Kariane Höhn

Essen und Ernährungsbildung in der KiTa


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von Bedürfnissen sind schwierig – gerade auch bei Säuglingen und Kleinkindern, die sich noch nicht äußern können. Die Bedürfnisstrukturen können bei der Analyse von Situationen helfen, problematische Alltagsroutinen zu hinterfragen und mehrere Handlungsalternativen zu erwägen.

      Wenn ein Säugling oder Kleinkind weint, ist die Ursache dafür zunächst meist unklar: Hat es Hunger oder Durst, ist die Windel gefüllt, hat es Bauchschmerzen? Diese Gründe würden auf physische Grundbedürfnisse hinweisen. Das Kind kann aber auch durch eine Situation erschreckt worden sein und Angst haben, es kann über das Nichtgelingen eines Vorhabens wütend sein, sich aus einer Gruppe ausgeschlossen fühlen, soziale Nähe suchen, Beachtung von anderen wünschen etc. Damit wäre letztlich eine Vielzahl der Bedürfnisse betroffen.

      Jede Ursache verlangt eine andere Bedürfnisbefriedigung. Wird den Kindern immer zuerst Essen angeboten (image Kap. 2.2), dann können Kinder nur schwierig lernen, in Spannungssituationen oder bei Unzufriedenheit anders zu reagieren. Werden Hunger und Durst nicht beachtet, kann es auch lernen, seine Körpersignale zu ignorieren. Vor allem in Stresssituationen wird es erschwert, die Bedürfnisse differenziert wahrzunehmen und sie angemessen zu befriedigen. Häufig ist (vor allem in »außer Haus-Situationen«) zu beobachten, dass zunächst die Abfolge der »oralen« Angebote (Essen, Trinken, Schnuller) genutzt wird, das Kind aber erst aufhört zu weinen, wenn es auf den Arm genommen wird.

      In der Diskussion um Essen und Ernährung wird oft nur der physische Bedarf thematisiert. Dabei wird ausgeblendet, dass von Geburt an Fütter- und Esssituationen idealtypisch immer die Befriedigung mehrerer Bedürfnisse beinhalten:

      • Als physische Grundbedürfnisse werden Hunger und Durst gestillt, bei Füttersituationen kann zugleich die körperliche Nähe (z. B. auf dem Schoß) wärmen und Sicherheit geben.

      • Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit sowie Autonomie und Selbstbestimmung ist für Kinder möglich, wenn ihr Hunger erkannt und ernst genommen wird, Präferenzen und Aversionen akzeptiert werden oder das selbstständige Essen gefördert wird.

      • Der gemeinsame Esstisch, das Teilen der Nahrung, die gegenseitige Unterstützung etc. bieten die Erfahrung von sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit.

      Die Analyse und Befriedigung von Bedürfnissen setzt eine gute Beobachtung und Responsivität voraus (Gutknecht, 2015b; Gutknecht & Höhn, 2017; image Kasten 2.1). Esssituationen sind ein Beispiel dafür, wie unterschiedliche Bedürfnisse zusammentreffen. Dies erklärt auch, warum über das Essen viele Konflikte ausgetragen werden können. Für Erziehung und Bildung älterer Kleinkinder ist zu beachten, dass in der Konsumgesellschaft, z. B. durch Werbung, Bedürfnisse geweckt und auf bestimmte Produkte gelenkt werden, mit denen diese geweckten Bedürfnisse befriedigt werden sollen – so werden Motivationen geschaffen. Die beworbenen Produkte müssen nicht wirklich zur Bedürfnisbefriedigung geeignet sein: So lässt sich bei Einsamkeit keine soziale Eingebundenheit über Schokolade herstellen – es sei denn, man bietet sie anderen an. Mit der Aktivierung des Bedürfnisses im Zusammenhang mit dem Angebot eines Produktes werden jedoch Motivationen gelenkt und mit Wünschen verbunden, die in der Situation die Hoffnung auf Bedürfnisbefriedigung versprechen. Diese Marketing-Strategie wird auch bei der Werbung eingesetzt, die sich an Kinder richtet (Methfessel, 2020; Methfessel et al., 2020).

      2.3.4 Mögliches Verhältnis der Bedürfnisse untereinander und zu Motiven

      Unterschiedliche Bedürfnisse treffen im Leben der Menschen aufeinander und können nicht nur neben-, sondern auch gegeneinanderstehen. Autonomie kann soziale Integration, die Suche nach sozialer Anerkennung und die Sorge um die eigene Gesundheit erschweren oder ausschließen. Menschen haben unterschiedliche Wege, mit solchen Konflikten umzugehen, wie z. B. Aufschub, Verlagerung, Ersatzbefriedigung oder »Verdrängung« (vgl. Grunert, 1993, S. 39 ff.; Holodynski & Oerter, 2018).

