und erst kürzlich vor unseren Komplexen, hören wir noch immer ein Rauschen in der Muschel, für das wir keinerlei äußere Erklärung brauchen. Es erstirbt vielleicht, aber es bleibt dabei, dass wir es unbedingt hören möchten. Wir suchen den intensiven Sinn des Lebens, die Zufälle, die die Fantasie beflügeln, hält doch ein jeder von uns das Leben in seiner Brust für sein eigenes und nicht für ein Bauteil im bewundernswerten soziologischen Schema eines anderen. Wir sind wirklich hoffnungslose Fälle, die von Zeit zu Zeit darauf bestehen, alles hinter sich zu lassen.
Zu den anderen guten Dingen, die mit uns sterben werden, gehört also auch der Tourismus. Jedem sein eigenes Refugium, seine eigenen Ferien. Italien war bekanntermaßen die Herzensheimat von Millionen. Griechenland ebenso; und alle Mittelmeerinseln. China und das Ostchinesische Meer bedeuten weite Flüge auf der Suche nach einem Glückstreffer, aber viele haben auch das auf sich genommen. Es gibt Mexiko, Afrika, die menschenleere Antarktis und die gefährlichen Länder um den Amazonas. Es gibt Irland und Finnland und die Arabische Wüste – alle sind sie auf die eine oder andere Weise müßiger Betrachtung ausgesetzt und dem tiefen selbstsüchtigen Genuss von Augenblicken, die dahingehen – alle tragen sie aus verschiedenen unerforschlichen klimatischen, historischen und ethnischen Gründen zu jener individualistischen Aufregung bei, die dem Herzen die beste Ruhe verschafft; alle verweisen sie dreist auf die hartnäckige Schönheit des Lebens.
Für einige von uns gab es Spanien. Zunächst das Spanien, das wir uns vorstellten – ein Ort, an den wir uns jetzt nicht mehr erinnern können –, und dann das Spanien, das wir vorfanden. Es gab viele Überraschungen in diesem zweiten Spanien, viele Erschütterungen und Längen und Zeitspannen, in denen wir uns beinahe so träge und verdrießlich fühlten, als wären wir zu Hause. Aber irgendwie kehrten wir immer wieder zurück. Wir haben es einigermaßen kennengelernt – nach Art der Reisenden – und bemerkt, dass uns egal war, ob wir ein anderes Land je auch nur halb so gut kennenlernen würden. Wann immer wir etwas Geld übrig hatten, nahmen wir den Zug nach Irún oder, falls das zu kostspielig war, ein Schiff nach Santander oder Coruña. Und wenn wir gemächlich in diese Häfen einliefen – oh, die endlos langen Ankünfte! –, waren wir trotz möglicher kleiner Irritationen mit uns im Reinen. Obwohl keiner der beiden Häfen atemberaubend ist, selbst wenn die gleißende Sonne auf Coruñas verglaste Balkone trifft oder der Morgennebel federleicht von den schläfrigen, dunklen Hügeln hinter »La Magdalena« aufsteigt. Auf dieser vorgelagerten Halbinsel uns zur Rechten der hässliche Palast von Alfons XIII.8 – heute eine Sommerschule – und viele andere Bausünden. Am Kai von Coruña ein paar wirklich scheußliche Palmen und ganz in der Nähe Sir John Moores9 unansehnliches Grab. Und an beiden Orten die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es in Strömen regnet. Aber wir kennen das alles, wir sind alte Hasen. Unser Vergnügen besteht einfach darin, dass wir dort angekommen sind, wo wir hinwollten. Da ist der Mann mittleren Alters in Schwarz, wie immer nachdenklich, der seinen Mantel wie ein Cape um die Schultern schlingt. Die dürren, grindköpfigen Jungs, die Frauen, die gebrannte Mandeln in Tüten verkaufen. Die närrischen Mädchen, die zu dritt oder viert schrill singend auf und ab spazieren, begeistert von sich selbst und ihrer aberwitzigen Aufmachung. Und wie immer ist da auch der tragisch blickende Gepäckträger, der schweigend auf uns zutritt, um uns die Taschen abzunehmen. Wir sind wirklich wieder da – in dem Land, in dem wir gerne sind, dem Land, das wir unkritisch, doch, wie wir denken, illusionslos und offenen Auges lieben.
1Henry Hall (1898–1989), populärer britischer Musiker und Bandleader, dessen Tanzmusik zwischen 1920 und 1960 im BBC Radio lief.
2The Young Visiters oder Mister Salteena’s Plan (1919) ist ein in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr erfolgreicher Roman der englischen Schriftstellerin Daisy Ashford (geb. 1881), den sie als Kind im Alter von neun Jahren geschrieben hat.
