länger anhaltender Deprivation stellt sich die »anaklitische Depression« ein (Bowlby 1969, 1976, 1983; Spitz 1996). Bindung ist gemäß Bowlby ein primäres biologisch angelegtes Bedürfnis. Das Bindungssystem strebt nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Ohne die Sicherstellung dieser anaklitischen Bedürfnisse kann ein Kind nicht gedeihen. Komplementär dazu besteht das Explorationssystem. Ist das Bindungsbedürfnis befriedigt, ist das Kind fähig, sich von den primären Bindungspersonen zu trennen und die soziale und dingliche Welt zu erkunden. Steigt die Angst bei der Exploration, wird das Bindungssystem aktiviert und das Kind sucht Nähe, Schutz und Trost bei den Bindungspersonen.
Bowlby erforschte zusammen mit Mary Ainsworth (1913–1999, kanadische Psychologin, ab 1950 Mitarbeiterin von Bowlby) Bindungsverhalten und Bindungsstile mittels der »fremden Situation«. Nach einer Trennungssituation von der Mutter fielen die Reaktionen des Kindes beim Wiedersehen unterschiedlich aus: freudiges Begrüßen, Ablehnung und Wut, Teilnahmslosigkeit. Aus diesen Beobachtungen erschlossen Bowlby und Ainsworth verschiedene Bindungsstile: Sichere Bindung, unsicher-ambivalente Bindung, unsicher-vermeidende Bindung und desorganisierte Bindung.
Eine sichere Bindung entsteht durch die Feinfühligkeit der Bindungsperson, mit der sie die Signale des Kindes aufnimmt und versteht und dessen Bedürfnisse in einer angemessenen Zeitspanne und passgenau befriedigt.
Bindungsstile werden als Bindungsrepräsentanzen verinnerlicht und bilden die Grundlage für die Beziehungsgestaltung des Individuums. Sie sind nicht unveränderlich, können sich je nach Entwicklungsbedingungen modifizieren und sind auch psychotherapeutisch beeinflussbar. Eine sichere Bindung ist ein wesentlicher protektiver Faktor für die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne. Risikofaktoren für die Bindungsentwicklung sind frühe Trennungen und Verluste, Erkrankungen der Eltern, Traumatisierungen – auch solche der Eltern, sofern sie nicht bearbeitet werden konnten (Brisch 2000, S. 58 ff.).
Merke
Die »Britischen Schulen« mit den zwei psychoanalytischen Zentren der Hampstead Child Therapy Clinic und der Tavistock Clinic forcierten v. a. die theoretische und praktische Ausarbeitung der Objektbeziehungspsychologie (Balint, Bion, Winnicott u. a.), zu der man auch die Bindungstheorie (Bowlby) zählen kann.
2.10 Michael Fordham
Der englische jungianische Analytiker Michael Fordham (1905–1995) knüpfte an die Vorstellung des Selbst bei C. G. Jung an. In der Jung‘schen Analytischen Psychologie ist das Selbst Organisator der psychischen Entwicklung, die vornehmlich in einem fortschreitenden Prozess der Individuation besteht mit dem Ziel einer persönlichen Ganzheit (Bovensiepen, S. 206). Fordham ging davon aus, dass es vorgeburtlich ein »ursprüngliches Selbst« gibt, ein ganzheitliches Wesen, das durch extrauterine Erfahrungen deintegriert wird und so Neues in sich aufnehmen kann – durch reintegrative Prozesse. Dieser Wechsel besteht das ganze Leben und formt die Persönlichkeit. In Kindertherapien wird dieser Prozess begleitet und seine Störungen korrigiert, wobei gemäß Jung’scher Vorstellungen der selbstregulativen Kraft der Psyche vertraut wird. Die Arbeit mit Symbolen, Märchen und Mythen erhält große Bedeutung (Lutz 2016). Aus der jungianisch geprägten Kindertherapie ging die Sandspieltechnik hervor (Kalff 2000), die mittlerweile in viele Behandlungsräume von psychodynamischen Kinder- und Jugendlichentherapeuten Einzug gehalten hat.
2.11 Heinz Kohut und die Selbstpsychologie
Das Selbst, seine Entwicklung und Funktionsweise steht im Mittelpunk der Selbstpsychologie, die auf Heinz Kohut (1913–1981) zurückgeht (Kohut 1973, 1979, 1989).
Definition
Unter dem Selbst versteht man die Gesamtheit der Person in Interaktion mit anderen.
