2.5 Die Ursprünge der Kinderanalyse
2.5.1 »Tarquinius Superbus«
Die analytische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beginnt mit Sigmund Freud. Das früheste Zeugnis einer analytischen Kinderbehandlung finden wir in der »Psychopathologie des Alltagslebens« (Freud 1901b, S. 220 ff.). Ein knapp 13-jähriger Junge war mit einer schweren Symptomatik bei ihm in Behandlung. »Er musste nach meiner Voraussetzung sexuelle Erfahrungen gemacht haben«. Freud beobachtete eine »Symptomhandlung«: Der Junge knetete aus einem Klumpen Brotkrumen eine Menschenfigur mit einem »Fortsatz zwischen beiden Beinen, den er in eine lange Spitze auszog«. Freud erzählte ihm daraufhin die Geschichte von Tarquinius Superbus und seinem Sohn. Der Junge nahm das auf und reagierte mit einer weiteren Symbolhandlung, die zeigte, dass er sich von Freud verstanden fühlte (Müller 2012).
Diese kleine Vignette zeigt bereits einige Prinzipien der psychodynamischen Kindertherapie: Alles, was in der Therapie geschieht, ist von Bedeutung und ist mit der Symptomatik verbunden. Freud lud den Jungen ein, mithilfe seiner Erzählung die Bedeutung selbst zu entdecken – die Deutung ist eine gemeinsame Schöpfung von Therapeut und Patient. Indem sich Freud auf das Spiel des Jungen einließ und seinerseits einen spontanen Einfall beisteuerte, entstand ein vitaler Bezug zwischen beiden, der einen Raum zum Fantasieren und Nachdenken eröffnete. Eine sehr moderne Behandlungskonzeption: wichtig für den Erfolg einer Therapie ist die Mentalisierung und Symbolisierung, ebenso die Authentizität des Therapeuten.
2.5.2 Der »Fall Dora«
Freuds »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, 1905 veröffentlicht, enthält die Behandlung der zu Beginn der Analyse 17-jährigen Adoleszenten »Dora« (Ida Bauer). Die Jugendliche wurde von ihrem Vater – einst selbst bei Freud in Analyse – zu Freud gebracht, nachdem sie, die bereits seit längerem an hysterischen Symptomen litt, einen Brief hatte herumliegenlassen, in dem sie Suizidabsichten äußerte. Nachdem sie in einem Gespräch mit dem Vater bewusstlos wurde, »wurde trotz ihres Sträubens bestimmt, daß sie in meine Behandlung treten sollte«, so Freud (S. 168). Im Hintergrund steht eine verwickelte Familiengeschichte: Die Eltern von Ida waren befreundet mit einem Ehepaar K. Der Vater hatte ein Verhältnis mit Frau K., Herr K. stellte der Jugendlichen mit sexuellen Avancen nach, zuletzt, als Ida 16 war, schlug er ihr ein heimliches Liebesverhältnis vor. Ihrer Offenbarung wurde von den Eltern nicht geglaubt, Herr K. bestritt alles, Frau K. warf ihr vor, »liebestoll« zu sein.
Die Behandlung wurde nach etwa drei Monaten von der Patientin abgebrochen.
Diese Behandlung gab Anlass zu leidenschaftlicher Auseinandersetzung zwischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern und ist vielfach kommentiert worden (Burchartz et al. 2016). Einige fundamentale Erkenntnisse für Jugendlichen-Behandlungen lassen sich festhalten:
Freud wollte mit der Veröffentlichung v. a. auf den Zusammenhang von Traum, Hysterie und Sexualität hinweisen. Was ihm noch nicht zur Verfügung stand, war ein tieferes Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung – immerhin hat er das Phänomen der Übertragung anhand des Falles präzise herausgearbeitet. Sein wissenschaftliches Interesse hat ihm vermutlich den Blick verstellt, dass Ida nur widerwillig zu ihm in Analyse gekommen war: mit einer »negativen Übertragung«, einem Misstrauen – musste sie doch vermuten, dass Freud mit den Erwachsenen im Bunde steht.
Freud behandelte Ida wie eine Erwachsene – hatte jedoch eine Jugendliche vor sich, die sich vermutlich wünschte, dass er ihr in den Machenschaften der Erwachsenen empathisch beistehen und ihrer Wahrheit Beachtung schenken würde.
Konzepte für Jugendlichen-Behandlungen, auch für die weibliche Sexualität, mussten erst noch entwickelt werden.
Ein typischer Konflikt zeigte sich bereits in dieser Behandlung: Der Auftrag des Vaters, seine Tochter vom Symptom zu befreien, war nicht deckungsgleich mit dem Wunsch der verletzten Adoleszenten. Auch dies hat bis heute Gültigkeit: Die Aufträge und Ziele der Behandlung sind zwischen Eltern und jugendlichen Patienten selten in Einklang zu bringen.
Auch und gerade eingeschränkt erfolgreiche Behandlungen haben in der Psychoanalyse immer zu Fortschritten und neuen Erkenntnissen geführt – darin ist der Wert auch dieses »Bruchstücks« und seiner mutigen Veröffentlichung zu sehen.