      Wie im Zusammenhang mit der Selbstregulation der Emotionen angesprochen, ist es in keiner Kultur möglich, alle Bedürfnisse sofort, angemessen und gleichermaßen zu befriedigen. Daher sind Regulationen wie Aufschub, Verlagerung, Ersatzbefriedigung oder »Verdrängung« zunächst neutral zu bewerten. Kinder müssen sogar lernen, Wege für sich zu finden, damit umzugehen, dass Bedürfnisse nicht immer alle zugleich befriedigt werden können. Im Alltag geht es dabei meist um den Bedürfnisaufschub, wenn das Kind z. B. beim Essen warten muss oder darauf, dass andere Zeit haben, sich um es zu kümmern. Beim Essen wird diese Bereitschaft in zwei Bereichen besonders wichtig: Zum einen wird nach der Säuglingsphase die gemeinsame Mahlzeit zum »Platz des Essens«. Das gemeinsame Mahl verlangt, dass sich alle mit ihrem Essbedürfnis einer gemeinsamen Zeit und Struktur anpassen (image Kap. 3.4). In der Familie wie in der KiTa muss hier ein Weg gefunden werden, mit Zwischenmahlzeiten die Anpassung an die Hauptmahlzeiten zu erleichtern. Zum anderen ist die Annäherung an eine gesundheitsförderliche Ernährung ein Bildungsziel. Die dazu notwendige Geschmacksakzeptanz kann nur durch wiederholtes Probieren zunächst abgelehnter Geschmackselemente erfolgen (image Kap. 3.2). Der spontane alleinige Zugriff auf akzeptierte Geschmäcke sollte begrenzt werden durch die Überwindung der Unlust, die zunächst mit neuen Geschmäcken einhergehen kann. Bei den ersten Begegnungen mit fremdem Geschmack ist auch Frustrationstoleranz gefordert. Ein gezielter Umgang mit Genussmitteln (bei Kindern vor allem Süßes), die nur in Maßen zur Verfügung stehen sollten, beinhaltet ebenfalls Lustkontrolle. Bedürfnisaufschub wird zudem als eine wichtige Voraussetzung für die Genussfähigkeit gesehen (welche – falls überhaupt – allerdings erst im Erwachsenenalter voll ausgebildet wird; vgl. DRWS, 2008b; Höhl, 2009). Wie erwähnt, wird in der Entwicklungspsychologie auf Motive fokussiert, weil diese als Handlungsanreiz und durch die damit verbundene Zielorientierung eher erkennbar und nachweisbar sind als Bedürfnisse. Entsprechend kann in diesem Prozess »der Aktivierung und Auswahl von Motiven und der sie befriedigenden Handlungen« eine Motivation gedeutet werden (Holodynski und Oerter, 2018, S. 517). Die Begriffe Motiv und Motivationen werden daher oft dem Begriff Bedürfnis vorgezogen. Damit sind zwar die gleichen Prozesse gemeint, aber mit einem unterschiedlichen Fokus: Mangel, Zielorientierung oder Handlungsimpuls. Die mit den verschiedenen Begriffen verbundenen theoretischen und methodischen Fragen können im Folgenden nicht weiter dargestellt werden, aber es sollen einige Bezüge zur Essentwicklung hergestellt werden, die beiden Ansätzen gemeinsam sind.

      Nach Holodynski (2009), auf dessen Ausführungen im Wesentlichen Bezug genommen wird, ist bislang unbestritten, dass Motive (1) positiv bewertete Zielzustände einer Person sind, die (2) zu einem gegebenen Zeitpunkt bei einer Person unterschiedlich stark aktiviert sind und (3) die selektive Wahrnehmung motivspezifischer Zielzustände befördern. Noch umstritten ist u. a., ob (4) Motive durch eine motivspezifische Emotion markiert sind.

      Bedürfnisse drücken hingegen (1) einen Mangel aus. Der zur Beseitigung des Mangels dienende »Zielzustand« muss definiert werden, unterliegt also schon einer Interpretation und einer Wertung. Wie Motive können Bedürfnisse (2) unterschiedlich stark aktiviert sein. Dies wird u. a. bedeutsam, wenn mehrere sich widersprechende Bedürfnisse befriedigt werden müssen. (3) Auch für Bedürfnisse gilt, dass sie die Wahrnehmung sehr selektiv steuern können.

      Säuglinge sind mit vier psychogenen Motivsystemen ausgestattet (Holodynski, 2009):

      • Bindung (image Anschluss und Intimität)

      • Neugier (image Neugier und Exploration)

      • Leidvermeidung

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