3Kate O’Brien zitiert den englischen Dichter John Milton (1608–1674): »Charlemagne, with all his peerage, fell / By Fontarabbia«, Paradise Lost (1.573–87).
4Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten Ludwig XIV. von Frankreich und Philipp IV. von Spanien 1660 auf der Fasaneninsel den Pyrenäenfrieden.
5»Gott! Wie traurig ist doch der Klang des Horns am Abend, in den Tiefen des Waldes!«, aus Alfred De Vignys (1797–1863) Gedicht Le Cor über das heldenhafte Ende von Ritter Roland.
6Walter Horatio Pater (1839–1894), englischer Essayist und Kritiker. Zitat aus Studien zur Geschichte der Renaissance (1873).
7Der britische Historiker, Dichter und Politiker Thomas Babington Macaulay, 1. Baron Macaulay (1800–1859), goss die Vorstellung eines zukünftigen Besuchers antizipierter Ruinen1840 in ein bestimmtes Bild: den Neuseeländer. Ein scheinbar gebildeter Neuseeländer bereist das untergegangene Großbritannien. Mit dieser Figur hatte Macaulay einen Nerv der Zeit getroffen. Der Neuseeländer bestimmte im 19. Jahrhundert das Bild des zukünftigen Touristen.
8Alfons XIII. (1886–1941) war von Geburt an de jure König von Spanien. Bis 1902 führte seine Mutter Maria Christina von Österreich die Amtsgeschäfte. Seine Regierungszeit fiel in die Ära der politischen Restauration in Spanien. Er wurde kritisiert, dass ihm eine echte Vision für sein Land fehlte. Im April 1931, nachdem in Madrid die Republik ausgerufen worden war, ging er ohne formelle Abdankung ins Exil, zunächst nach Paris, dann nach Rom. Erst wenige Tage vor seinem Tod verzichtete er zugunsten seines Sohnes Juan de Borbón y Battenberg auf den Thron.
9Der britische General Sir John Moore (1761–1809) spielte eine Schlüsselrolle zur Unterstützung der Spanier bei La Coruña in der Schlacht vom 16. Januar 1809 zwischen der französischen Besatzungsarmee und einem britischen Expeditionskorps.
VERDRIESSLICHKEIT
Wo ließen wir die sentimentalen Touristinnen am Ende des letzten Kapitels an Land gehen? Sagen wir in Santander, um keine Zeit zu verschwenden. Der Himmel weiß, dass schon genug verschwendet wurde, seit wir uns zuletzt mit diesen Geschöpfen beschäftigten. »Die Zeit schreitet voran«, wie sie uns neuerdings unnötig salbungsvoll in der Kinowochenschau mitteilen. Wo wir auch erfahren, dass die Arbeiterarmee ebenfalls voranschreitet und dass Francos Männer in Erwartung der Mauren10 und ironischerweise ausgerechnet in Toledo den Alcázar mehr als sechzig Tage lang gegen die Kastilier gehalten haben. Das aber ist kein Reisebericht, sondern gerade »Aktualität«, wie ein Spanier sagen würde, und die Zeit hat nichts von ihrer Härte verloren. Aber Santander ist vergleichsweise sicher, um dort Erinnerungen nachzuhängen. Auch lebendig. Lebendig genug, um es der Autorin zu erleichtern, den störenden Touristinnen aus dem Weg zu gehen. Lassen wir sie also ziehen – es wurde langweilig mit ihnen. Jetzt sind wir selber dran.
Kurz und gut, liebe Leser – aber werden Sie mir diese altmodische Anrede gestatten? Eine Freundin sagte mir einmal, als sie das Werk eines bedeutenden und unterkühlten Essayisten auseinandernahm, dass »größere Autoren als Alice Meynell11 sie mit ›liebe Leserin‹ angeredet hätten«, also gehe ich ganz bescheiden das Risiko ein, zu diesen gezählt zu werden. Liebe Leser, ich konfrontiere Sie direkt mit der ersten Person Singular. Ich werde Sie mitnehmen auf meine eigene Reise und in direkter Rede von allem erzählen, woran ich mich erinnere und was ich gern wiedersehen möchte. Ich glaube, so ist es am besten.
Meine Reise wird allerdings ein Patchwork aus vielen Reisen sein und ohne überflüssigen chronologischen Bezug. Die Route wird sich aus vielen Routen zusammensetzen; Jahreszeiten und Städte werden nach meiner Erinnerung folgen, ziemlich sicher war es in Wirklichkeit nicht