2.5.3 Der »Kleine Hans«
Am 30. März 1908 erhielt Freud Besuch von Max Graf, einem Musiker, Journalist, Schriftsteller und Professor am Wiener Konservatorium, der seit 1902 zu Freuds Diskussionszirkel der »Mittwochsgesellschaft« gehörte, und seinem fünfjährigen Sohn Herbert (»Der kleine Hans«). Herbert litt seit Januar 1908 an einer Pferdephobie. Freud widmete sich dem kleinen Jungen, indem er ihn als vollgültigen Gesprächspartner ernst nahm und alles, was das Kind ihm mitteilte, in seine Überlegungen einbezog. Fortan besuchte der Vater Freud über fünf Wochen regelmäßig und erstattete ihm Bericht über die Gespräche mit seinem Sohn. Unter Freuds Anleitung gelang es dem Vater, die unbewusste Bedeutung der Symptomatik des Jungen zu entschlüsseln und ihm so zur Erledigung der Phobie zu verhelfen. (Freud 1909b; vgl. Alt 2016, S. 424 ff.; Burchartz et al. 2016, S. 25 ff.)
Der Junge hatte ein erschreckendes Erlebnis: er beobachtete, wie ein beladener Pferdewagen mitsamt den Pferden umkippte. Er hielt eines der beiden Pferde für tot. Von Angst überwältigt, wollte er fortan kaum mehr aus dem Haus, vermied Situationen, bei denen er Pferden begegnen könnte (schwierig zu einer Zeit, in welcher Pferde als Transportmittel allgegenwärtig waren). Er fürchtete, die Pferde könnten umfallen oder er könnte von einem Pferd gebissen werden. Freud verstand die Angst als mehrfach determiniert: Zum einen hatte Herbert ein verstärktes Interesse an seinem Penis entwickelt und verglich sie mit den entsprechenden Organen der Tiere. Zum anderen erwachte in dem Jungen ein ödipales Begehren der Mutter gegenüber, womit er in einen Konflikt mit dem geliebten Vater geriet. Die Mutter verbot dem Jungen die Beschäftigung mit seinem »Wiwimacher« unter Kastrationsdrohungen. Schließlich hatte es das Kind auch mit der Eifersucht auf seine kleine Schwester zu tun, die geboren wurde, als Herbert 3,5 Jahre alt war. Es gab also genug Grund, eine Strafe für seine verbotenen Wünsche zu fürchten. Der Pferdeunfall diente nun dazu, Hass, Angst vor Rache und Rivalität auf ein phobisches Objekt zu verschieben und sich damit in die schützenden Beziehungen zu seinen vertrauten Objekten zurückzuziehen – mit der Fantasie, mit der Mutter ein Kind hervorzubringen. Erst nachdem die Eltern eine entspanntere Haltung einnehmen konnten und der Junge seine Fantasien angstfreier äußern konnte, legte sich die Phobie.
Freud betonte, dass ödipale Wünsche und Fantasien zu einer normalen Entwicklung gehören. Für ihn hatten die Aussagen des Kindes genauso viel Gewicht wie diejenigen von Erwachsenen. Herbert, ein kluges und wissbegieriges Kind, nahm die Erklärungen des Professors eifrig auf. Nach der Sitzung bemerkte er: »Spricht denn der Professor mit dem lieben Gott, daß er das alles vorher wissen kann?« (Freud 1909b, S. 278). Wir können darin eine idealisierende Übertragung erkennen, die es dem Jungen leicht machte, sich dem Professor zu offenbaren. Dass die Behandlung Freuds Theorien über den Ödipuskomplex vollständig bestätigten, kann nicht nur auf eine Anpassungsleistung des Kindes zurückzuführen sein, sonst hätte sich kaum eine Auflösung der Phobie eingestellt, die ja eben der Anpassung an die impliziten Verbote und Drohungen der Erwachsenenwelt diente. Herbert war selbstbewusst genug, auch Deutungen zu widersprechen, wenn sie ihm nicht einleuchteten.
Am 7. Oktober 1908 begegneten sich Freud und sein kleiner Patient wieder. Herbert war vollständig geheilt, bei einem späteren Wiedersehen, 13 Jahre später, erinnerte sich Herbert nicht mehr an die Behandlung.
Diese Fallgeschichte aus den Anfängen der Kinderanalyse ist aus heutiger Sicht eher als eine psychoanalytische Elternberatung zu werten. Gleichwohl erbrachte sie wichtige Grundlagen:
Alle Äußerungen eines Kindes sind vollumfänglich ernst zu nehmen und in die Behandlung einzubeziehen. Sie haben das gleiche Gewicht wie Mitteilungen von Erwachsenen.
Deshalb besteht die analytische Haltung weniger in einem »Ausfragen«, als in einem teilnehmenden Zuhören.
Bei der Behandlung von Kindern sind die Bezugspersonen unverzichtbare Gesprächspartner.