Das Erleben einer eigenen Identität, das Gefühl, »ich selbst zu sein«, geht zurück auf einen intensiven Austausch mit einem anderen, wobei dieses andere Objekt als Teil des eigenen Selbst und seiner Bedürfnisse fungiert: ein Selbstobjekt. Von Anfang an brauchen Menschen Selbstobjekte zur Befriedigung von Selbstobjektbedürfnissen, so entsteht eine Selbstkohärenz: die möglichst kontinuierliche und zusammenhängende Selbstwahrnehmung in Raum, Zeit und Beziehungserleben. In diesem Streben nach Kohärenz ist das Bedürfnis nach Sinngebung enthalten: sich selbst als Zentrum von Wahrnehmungen, Antrieb und Handlungen sehen und erleben zu können.
Basale Selbstobjekt-Funktionen sind die Spiegel-Funktion, die Funktion einer idealisierten Eltern-Imago und andere. Verträgliche Unterbrechungen der Selbstobjektfunktionen tragen dazu bei, dass das Kind die Funktionen im Sinn einer »umwandelnden Verinnerlichung« als Selbstrepräsentanzen internalisieren kann und so unabhängig wird von der konkreten Gegenwart der Selbstobjekte – sie werden auf diesem Weg zu Funktionen des Selbst.
Grundelement der Selbstobjektfunktionen ist die Empathie, die auch als stellvertretende Introspektion verstanden wird. Übermäßiger Mangel an Empathie führt zum Abriss der Kontinuität und damit der Kohärenz, Fragmentierungen stellen sich ein: das Erleben der Einheitlichkeit zerfällt, einzelne Elemente lassen sich nicht mehr aufeinander beziehen. Dies zieht narzisstische Störungen, Triebkonflikte und destruktive Wut nach sich. Die umwandelnde Verinnerlichung scheitert, andere Menschen werden dauerhaft zu Selbstobjekten funktionalisiert (und darauf reduziert), eine wechselseitige Empathie kann nicht entstehen – zentrale Merkmale eines pathologischen Narzissmus.
Die Selbstpsychologie hat Entscheidendes beigetragen zum Verstehen narzisstischer Störungen. Die Therapie zielt auf die Verbesserung intrapsychischer und interpersoneller regulativer Vorgänge. Die zentrale Bedeutung der Empathie in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapien ist unstrittig, insbesondere bei frühen Störungen und Traumatisierungen (Burchartz 2019b). Das »Verstanden-Werden« in einer empathischen Haltung des Therapeuten ist überhaupt erst die Grundlage für eine aufdeckende, deutende Arbeit. Der Therapeut wird temporär zu einem Selbstobjekt.
Gleichwohl ist anzumerken, dass in der Selbstpsychologie die Konflikthaftigkeit der menschlichen Existenz, die Dialektik von Trieb und kulturellen Anforderungen kaum mehr einen Platz hat. Die Bedeutung des spezifischen sozialen Umfelds und seiner Widersprüchlichkeit verblasst. Fellner und Zorn (2019) bemerken dazu, »…für eine kritische Theorie des Subjekts« werde das Menschenbild der Selbstpsychologie »theoretisch unbrauchbar« (S. 51). Des Weiteren wird die grundlegende triadische Struktur der Psyche nicht konzeptualisiert.
Merke
Das »Selbst« unterliegt nach der Jung’schen Analytische Psychologie einem wechselnden Prozess von Deintegration und Reintegration und organisiert so die Individuation des Menschen.
Das Selbst nach Kohut bezeichnet die Gesamtheit der Person, wobei es sich nicht ohne Selbstobjekte denken lässt. Deren grundlegende Funktion ist die Empathie. Sie sorgt für die Kohärenz des Selbst.
2.12 Relationale Psychoanalyse
In neueren Ansätzen der psychodynamischen Psychotherapien wird die Intersubjektivität betont. Besonders Harry S. Sullivan (1892–1949, amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker) konzipierte die Persönlichkeit des Menschen und deren Entwicklung als interpersonales Geschehen. Auch in objektbeziehungspsychologischen Ansätzen und besonders in der Selbstpsychologie wird der Mensch von seinen Beziehungen her gedacht: ein Mensch ist ohne andere Menschen nicht vorstellbar, auch die Subjektivität entspringt einer Intersubjektivität (Mertens 2011, S. 252). Damit erweitert sich die triebtheoretische Sichtweise, die freilich in der psychologischen Dialektik zwischen Subjekt und Objekt ebenfalls vertritt, dass der Mensch nicht von sich selbst heraus verstanden werden kann. Man bezeichnet diesen Perspektivwechsel in der Psychoanalyse als die »intersubjektive Wende« und die sich daraus ergebenden konzeptuellen und technischen Konsequenzen als »relationale Psychoanalyse«, als deren Begründer Stephen Mitchell (1946–2000, amerikanischer Psychoanalytiker) gilt (Mitchell 2005) (
Die