Albrecht Greule

Historische Valenz


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in Norddeutschland die Zeitungen einen wichtigen Beitrag leisteten, gekennzeichnet. Der Gebrauch der perfekten Schriftsprache wurde durch das Lesen der richtigen Bücher (z.B. der Ausgabe von Goethes Werken), durch Sprachratgeber, Lehrbücher und Briefsteller garantiert. Von besonderer Bedeutung waren das „Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ (1880) von Konrad Duden und die „Deutsche Bühnenaussprache“ (1889) von Theodor Siebs. Nicht den aktuellen Sprachgebrauch beschreiben oder regeln wollten die Brüder Jacob und Wilhelm GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm. In der Tradition der Romantik stehend erforschten sie die Geschichte der deutschen Sprache und begründeten durch Werke wie die „Deutsche Grammatik“ (1819‒1837) und das „Deutsche Wörterbuch“ (1. Band 1854, 33. und letzter Band 1971) eine deutsche Nationalphilologie. In den von den Brüdern Grimm verfassten und in mehreren Ausgaben überarbeiteten „Kinder- und Hausmärchen“ (1. Auflage 1812‒1815) ist die dafür als Volkspoesie konzipierte Sprache bis heute verbreitet und bekannt.

      NeuhochdeutschNach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 erhielt der gegen französische Einflüsse auf die deutsche Sprache gerichtete Sprachpurismus Auftrieb. Behörden griffen regulierend, z.B. bei Post, Eisenbahn und Militär, in den „Sprachenkampf“ durch Verdeutschungen ein. Nach der Gründung des „Allgemeinen deutschen Sprachvereins“ (1885) wurde die Sprachreinigung fast zu einer populären Bewegung. Noch zuvor war der „Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein“ (1863) entstanden und wurde die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (1869) gegründet. Damit etablierte sich ein Arbeiterbildungswesen, das die literatursprachliche Norm akzeptierte. Die Teilnahme der Bevölkerung am öffentlichen politischen Leben und die Rolle, die die Sprache in der öffentlichen Auseinandersetzung jetzt spielte, führten im Gefolge des Ersten Weltkriegs zur Politisierung der Sprache. Von den Schrecken des Ersten Weltkriegs sind die expressionistischen Dichtungen (1906‒1923) geprägt, in deren besonderem Sprachstil sich die Krise der bürgerlich-imperialistischen Gesellschaft abzeichnet.

      Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten (1933‒1945) war der öffentliche Sprachgebrauch vom nationalsozialistischen Sprachstil und von den durch den Rundfunk ins ganze Land verbreiteten Hetz- und Hassreden der Nazigrößen dominiert. Für seine Kritik des nationalsozialistischen Sprachgehabes ist besonders Victor Klemperer, der Autor der „Lingua Tertii Imperii“ (1947), bekannt geworden. Ein herausragendes Zeichen der Auseinandersetzung mit der durch den Nationalsozialismus „vergifteten“ deutschen Sprache nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die von Dolf Sternberger herausgegebene Sammlung „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ (1957).

      NeuhochdeutschGegenwartssprache: Die von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1945 befreiten Länder Deutschland und Österreich waren zunächst in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 war der öffentliche politische Sprachgebrauch vom sogenannten Ost-West-Konflikt in der deutschen Sprache, der sich schon ab 1945 in den Tageszeitungen andeutet, beherrscht. Der Konflikt wurde theoretisch durch die Vier-Varianten-Theorie untermauert, die besagt, dass es gemäß den deutschsprachigen Staaten, Bundesrepublik Deutschland, DDR, Österreich und Schweiz, auch vier offizielle Varianten des Deutschen gibt. Durch die Wiedervereinigung 1989 und die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland existierte auch das „DDR-Deutsch“ außer in Regionalismen nicht weiter.

      Als die zentrale außeruniversitäre Einrichtung zur Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache der Gegenwart wurde 1964 das Institut für Deutsche Sprache (IDS), jetzt Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, gegründet. Im Fokus der sprachwissenschaftlichen Forschung der deutschen Sprache der Gegenwart standen und stehen: die Sprache der Werbung (in allen Medien), die Sprache der Jugend und der Jugendkultur, die Sprache der Politiker, die Entwicklung der Dialekte zu Regionalsprachen, neuerdings die Sprachstile der „neuen Medien“, die durch die breite Nutzung der Sozialen Netzwerke (z.B. Facebook) und des Smartphones präsent sind. Als wichtige Institutionen der Sprachkultivierung und Sprachberatung wirken die bereits 1947 gegründete Gesellschaft für deutsche Sprache und die Duden-Redaktion. Sprachwissenschaftlich festgestellt werden Tendenzen, wie die deutsche Gegenwartssprache sich unter dem Einfluss der medialen und gesellschaftlichen Diskurse entwickelt. Dazu gehören z.B. der seit 1945 wachsende Einfluss des amerikanischen Englisch, der Übergang von einer literaturgeprägten Schriftsprache zu sprechsprachlichen Stilen, verbunden mit der Neigung zu kürzeren Sätzen und erweiterten NominalgruppenNominalgruppe, und die Änderung der Satzklammer.8Neuhochdeutsch

