Da in allen bekannten Kulturen »grundlegende Fragen zum Sinn und Ziel ihrer eigenen Existenz […] wie: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?« (Methfessel & Schöler, 2020, S. 5) gestellt werden, wird deutlich, dass Bedürfnisse über eine physische Versorgung und eine soziale Zugehörigkeit hinausgehen können. Auch das Streben nach Wirksamkeit wird bei Menschen (und einigen Tieren) als angeboren angesehen (Haase & Heckhausen, 2018, S. 492).
Von Grundbedürfnissen redet man also, wenn diese kulturübergreifend festzustellen, also universell gültig sind. Wie diese Bedürfnisse aber zum Ausdruck kommen und wie sie befriedigt werden, ist in allen Kulturen unterschiedlich.
Für viele auf Essen bezogene Handlungen sind z. B. auch Motive bzw. Motivationen auslösend, denen nicht das Grundbedürfnis Hunger zugrunde liegt: Beispielsweise wird aus Frust, Langeweile oder Liebeskummer gegessen, oder die Suche nach sozialer Anerkennung oder Autonomiebestreben sind bei Essstörungen entscheidend. Essen wird dann ein Mittel zur Emotionsregulierung oder zur Befriedigung verschiedener Grundbedürfnisse.
In der Psychologie wird – in Ablehnung diffuser Triebtheorien oder empirisch und theoretisch nicht nachvollziehbarer Strukturierungen von Bedürfnissen (vgl. Grunert, 1993, S. 32 ff.) – seltener von Bedürfnissen gesprochen (ausgenommen sind meist sog. physische Bedürfnisse). Stattdessen werden Begriffe wie Motiv und Motivation bevorzugt. Motivationen sind jedoch nicht die ursprünglichen Triebkräfte. Sie setzen schon voraus, dass das Gefühl des Mangels (Hunger) in den Vorsatz mündet, den Mangel zu beheben (ich will etwas zum Essen suchen). Sie können daher schon auf bestimmte Gegenstände (z. B. Obst) gerichtet sein. Dann wird das Bedürfnis schon mit Vorstellungen des Bedarfs verbunden, d. h. konkreten, materiellen und immateriellen Objekten, mit denen Bedürfnisse zu befriedigen sind. Motivationen können beim Essen auch durch entsprechende Körperprozesse gesteuert werden (vgl. Meyerhof, 2013).
Ein Motiv wird als Anreiz menschlichen Handelns definiert, als ein positiv bewerteter Zielzustand, den eine Person bestrebt ist, zu erreichen.
Der Begriff der Motivation beschreibt den Prozess der Aktivierung und Auswahl von Motiven und der sie befriedigenden Handlungen. (Holodynski & Oerter, 2018, S. 517)
Der Begriff Bedürfnis wird hier bevorzugt, weil damit auch der aus einem Mangel entstehende Bedarf eines Kindes betont wird. Mit diesem Begriff kann zudem eher deutlich werden, wie viele Bedürfnisse und wie diese durch Essen angesprochen werden (können) (Methfessel et al., 2020). Bedürfnis als Ausdruck des Mangels und Bedarf als Objekt zur Bedürfnisbefriedigung sollten nicht verwechselt werden.
Im Folgenden werden vier Ansätze kurz vorgestellt, in denen Grundbedürfnisse jeweils verschieden strukturiert werden: Durch die pädagogisch orientierten Selbstbestimmungs-, Interessen- und Motivationstheorien wurde die Diskussion um grundlegende Bedürfnisse neu aufgenommen. Nach einer umfassenden Analyse der vorliegenden Studien entwickelten die Psychologen Deci und Ryan eine theoretisch begründete Struktur von angeborenen Bedürfnissen, die zu einer anerkannten Grundlage in der pädagogischen Diskussion um Bedürfnisse wurde und die in der Pädagogik favorisiert wird (Deci & Ryan, 1993; Ryan & Deci, 2017, 2019). Darüber hinaus werden die häufig zitierte Bedürfnistheorie von Maslow (1992, 2018), der für die Ernährungsbildung interessante Ansatz von Grawe (2004) und die Grundbedürfnisse von Kindern von Brazelton und Greenspan (2002) angesprochen. Abschließend wird noch einmal kurz die Frage nach Bedürfnissen und Motiven und deren Relevanz für die KiTa aufgegriffen.
