den wirklichen Winnetou in den Karl May-Büchern“, rief der bleiche Kapitän wütend.
„Winnetou ist tot?“ fragte Winnetou leise. „Das ist nicht möglich. Wie soll denn das passiert sein.“
„No, ein paar hundert . . . ich glaub so an fünfhundert Siouxindianer gegen Winnetou allein! Er ist halt überrascht worden, in einer Höhle, die nur einen Ausgang hatte . . . Von sechzig bis siebzig Pfeilen ist er tödlich getroffen worden, weil die Feigling nur immerzu in die Höhle geschossen ham. Hinein hat sich ja keiner getraut.“
„Ja, aber wo war denn Oldshatterhand derweil? . . . Wie konnt er denn in so einem Augenblick nit da sein?“ fragte Winnetou erregt.
Oldshatterhands Augen und die aller anderen Räuber waren auf den bleichen Kapitän geheftet.
„Das ist’s ja! Der war grad gefangen. Er hat aber schon sowas geahnt und hat sich befreit vom Marterpfahl . . . Und dann hat er eine ganz unglaubliche Leistung vollbracht, sag ich euch . . . Tag und Nacht ist er in einem fort geritten . . . Er ist überhaupt schon nimmer geritten, sondern geflogen auf seinem ‚Rih‘. Und ist halt doch grad um ein paar Augenblick zu spät kommen. In Oldshatterhands eigenen Armen ist Winnetou ein paar Minuten danach gestorben . . . Die letzten Worte Winnetous müßt ihr les’ . . . Ich mag ja gar nix sag . . . Und dann heißt’s: Hundertmal hast du mir das Leben gerettet, mein roter Bruder Winnetou, und jetzt muß ich zu spät kommen . . . Oldshatterhand hat sogar geweint.“
Die Räuber saßen stumm, mit glänzenden Augen, die den wilden Westen sahen, die Höhle, in der Winnetou verschieden war.
Oldshatterhand sah eine endlose Reihe wildbemalter Siouxindianer durch die sonnenfunkelnde Prärie galoppieren — aber am äußersten Ende, da, wo Prärie und Himmel sich berührten, stand die Räuberbande, ein kleiner, schwarzer Punkt — schußbereit.
„Da kann man jetzt nix mehr mach“, sagte der bleiche Kapitän und reckte sich auf. „Aber fürchterliche Rache hat er geschworen.“
„Leih mir das Buch bis morgen“, bat Winnetou.
„Das geht auf kein Fall. Ich hab’s selber noch nit ausgelesen“, wehrte der bleiche Kapitän ab.
„Morgen früh geb ich dir’s wieder zurück.“
„Morgen früh muß ich’s ja schon abliefern, sonst muß ich vier Pfennig mehr Leihgebühr bezahl . . . Höchstens müßt du’s gleich les . . . Wir gehn jetzt in die Weinwirtschaft ‚Zum Lochfischer‘. Kommst halt nach, wennst’s ausgelesen hast.“
Winnetou griff nach dem Buch.
Die Räuber stiegen den Schloßberg hinunter. Die Sonne war untergegangen.
Der Schreiber trug unter jedem Arm einen hohen Röhrenstiefel, die Herr Widerschein vorgeschuht hatte. Bei dem Hause des säbelbeinigen Polizeiwachtmeisters blieb er stehen. „Ich muß erst die Stiefel vom Wachtmeister nauf trag. Wartet halt auf mich. Ich bin gleich wieder da . . . Geh mit“, sagte er zum König der Luft.
„Hn!“
„Der frißt dich doch nit.“
„Also hopp! Also wenn du meinst.“
„Glaubst du, daß von den Siouxfeiglingen noch ein paar übrig sind, bis wir nüberkommen?“ fragte der König der Luft auf der Treppe.
Der Schreiber schubste die Röhrenstiefel höher zur Achselhöhle. „Das ist fraglich . . . Mein Lieber, wenn Oldshatterhand einmal blutige Rache geschworen hat, dann wird sicher höchstens einer von den Sioux übrigbleiben . . . Du weißt ja, wie das bei Karl May immer war.“
„. . . Verlangst du mehr für die Stiefel?“
„Sei doch still.“
Der Wachtmeister öffnete selbst die Tür. Er hatte sich’s bequem gemacht. Sein Uniformrock hing über dem Stuhle, die meterlange Pfeife lehnte in der Kanapee-Ecke. Der blaue Tabakrauch stieg vom Mundstück weich in die Höhe zum säbelschwingenden Türken zu Pferd, der goldgerahmt über dem Kanapee hing.
„Grüß Gott, Herr Wachtmeister. Mein Vater hat gesagt, drei Mark neunzig kosten die Stiefel.“
Der König der Luft war bei der Tür stehen geblieben und schnalzte nervös mit den Daumen.
„Schon fertig?“ Der Wachtmeister trat aus dem Pantoffel, stieg in die lange Röhre hinein und zog und zerrte an den Stulpen. Sein Gesicht lief blaurot an. Dabei preßte er hervor: „Drei . . . Mark . . . neunzig?“
„Ja, soviel kosten sie, hat mein Vater gesagt.“ Der König der Luft blickte starr vor sich hin.
Der Wachtmeister ging, am einen Fuß den Pantoffel, am andern den Röhrenstiefel, im Zimmer auf und ab und blickte prüfend zur Decke, schlenkerte das bestiefelte Bein, beugte sich hinab, drückte mit dem Daumen auf das Oberleder. „Die sind wieder fest beisammen . . . Richt einen schönen Gruß aus an deinen Vater“, sagte er und zog den Geldbeutel.
„Jetzt muß ich erst die drei Mark vierzig heimtrag“, sagte der Schreiber auf der Treppe. „Die fünfzig Pfennig mehr schaden dem nix . . . Er is ja Junggesell. Der hat sogar Geld auf der Sparkasse.“
„Warum hast denn nit noch zwanzig Pfennig mehr verlangt.“
„Was glaubst denn, da wär er drauf komme.“
„Hättst halt sag soll, dei Vater hätt dir aufgetragen, die Füß vom Wachtmeister seien zu groß . . . da brauchet man mehr Leder.“
„Ich hab doch heut schon vier Paar Stiefel fortgetragen . . . Im ganzen hab ich eine Mark siebzig dran verdient.“
„Hn!“
„Eine Mark siebzig.“
„Eigentlich ein ganz schöner Verdienst.“
„Geb halt das Geld erst später dein Vater“, drängte der bleiche Kapitän vor dem Hause. „. . . Du mußt von vorne anfangen, dann siehst du selber, daß eine Rettung absolut nit möglich war“, sagte er zu Winnetou, der stehend las. „Also, jetzt gehen wir zum ‚Lochfischer‘ . . . Komm aber, wennst’s ausgelesen hast!“ rief er Winnetou nach, der „Ja, ja, sicher!“ rief und weiterlesend langsam in der Richtung seiner Wohnung ging.
Vor seiner Haustür schob Winnetou das Buch zwischen Hemd und Brust und