      2. Die Textüberlieferung in den historischen Sprachperioden

      Die Sprachgeschichtsschreibung sowie die grammatische und lexikalische Beschreibung der historischen Sprachstufen des Deutschen beruhen auf Texten, d.h. auf in lateinischer Alphabetschrift fixierten sprachlichen Formulierungen. Dem Umfang nach kann es sich um Kleinsttexte handeln, die nur aus einem Satz bestehen, oder auch um Großtexte und Textsammlungen (Bücher, Codices). In der Art und Weise der Überlieferung der Texte seit dem frühen Mittelalter bis in die Jetztzeit spiegelt sich auch die Entwicklung der Schriftmedien wider. Obwohl „Inschriften“ auf Stein, Holz, Gebäuden usw. angebracht wurden und noch werden, sind für die deutsche Textgeschichte als Schriftträger Pergament, Papier und letztlich computerbasierte Speichermedien die wichtigsten Träger der Textüberlieferung.

      Im frühen Mittelalter wurden die Texte in den Skriptorien der Klöster durch Abschreiben hergestellt. Geschrieben haben anfangs vornehmlich Mönche. Die volkssprachliche (deutsche) Textüberlieferung beginnt im späten 8. und frühen 9. Jh. mit Glossierungen lateinischer Texte (anfänglich durch ahd. Einzelwörter), mit Übersetzungen pastoraler Kleinliteratur (z.B. die ahd. Übersetzungen des Vaterunsers) und weitet sich aus auf die Bibeldichtung (z.B. das Evangelienbuch Otfrids von WeißenburgOtfrid von Weißenburg) und die zum Zweck der Schullektüre verfassten Schriften NotkersNotker III. von St. Gallen oder auch auf heldenepische Texte (z.B. das HildebrandsliedHildebrandslied). Zu den historischen Rahmenbedingungen für die Übersetzung lateinischer religiöser Texte bis hin zu den Dichtungen des (ahd.) Evangelienbuchs und des (altsächsischenAltsächsisch) Heliands durch die Kirchen- und Bildungsreform Karls des Großen vgl. den Überblick über die deutsche Sprachgeschichte (Kapitel A.1.1).

      Im späten Mittelalter änderte sich zwar die „Technik“ des Schreibens; das Texteschreiben war jetzt arbeitsteilig organisiert: Der „Autor war für die Erzeugung des Textes verantwortlich, der Schreiber für die Herstellung des Manuskriptes“.1 Die Kunst des Schreibens blieb aber noch immer auf den Klerus beschränkt. Schon im 13. Jh. wurden in den Kanzleien Urkunden nicht mehr nur in lateinischer, sondern auch in deutscher Sprache abgefasst. Vom 14. Jh. an üben sich auch Laien (Ritter und ansehnliche Bürger) in der Kunst des Schreibens, hauptsächlich um geschäftliche und private Briefe zu schreiben. Wichtige Sammelhandschriften sind die am Ende des 12. Jh. im Augustiner Chorherrenstift Vorau (Steiermark) geschriebene Vorauer Handschrift und der Codex Manesse, die bedeutendste deutsche Liederhandschrift des Mittelalters, die veranlasst durch die Zürcher Patrizierfamilie Manesse in der ersten Hälfte des 14. Jh. auf der Grundlage der Sammlung der Manesse vermutlich durch Nonnen des Klosters Oetenbach in Zürich hergestellt wurde. Nicht nur durch das zeitgleiche (oder spätere) und fehleranfällige Abschreiben (Kopieren) von Handschriften erscheint der mittelalterliche Text als ein dynamisches Gefüge. Es war auch üblich, Texte zeitlich und räumlich, dialektal und inhaltlich zu aktualisieren. Nicht jede mittelalterliche Handschrift setzt Verse ab; die Handschriften kennen keine Interpunktion im modernen Sinn und keine diakritischen Zeichen wie z.B. den Balken über Vokalen, um die Länge des Vokals zu markieren. Dies alles stammt von den Herausgebern der Neuzeit, die mit der Interpunktion das Textverständnis der modernen Rezipienten erleichtern, aber auch steuern wollten. Die Edition mittelalterlicher Texte hat erhebliche Auswirkungen auf die historische Syntax und die interpretative Satzabgrenzung.

      An die Stelle des teuren und für schnelles Schreiben ungeeigneten Pergaments trat das glattere und billigere Papier als Schreibunterlage. Im 14. Jh. verbreitete sich Papier als Beschreibstoff und verdrängte im 15. Jh. das Pergament. Die erste deutsche Papiermacherwerkstatt wurde 1390 in Nürnberg in Betrieb genommen. Papier war eigenhändig leicht zu beschreiben und ermöglichte einen durchgängigen Schreibfluss. Diesem diente auch die – anstelle der aufwendigen Buchschrift vor allem in Handel und Verwaltung verwendete – Kursivschrift, wo große Schriftmengen (Akten, Rechnungen) zu