dünne Stöckchen lag daneben, und der Schreiber ruderte mit Armen und Beinen.
Winnetou ging, ohne sich in acht zu nehmen, zu Hause durch den hallenden, dunklen Gang. Vor dem roten ewigen Lichtchen unter der in der Mauer eingelassenen Mutter Gottes blieb er stehen, den Arm an die Mauer gelegt, den Kopf auf die Hand. So stand er lange und dachte an gar nichts. Plötzlich empfand er den Zwang, das ewige Licht zu verlöschen, so daß tiefstes Dunkel um ihn her wurde. Langsam trat er in sein Zimmer.
Der bleiche Kapitän hatte die Treppe verschmäht und war am Blitzableiter hinaufgekrabbelt und durchs Fenster in seine Kammer gestiegen.
Die Sonne war aufgegangen und traf die Krone des Kastanienbaums im Wirtschaftsgarten.
Nackt stand der bleiche Kapitän am Fenster, band erst das rote Tüchlein vor und übte noch eine Weile ernst und sachlich mit den zwei Bügeleisen.
Am Sonntagnachmittag schritt der rote Fischer in seiner schulheftblauen Wolljacke, Kopf und Unterlippe grimmig vorgeschoben, energisch auf die „Altrenommierte Weinstube zu den drei Kronen“ los. Gleich darauf klang sein Schimpfen bis auf die Straße heraus.
Geputzte Weiblein mit großen Gesangbüchern und Rosenkränzen, einzeln, paarweise und in Reihen, gingen in der Richtung nach der Burkarter Kirche. Die Sonne schien. Glocken läuteten.
Oldshatterhand saß in der Schloßgasse vor dem einstöckigen Häuschen des Schusters Widerschein auf einem Handwagen, ließ die Beine baumeln und blickte hinauf zu den ganz mit Geranienstöcken verstellten kleinen Fenstern. Manchmal pfiff er vorsichtig, kaum hörbar, den Bandenpfiff: „Nieder mit der Tyrannei“, und machte leise: „Pst“, worauf die rot- und weißgefleckte Katze, die zwischen den Blumenstöcken in der Sonne hockte, den Kopf drehte und die Augen auf Oldshatterhand heftete.
Sonst blieb alles unverändert.
Die Familie Widerschein saß beim Kaffee. „Di di di di quiridi“, trillerte der Kanarienvogel.
„Pst“, machte Oldshatterhand.
Die Hand des Schreibers erschien, senkrecht gestellt, zwischen den Blumenstöcken, drehte sich verneinend einige Male im Handgelenk und winkte dann heftig weg, die Gasse hinunter. Der Schreiber hatte keinen Ausgang heute.
Auf den Zehenspitzen verließ Oldshatterhand die Schloßgasse, begab sich zur Bande, die vor dem Friseurlädchen des Herrn Adam Rein versammelt war, und erstattete Bericht.
Der bleiche Kapitän besprach sich eben mit seinen Leuten, ob er es wagen solle, sich rasieren zu lassen. Wenn er gegen die Sonne stand, flimmerte ein zarter Flaum goldig auf seiner Oberlippe.
Entschlossen trat er ein.
„Haarschneiden — Herr Benommen?“
„Nein . . . Heute nur rasieren.“
„Wie die Zeit vergeht! Ihren Vater rasierte ich dreißig Jahre lang, und noch Ihren Großvater. Und jetzt sind Sie auch schon so weit. Ja, man wird alt“, sagte Herr Rein und ließ lächelnd das Messer über die sanfte Haut des Hauptmanns gleiten.
Strahlend kam der bleiche Kapitän zurück und fragte seine Leute unwirsch, ob er gut rasiert sei und ob ihn denn der Rein nicht geschnitten habe.
Der Vater Oldshatterhands schritt vorüber, im peinlich sauber gebürsteten Sonntagsanzug und mit glänzend gewichsten Stiefeln. Die Räuber grüßten verlegen. Herr Vierkant legte seinen Zeigefinger an den Hutrand und lächelte. Sonntags war Herr Vierkant immer in bester Laune. Ein feines Stäubchen von seinem Ärmel schnellend, schritt er weiter.
Die Bande eilte hinaus zum Sanderrasen.
Ein schneidender Pfiff ertönte: „Nieder mit der Tyrannei“, und heftiges Keuchen. Sein dünnes Stöckchen über dem Haupte schwingend, kam der Schreiber nachgerast.
