Auf uns, die einzig Überlebenden, fällt natürlich der Verdacht. Darum sage ich: wir müssen ungeheure Vorräte aufstapeln im Zimmer, um uns vier Wochen lang hier verbergen zu können. Bis die Regierung glaubt, wir seien mitverbrannt. Nicht der geringste Verdacht fällt auf uns, denn es weiß ja niemand, daß wir noch leben . . . Dann schicken wir unsere Kundschafter aus und erfahren alles, was in der zerstörten Stadt vorgeht . . . Und wenn wir uns dann, als Bauernweiber verkleidet, aus dem Staub gemacht haben, sind wir verschollen auf ewig.“
Die Räuber saßen vor Begeisterung erstarrt. Winnetou schwieg und lehnte sich zurück. Die Kerzenflammen standen unbeweglich. Die bleichen Gesichter hingen wie kleine, dunstige Monde im Zigarrendampf.
„Wir müssen nur immer fest zusammenhalten!“ rief Oldshatterhand erregt. „Oh, im wilden Westen . . . Ihr werdet’s schon sehen . . . Wenn einer von uns in Würzburg bleiben will . . ., um vielleicht eine Frau zu heiraten, dann soll er’s lieber gleich sagen.“
Der bleiche Kapitän drückte Oldshatterhand mit einem Blick in die Ecke: „Wie du glauben kannst, daß einer von uns so ein dreckiger Feigling ist, das versteh ich ganz einfach nit.“
Plötzlich sprang wie aus dem Hinterhalt der König der Luft in die Mitte und rief: „Ich, der König der Luft, lese jetzt vor: das hundertundsiebenundneunzigste Kapitel aus ‚Die bleiche Gräfin oder Der Mord im Walde‘. Da sind wir’s letztemal stehen geblieben.“ Der König der Luft war Lehrling in einer Drahtgitterfabrik, sehr ehrgeizig und ein scharfer Rivale des bleichen Kapitäns; er sprang von immer höheren Mauern herunter, um seinen Ruhm zu steigern und eines Tages die Hauptmannschaft an sich zu reißen. Er war dünnlippig, braunhäutig und hatte ein Indianerprofil.
„Wollen wir nicht lieber das Räuberlied singen?“ fragte Oldshatterhand.
Da knöpfte der König der Luft energisch den untersten Knopf seines Röckchens zu, reckte das gelbe Heftchen zur Decke und rief: „Die bleiche Gräfin!“
„Räuberlied!“ brüllten die anderen.
„Also, also Räuber —, also Räuber — Räuberlied!“ rief schnell und sich überstürzend der König der Luft und stand im Ausfall, die Faust geballt. Der Rockknopf sprang ab, sein Hals schoß wagerecht vor, und das Gesicht stand senkrecht. Er mahlte mit den Zähnen und preßte die Lippen schief zusammen. Seine tiefe Stirnfalte entstand. So hub er an zu singen, und die Räuber hörten zu.
„Stehlen, morden, huren, balgen,
Heißt bei uns nur die Zeit zerstreun.
Morgen hangen wir am Galgen,
Drum laßt uns heute lustig sein.
Stehlen, morden, huren, balgen. Ha!“
Falkenauge sang, das natürliche Auge weit aufgerissen, während das gläserne tot und interesselos in die Ecke blickte. Der bleiche Kapitän sang gewaltsam in tiefem Baß und sehr falsch. Und die Lippen der Kriechenden Schlange waren beim Singen mit Speichelbläschen dicht besetzt. Die Rote Wolke stellte die Fußspitze nach rückwärts und agierte pathetisch. Jeder der Räuber sang eine Strophe. Zuletzt kam Oldshatterhand, der sich sehr frei fühlte, denn beim Singen stotterte er nicht. Um über seine Kleinheit wegzutäuschen, balancierte er auf den Zehenspitzen. Er sang mit feiner Mädchenstimme.
Das Bierfaß war leer. Die Kriechende Schlange lag müde zusammengerollt in der Ecke, und der Kopf des schlafenden Oldshatterhand lehnte gegen die Schulter der Roten Wolke.
„O Felli“, sagte müde Winnetou.
„Sprich.“
„Es ist Zeit, Hauptmann.“
„Auf morgen denn“, sagte leise der bleiche Kapitän, und sein Kopf sank auf die Brust.
Die Räuber erhoben sich mühsam, verlöschten die Kerzen, zündeten die Pechfackel an und stellten gähnend ihre Rockkragen auf.
