Delon und Marty brauchten weder Redekunst noch Überzeugungskraft anzuwenden, die Siedler waren sich bereits einig. Jeder Platz war ihnen als vorübergehender Aufenthaltsort willkommen, die Hauptsache war, daß sie dort vor Spaniern sicher waren. Die Insel, von der Marty gesprochen hatte, war außerdem vom Hörensagen bekannt. Es schien dort wirklich die idealen Voraussetzungen für ein angenehmes Leben zu geben.
„Vielleicht bleiben wir sogar für immer dort, wer weiß“, sagte Marty und verdrehte auf beängstigende Weise die Augen.
Doc Delon blickte zu Jean Ribault, der mit ihnen zusammen auf das Hauptdeck zurückgekehrt war und sich wie Siri-Tong anschickte, das Achterdeck zu entern.
„Es gäbe noch eine dritte Möglichkeit“, sagte er. „Wir könnten euch darum bitten, bei euch an Bord dieses Schiffes bleiben zu dürfen. Aber die ‚Vengeur‘ ist ja nicht unbemannt, und außerdem würden wir euch nur neue Probleme aufhalsen.“
„Das Hauptproblem ist, daß wir gegen die Queen kämpfen werden“, entgegnete Ribault. „Dabei bleibt kein Auge trocken. Es wäre nicht richtig von uns, euch da hineinzuziehen, Doc. Aber da ist noch ein anderer Punkt. Wahrscheinlich segeln wir bald zur Schlangen-Insel. Sie ist unser geheimes Versteck.“
„Ich würde es niemals verraten.“
„Das habe ich auch nicht sagen wollen“, erwiderte Ribault. „Versteh mich nicht falsch.“ Er deutete mit dem Kopf zu den Siedlern. „Aber der eine oder andere von diesen Männern könnte sich später wieder von uns trennen und das Geheimnis unvorsichtigerweise lüften. Versuche, das zu begreifen, Doc. Es steckt kein Mißtrauen dahinter. Es gehört nur zu unseren Vorsichtsmaßnahmen, keinen Uneingeweihten mit zur Schlangen-Insel zu nehmen.“
„Ich begreife das.“ Doc Delon seufzte. „Und eine richtige Seeschlacht gegen die Queen wäre wohl auch nicht gerade das, was ich mir zumuten möchte. Ich habe mich ja auch in El Triunfo aus den Beutezügen herausgehalten, die unsere Leute gegen die Spanier unternommen haben.“
Es gab nichts mehr zu sagen, alles war geklärt. Die „Le Vengeur III.“ glitt lautlos aus der Mündung des Rio Leán auf die offene See hinaus, setzte die Segel und ging hoch an den nach wie vor aus Nordosten einfallenden Wind. Mit Backbordhalsen und auf Steuerbordbug liegend lief sie nach Osten ab, unbemerkt von der Black Queen, Caligula und deren Spießgesellen, die nach wie vor in El Triunfo verweilten.
Teigig und verfallen wirkte das Gesicht von Willem Tomdijk im fahlen Licht des Mondes, die Hautfarbe erinnerte an alten, verdorbenen Talg. Willem schien den Tränen immer noch nahe zu sein. Mit Emiles Hilfe hatte er ein unzerstörtes Faß Bier unter den Trümmern hervorgezerrt, aber der Anstich war für ihn kein Anlaß zur Freude. Traurig hockte er da und ließ sich von Emile einen vollen Humpen aushändigen.
Er blickte starr auf den weißen Schaum und murmelte mit brüchiger Stimme: „O Gott, o Jesus, wie tief bin ich gesunken.“
Die Queen, Caligula und die Kerle stärkten sich mit dem Bier. Wenig später traf eine neue Gruppe von versprengten Siedlern am Sammelplatz ein: vier Männer, von denen zwei leicht verletzt waren. Bereitwillig trugen sie sich in die Liste ein, die die Queen vorbereitet hatte. Es war eine Art Musterrolle, sie wollte den Überblick nicht verlieren.
Nach Leroy waren insgesamt zwölf Männer auf dem Innenhof der Mission erschienen. Mit diesen vieren waren es jetzt also siebzehn, die die Mannschaften auf der „Caribian Queen“, der „Aguila“, der „Buena Estrella“ und der „Vascongadas“ ergänzen und verstärken würden.
Die Queen zog es allerdings vor, die neu rekrutierten Männer auf nur drei Schiffe zu verteilen. Es war besser, wenn die Männer an Bord der „Aguila“ auch weiterhin unter sich blieben, so befand sie im stillen, während sie ihr Bier austrank und sich den Humpen wieder vollzapfen ließ.
