Neben der Hampstead Child Therapy Clinic etablierte sich in London an der »Tavistock Clinic« (gegründet1920) eine Stätte psychoanalytischer Behandlung, Forschung und Lehre, an dem auch eine Ausbildung in der Therapie von Kindern und Jugendlichen eingerichtet wurde, hauptsächlich beeinflusst von den Prinzipen der kleinianischen Schule. Die bedrängende Situation von Kindern und Jugendlichen durch die traumatisierenden Erlebnisse in den Kriegsjahren führte zu der Forderung, dass auch Kinder Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen haben müssen. Damit war die Notwendigkeit gegeben, Kinderanalytiker auszubilden. Zu den einflussreichen Analytikern der Klinik gehörten auch Wilfred Bion, Michael Balint, John Bowlby und Donald W. Winnicott. Bis heute ist die Tavistock Clinic eines der führenden international anerkannten psychoanalytischen Zentren.
Bereits bei Melanie Klein gewinnt die Objektbeziehung eine besondere Bedeutung. Unter der Objektbeziehung verstehen wir eine psychophysische Interaktion des Kindes mit seinen primären Bezugspersonen. Das »Objekt« wird nicht »objektiv« wahrgenommen, sondern entlang der Triebregungen, Wünsche, Affekte und Ängste des Subjekts. Diese Wahrnehmungen werden als Repräsentanzen verinnerlicht und sind psychisch strukturbildend. Gemäß den Objektbeziehungstheorien konstituieren also nicht allein und nicht überwiegend Triebe und Triebschicksale die Psyche, sondern die Qualität der Objektbeziehungen.
2.9.1 Michael Balint
Michael Balint (1896–1970, ungarischer Psychoanalytiker) geht von einer »primären Liebe« zwischen Mutter und Kind aus, die unabhängig von der infantilen Sexualität sei. Ist diese primäre Liebe gestört, also die frühe Objektbeziehung defizitär, geht daraus eine »Grundstörung« hervor, die einhergeht mit einer fundamentalen Mangelerfahrung: »Es ist eine Störung, ein Defekt in der psychischen Struktur, eine Art Mangel, der behoben werden muss.« (Balint 1973, S. 32).
Balint beschrieb zwei verschiedene Charakterstrukturen, in denen frühe Objekterfahrungen verarbeitet werden (2014):
Der oknophile Charakter (okneo, griechisch: anklammern; philos griechisch: lieb, teuer) klammert sich aus Angst vor Objektverlust an das Objekt. Nähe und Verbundenheit zum Objekt, Zusammengehörigkeit sind seine Hauptstrebungen. Oknophilie ist objektgerichtet.
Der philobatische Charakter (batein, griechisch; gehen, wandern) liebt die Objektferne. Nähe beengt ihn, er sucht die Unabhängigkeit und bildet Fähigkeiten aus, allein zurechtzukommen. Philobatismus ist Ich-gerichtet.
Diese beiden Grundstrebungen lassen sich bereits bei Kindern beobachten, auch in ihren Träumen (Hopf 2007).
2.9.2 Wilfred R. Bion
An die projektive Identifizierung in der kleinianischen Konzeption knüpft Wilfred R. Bion an.
Definition
Die projektive Identifizierung ist eine Variante der Projektion, mit dem Unterschied, dass die Inhalte der Projektion – unerträgliche Selbstzustände – dem anderen nicht allein angeheftet werden, sondern in ihn hineingezwängt werden, sodass dieser manipulativ mit diesen Zuständen identifiziert wird.
Damit ist das unbewusste Bestreben verbunden, Kontrolle über das intrapsychische Geschehen des andern zu gewinnen (Hinshelwood 1993, S. 263 ff.). Nun empfindet der Adressat sich so, als wäre er selbst mit diesen Zuständen infiziert, seine Affekte gleichen denen, die mit dem Inhalt der Projektion verbunden sind.