Das Wasser im Fischkasten gluckste.
Da schlug der betrunkene Schreiber auf den Tisch, daß der weiße Hase, aus dem Schlafe geschreckt, vom Regal sprang und ängstlich im „Zimmer“ herumhüpfte. Mit einem Ruck riß er sich den Halskragen auf, den rosa Schlips herunter und brüllte noch einmal seine Strophe:
„Das Wehgeheul geschlagener Väter,
Der bangen Mütter Klaggezeter,
Das Winseln der verlaßnen Braut
Ist Schmaus für meine Trommelhaut.“
Die Räuber hatten das „Zimmer“ verlassen, den Verschlußstein wieder sorgfältig eingefügt und standen auf dem Bergrücken beisammen.
Der erste Morgenschein lag über der Landschaft. Das Gras war taunaß. Auf einem Busch saß eine Amsel und pfiff, und ein Eichhörnchen hing still an einem Lindenstamm, mit einer Haselnuß im Maul, blickte auf die Knaben und huschte in einer Spirale um den Stamm herum und hinauf ins raschelnde Laub.
Die Stadt im Tale war in dicken Nebel eingepackt; nur die dreißig Kirchtürme stachen durch den Nebel und schwarz in den morgenklaren Himmel hinein. Im Osten hinter der Stadt stand eine zartrosa Wolkenwand.
„Da liegt ein Hobel“, sagte Falkenauge erschrocken, hob ihn auf, beäugte ihn ganz nahe, roch daran und zeigte ihn still und vielsagend der Räuberrunde.
„An der Stelle sind wir heut abend die Mauer hinuntergesprungen; da war der Hobel noch nit dort gelegen.“
„Wie kommt er überhaupt daher.“
„Ein schöner Hobel ist es ja.“
„Was ham wir davon!“ riefen ein paar gleichzeitig.
„Wenn uns jemand ausspioniert hat — no, dann geht’s uns krumm.“
Der Schreck war den frierenden Räubern in die Glieder gefahren. Die übernächtigen Augen waren fragend und gespannt aufeinander gerichtet.
„Dann sind wir verloren!“ rief die Rote Wolke pathetisch.
Der bleiche Kapitän schob den Hobel kaltblütig zwischen Rock und Weste. „Was heißt denn das . . . verloooren!“
Die Rote Wolke stellte die Fußspitze rückwärts und hob die Hand. „Es wird heißen: Im Herbst des Jahres achtzehnhundertneunundneunzig stattete die gefürchtete Räuberbande von Würzburg den königlichen Weinbergen ihren Besuch ab . . . In dunkler Nacht.“
„Blödsinn! Uns erwischen sie nit so schnell. Jetzt gehn wir einmal heim“, riet der bleiche Kapitän. „Den Hobel nehm ich mit, für unsre Vorratskammer.“
Auseinanderstrahlend schlichen die Räuber auf allen Wegen den Schloßberg hinunter.
Oldshatterhand konnte ungesehen in die Küche schlüpfen, wo er auf einem alten Kanapee seine Schlafstätte hatte. Gespannt beobachtete er seine um zwei Jahre ältere Schwester, ein skrofulöses Nähmädchen, die auch in der Küche schlief. Unruhig träumend warf sie sich im Bett hin und her; ihre bläulichen Lippen bewegten sich, und die schmale Hand hing bis zum Boden hinunter.
Oldshatterhand legte eine etwas verdrückte Traube für die Schwester auf den Stuhl, schlich zum Küchenschrank, trank Milch aus dem irdenen Topf und goß Wasser nach, genau so viel, wie er Milch getrunken hatte. Die Augen auf die Schlafende gerichtet, entkleidete er sich ganz leise und ließ sich mit größter Vorsicht langsam aufs knarrende Kanapee nieder.
Der König der Luft traf seinen Vater, einen alten Handlungsreisenden mit faserigem, grauem Bart, dabei an, wie er seine Sachen ordnete. Der Alte sah sich um nach seinem Sohn und fuhr still fort, seine Warenproben ins Köfferchen zu packen. Er war ein verhärmter Mann.
Der Schreiber hatte, bevor er daheim fortgegangen war, die Wohnungsglocke festgebunden, um nicht gehört zu werden. Wohlgemut tänzelte er durch seine Gasse, fuchtelte mit dem Stöckchen in der Luft umher und sang leise: „Das Wehgeheul geschlagner Väter, hohaho! Der bangen Mütter Klaggezeter“, öffnete die Wohnungstür — da läutete die Glocke durchs