Es war immer noch nicht sicher, wie die Leute von El Triunfo nach dem Blutbad reagierten, wenn sie einen Spanier vor sich sahen. Jaime Cerrana hatte im übrigen vorläufig noch genug Männer für die „Aguila“, er hatte im Gefecht keinen einzigen seiner Kumpane verloren. Also war das Schiff nach wie vor voll seetüchtig, manövrierfähig und gefechtsklar.
Siedler mit seemännischen Fähigkeiten – davon gab es genug, denn die meisten der Engländer und Franzosen hatten sich ja als Küstenpiraten betätigt – wurden vorzugsweise auf die Beute-Galeonen „Buena Estrella“ und „Vascongadas“ geschickt. Pausenlos war das Beiboot der „Caribian Queen“ unterwegs, und auch von den beiden spanischen Galeonen waren die Jollen abgefiert worden.
Neue Männer trafen ein, diesmal waren es zwei Gruppen zu je fünf Mann. Ein paar Worte wurden gewechselt, dann trug die Queen die Namen der Männer ein. Es waren fast jedesmal die gleichen Sätze, die gesprochen wurden. Die Queen erklärte, daß sie die drei Galeonen überfallen und besiegt hätte, und bereit sei, jetzt den letzten Überlebenden von El Triunfo Beistand zu leisten. Die erschöpften Männer, die höllische Stunden im Dschungel hinter sich hatten, baten darum, in die Crew der Black Queen aufgenommen zu werden.
Willem Tomdijk hatte Einzelteile seiner Brauerei gefunden und verfiel in einen dumpfen Zustand des Brütens und der Depression. Er hob nur den Kopf, wenn wieder ehemalige Siedler den Hof betraten.
Dann murmelte er: „Marty? Nein, Marty lebt nicht mehr. Der Teufel soll ihn holen.“ Hätte er gewußt, daß sich das Kerlchen blühender Gesundheit erfreute, hätte er ihn wahrscheinlich auf noch schlimmere Weise verwünscht.
Emile Boussac hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen des Messers, das er Jean Ribault zugesteckt hatte, damit dieser sich befreien konnte. Würde das noch bekannt werden? Er hoffte inständig, daß es sein Geheimnis blieb. Willem wußte es nicht, die Queen und Caligula ahnten nichts davon. Wenn Marty nicht, erschien, blieb der Fall ungeklärt und keiner sprach mehr davon.
Seufzend stocherte Emile mit dem Säbel in den morschen Trümmern herum, die nach wie vor schwelten. Welche Hoffnung gab es noch? Keine. Das Geschäft war zerstört, er würde keinen Silberling mehr verdienen, geschweige denn eine Goldmünze. Alles aus, dachte er, ich bin eben ein Pechvogel.
Die Black Queen hingegen verfiel fast in einen Zustand der Euphorie. An Bord der Schiffe war noch nicht zum zweitenmal geglast worden, seit sie an Land gegangen war, und schon hatte sie fast dreißig Männer zusammen. Mit gönnerhafter, zufriedener, versöhnungswilliger Miene trat sie zwischen Willem und Emile, die mit trübseligen Gesichtern dahockten.
„Kopf hoch, ihr beiden“, sagte sie. „Es wird alles wieder gut. Wir sind die Sieger.“
„Den Eindruck habe ich nicht“, brummte Willem. „Du weißt vielleicht nicht, was die Brauereieinrichtung wert war. Und der Schatz im Kellergewölbe? Darüber will ich lieber gar nicht reden. Das Gewölbe ist eingestürzt, keiner kann mehr an die Truhen und Kisten ’ran.“
„Es würde Wochen dauern, den Keller freizuräumen“, sagte Emile.
Die Queen schüttelte den Kopf und schnalzte leicht mit der Zunge. „Das lohnt sich jetzt für uns nicht. Wir müssen zusehen, daß wir so schnell wie möglich wieder verschwinden, ehe die Spanier aus Cartagena zurückkehren und nachsehen, wo ihre drei Galeonen bleiben. Später können wir immer noch mal hier aufkreuzen und den Schatz ausgraben. Es war ja auch kein sehr großer Schatz, nicht wahr, Willem?“
„Das Wertvollste war meine Brauerei“, sagte der Dicke weinerlich.
Sie grinste. „Beruhige dich endlich. Ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, daß du auf Tortuga eine schöne neue Brauerei einrichten wirst.“
Er schaute zu ihr auf. „Ist das – wirklich wahr?“
„Ich habe mein Wort noch nie gebrochen.“
„Die schönste Brauerei in der – ganzen Karibik?“
„Die allerschönste, Willem.“ Die Black Queen hatte keine Ahnung, wie viele Bierbrauereien es in der Karibik gab. Sehr viele konnten es nicht sein. Vielleicht war die Hexenküche in der Missionskirche von El Triunfo sogar die einzige ihrer Art in der Neuen Welt gewesen. In diesen Breiten wurde gewöhnlich Wein getrunken – oder Rum.