Beim Pferdemetzger Rücken blieben sie stehen. Auf das Ladenschild war der dampfsprühende Kopf eines Rennpferdes gemalt.
Der Duckmäuser stand vor dem Laden, biß in sein Stück Pferdewurst und betrachtete dabei die Würste im Schaufenster.
Der König der Luft wieherte wie ein Pferd und schlug aus. Der Duckmäuser hörte auf zu kauen.
„Herrgott, wie man Pferdemetzger werden kann“, sagte der Schreiber. „Begreift ihr das? Sein ganzes Leben lang von allen Menschen so verachtet sein. Ich sag euch, das ist fast so, wie mit den Juden, die kleine Christenkinder schlachten und das Blut in die Mazze verbacken.“
„Der Jud Meierheim soll’s getan haben.“
„Schwindel! Das weiß ich ganz genau, daß das überhaupt niemals ein Jud getan hat . . . du Rindvieh!“
„I . . . i hahaha!“ wieherte der König der Luft.
Der Duckmäuser legte seine Wurst auf den Mauervorsprung.
„Ein Pfeeerdemetzger . . . was soll man jetzt dazu sagen“, rief der Schreiber und erschrak, denn er hatte Herrn Metzgermeister Rücken bemerkt, dessen mächtiger Oberkörper in den kleinen Fensterausschnitt über dem Laden gepreßt war. Auf die kolossalen Unterarme gestützt, blinzelte Herr Rücken über die Bande weg in den Himmel und ließ das Grauen der Räuber auf sich wirken.
„Ohaho! Pferdewurst? Ich fresse so viel ihr wollt. Jawohl!“ sagte überzeugend der Schreiber.
Zögernd griff der Duckmäuser wieder nach seiner Wurst.
Der Sanderrasenplatz war von alten Bäumen umstanden. Wenn nicht Soldaten darauf exerzierten, legten die Bürgersfrauen die Wäsche zum Bleichen auf. Diesen Sonntag produzierte sich ein Schnelläufer auf dem Rasen.
Um den Platz herum zog sich ein schwarzer Saum erwartungsvoller Menschen — ein weißes Kleid hier und da, der Farbfleck einer Bluse.
In der Mitte auf einem Stuhle stand ein Mann in rotem Trikot, einen Fuß rückwärts gestellt. Mit großer Geste rief er: „Drei Mark demjenigen aus dem hochverehrlichen Publikum, der eine Stunde mit mir läuft, ohne daß ich ihn überhole.“ Er hatte kurze Beine mit gewaltig hervortretenden Schenkelmuskeln und einen aufwärts gebürsteten, schwarzen Schnurrbart.
Eine kleine, dürre Frau, mit verhärmtem Gesicht, stand neben dem Stuhl. Sie war des Schnelläufers Mutter und hielt einen zerknüllten Zinnteller in der Hand.
Der bleiche Kapitän sah seine Leute an.
„Hohaho! Das machst du, Hauptmann.“
Dem bleichen Kapitän bebten die Lippen, und ein verlorenes Lächeln zuckte über sein Gesicht.
Da trat er in den Raum.
Und schoß gleich hundert Meter vor, während der Schnelläufer hinter ihm hertrabte mit zur Brust hochgenommenen Armen, daß sich die Ellbogen vor- und zurückbewegten, gleichmäßig, wie die Kolben einer Dampfmaschine.
Nach einer Weile war der Hauptmann, mit mächtigen Sprüngen vornüberstürzend, schon fast eine Runde voraus, angetrieben durch die begeisterten Draufrufe seiner Bande.
„Der Malefizhundsknoche verdient sich wahrhafti die drei Mark!“ rief der rote Fischer.
Eine Welle der Erregung lief am Menschensaum entlang.
Die Mutter des Schnelläufers hielt unterdessen den Zuschauern ihren Zinnteller gleichgültig hin und ging gleichgültig weiter, mit stumpfen Augen, wenn man nicht gab.
Der Hauptmann keuchte, etwas langsamer geworden, an seinen Leuten vorüber, winkte ihren Draufrufen ab, sah sich nach seinem Rivalen um. Und war weg.
Der Abstand verringerte sich merklich, der Hauptmann wurde immer langsamer; der Schnelläufer, stets im gleichen Tempo, holte auf und überholte, unter knallendem Gelächter des Publikums und besessenem Draufgebrüll der Bande, den bleichen Kapitän, der nach einer weiteren Runde vollkommen erschöpft aufgab.
Geräuschlos verließen die Räuber den Kampfplatz.
Der