Bion (1897–1979, britischer Psychoanalytiker) beschrieb den frühen Austausch in der Mutter-Kind-Beziehung im »Container-Contained«-Modell. Er unterscheidet zwischen »normaler« und »anormaler projektiver Identifizierung«. Das Objekt wird als ein Behälter, ein Container benutzt, in den das Projizierte ausgelagert – und dort »contained«, also gehalten wird. Darin steckt auch eine unbewusste Mitteilung: Der andere soll eben auch spüren, wie es um den psychischen Zustand bestellt ist. Im Idealfall kann das Objekt, z. B. die Mutter, diese Zustände nachfühlen und in »träumerischer Reverie« verstehend verarbeiten, sodass sie das projektiv Ausgelagerte in veränderter, verträglicher Form und mit Bedeutung angereichert zurückgeben und dem Kind zur Verfügung stellen kann. Diese metabolisierende Funktion des »Containings« nannte Bion die »Alpha-Funktion, »mit der unverstandene, quälende und via Projektion herausgeschleuderte Fragmente, ›Beta-Elemente‹, in verdauliche ›Alpha-Elemente« verwandelt werden.« (Burchartz et al. 2016, S. 103) (
2.9.3 Donald W. Winnicott
Eine prominente Rolle in der Geschichte der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie nimmt Donald W. Winnicott (1896–1971) ein, britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker. Er geht von der mütterlichen Fürsorge als grundlegend für die psychische Strukturbildung aus. Der Säugling existiert in einer mütterlichen Umwelt: »there is no such thing like a baby … if you set out to describe a baby, you will find you are describing a baby and someone.« (Winnicott 1974, S. 50). Ein Säugling ist ohne einen fürsorglichen Anderen nicht vorstellbar. Die frühe mütterliche Umwelt wird vom Säugling nicht als »Nicht-Ich erlebt. Erst mit zunehmender Ich-Reifung differenzieren sich Subjekt und Objekt.
Die mütterliche Fürsorge besteht im »Halten«, das gleichermaßen ein physischer und psychischer Vorgang ist. Er vermittelt dem Säugling Schutz, psychisch gesehen vor allem Reizschutz, stellvertretende Affektberuhigung und -modulation sowie Integration. »…die Kohäsion der verschiedenen sensomotorischen Elemente ist dem Umstand zu verdanken, dass die Mutter den Säugling hält.« (Winnicott 1974, S. 188).
Eine vollständige Bedürfnisbefriedigung ist eine Illusion. Mit zunehmender Reifung ist das Kind in der Lage, durch eigene Signale zu vermitteln, wessen es bedarf. Eine Mutter, die »gut genug« ist, wird dem Kind Raum geben für diese eigenen Signale und ihre Anpassungsleistungen zurücknehmen. »Unvollständige Anpassung an Bedürfnisse macht Objekte erst zu etwas Realem.« (Winnicott 1995, S. 21). Reifungsprozesse können also in zwei Richtungen gestört werden: Zum einen durch unverträgliche Unterbrechungen der Fürsorge – diese haben traumatischen Charakter. Zum andern durch eine elterliche Haltung, die in verwöhnender Voreiligkeit die Signale des Kindes überfährt. Wenn Mütter und Väter aufgrund eigener unverarbeiteter psychischer Konflikte oder Traumatisierungen das Kind zur Regulierung ihrer beschädigten Selbststruktur funktionalisieren, entspricht das Kind dieser elterlichen Bedürftigkeit durch eine Anpassungsleistung, die eigene Impulse unterdrückt, verdrängt oder abspaltet – es entsteht ein »falsches Selbst«.
Winnicott beschrieb Laute, Gesten, Worte oder einen Gegenstand, mit welchen sich das Kind Separationsprozesse vom primären Objekt erträglich macht, als Übergangsobjekte.
Definition
Ein Übergangsobjekt (ein Teddy, ein Kuscheltuch etc.) ist Teil des Selbst, aber auch ein »Nicht-Ich«, in ihm erscheint das Objekt, es gehört aber nicht ganz zum Objekt. Übergangsobjekte ermöglichen einen »intermediären Raum«, in dem Symbolisierungsprozesse reifen.
Als Übergangsphänomene lassen sich Fantasie, Kreativität, Kunst, religiöse Vorstellungen usw. verstehen. Die Psychotherapie stellt ebenfalls einen solchen »intermediären Raum« dar, in dem illusionäre Wünsche und Realität innerhalb einer therapeutischen Beziehung zueinander finden und durch ein reifendes Ich integriert werden können. Auch das Spiel des Kindes konstituiert intermediären Raum (
2.9.4 John Bowlby und die Bindungstheorie
John Bowlby (1907–1990, englischer Psychiater und Psychoanalytiker) entwickelte aus Beobachtungen von hospitalisierten Kindern, die früh von ihren Müttern getrennt waren, die Bindungstheorie. Die vergleichbaren Forschungen von René Spitz (1887–1974, österreichisch-amerikanischer