2.3.1 Theorien zur Strukturierung von Grundbedürfnissen
Theorie von Edward L. Deci und Richard M. Ryan
Deci und Ryan (199334) unterscheiden vier Bedürfnisse:
1. Physische Bedürfnisse35: Dazu gehören vor allem Hunger, Durst und Wärmeregulation. Sie treten lebenslang regelmäßig (dabei auch zyklisch) auf und sind jeweils begrenzt.
Diese Bedürfnisse sind (zumindest zeitweilig) zu befriedigen: Wenn Menschen satt sind, können sie nicht weiter essen, und wenn die Temperatur angenehm ist, wollen sie diese nicht weiter verändern.
Die drei weiteren Bedürfnisse sind dagegen sog. Wachstums- und Entwicklungsziele bzw. -bedürfnisse.
2. Bedürfnis nach Kompetenzerfahrung und Selbstwirksamkeit: Deci und Ryan sehen hierin das Bestreben, sich als handlungsfähig zu erleben, ein Entwicklungsbedürfnis, das sich auf das »persönliche Wachstum« bezieht. Hier finden sich auch Überschneidungen zur Entwicklung des Wirksamkeitsstrebens. Nach Haase und Heckhausen (2018, S. 492) trifft dies auch auf einige Tiere zu.
3. Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung: Menschen wollen ihre Kompetenzen nutzen und sich und der sozialen Gruppe die Möglichkeit und Fähigkeit zum selbstständigen und in diesem Sinne selbstbestimmten Handeln beweisen.
Das Bedürfnis nach Autonomie darf jedoch weder mit dem Streben nach Freiheit noch mit der Ablehnung von Zuwendung und Unterstützung gleichgesetzt werden, wodurch sich Kinder z. B. auch alleine gelassen fühlen würden. Es geht vielmehr um die jeweils angemessene Unterstützung, die herausfordert und begleitet und dadurch unterstützt, selbstständig zu werden.
Was unter Autonomie und Selbstbestimmung verstanden wird, ist in Kulturen sehr unterschiedlich (s. u. a. Borke & Keller, 2021; Krapp, 2005, S. 635).
4. Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit: Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Abgesehen davon, dass sie in ihrer phylogenetischen Entwicklung nur durch die und mit der Gruppe überleben konnten und nach wie vor können, benötigen sie die soziale Interaktion und die Identifikation mit anderen zur eigenen Entwicklung und die Auseinandersetzung um die gemeinsame Entwicklung zum Erhalt der Gemeinschaft.
Die Theorie wurde von den Autoren als ein Teil einer übergeordneten Motivationstheorie entwickelt, in der u. a. die gleichzeitige Bedeutung von Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit als Grundlage für Lernen und Lehren belegt werden soll. Die genannten Wachstumsbedürfnisse werden nicht hierarchisiert, sondern gelten als gleichwertig.
Die von Deci und Ryan angeregte Diskussion um das Verhältnis von Selbstbestimmung und pädagogischer Unterstützung hat die pädagogische Diskussion der letzten drei Jahrzehnte bereichert und beeinflusst.
Die Bedürfnistheorie von Abraham Maslow
Eine der bekanntesten Theorien stellte der amerikanische Psychologe Maslow (1992, 201836) auf.
Wie Deci und Ryan (1993) unterscheidet Maslow (2018, S. 72 ff.) zwischen physischen Bedürfnissen37, die – zumindest zeitweilig – vollständig erfüllt sein können, und Wachstumsbedürfnissen.
• Physische Bedürfnisse sind vor allem: Nahrungsaufnahme, Aufrechterhaltung der Körpertemperatur, Sinneswahrnehmung, Bewegungsdrang.
Zu den Wachstumsbedürfnissen zählen
• Sicherheit: Recht und Ordnung, Freiheit von Angst und Gefahr, Stärke der beschützenden Person, etc.
• Zugehörigkeit und Liebe: Familie, Ehepartner/-in, Kinder, Heimat, Freunde, etc.
• Achtung und Anerkennung: Können und Kompetenz, Unabhängigkeit und Freiheit, Wichtigkeit und Bewunderung, etc.
• Selbstverwirklichung: Ausübung und Ausbildung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Diese Struktur wurde von Maslow ergänzt durch Verlangen nach Wissen und Verstehen. Er sieht dies durch die dem Menschen angeborene Neugierde und die »Suche nach Wissen, Wahrheit und Weisheit« (Maslow, 2018, S. 75 f.) begründet, durch welche Menschen die Fähigkeiten entwickeln konnten, ihre Lebensbedingungen zu nutzen und zu gestalten. Auch das Verlangen nach Ästhetik konnte er