ehemalige Leiter des Antriebs- und Verbrennungslabors der Princeton University, Dr. Martin Summerfield, studierte ebenfalls an der Caltech und war einer von Tsiens Freunden. Er erinnerte sich, wie Tsien für von Kármán schnell unschätzbaren Wert bekam:
»Er war Kármáns rechte Hand. Er führte alle Arten von Projekten und Gedanken aus, die Kármán hatte, und er konnte sie mit Schnelligkeit ausführen, und indem er Tag und Nacht arbeitete, lieferte er das Manuskript oder die Berechnungen immer umgehend, aber auch sehr brillant ab. Er wurde ein enger Assistent – Kármáns rechte Hand –, und er arbeitete Formeln aus, die Kármán entwickelt hatte. Er hatte die Brillanz und er hatte die Geschwindigkeit. Es war ungewöhnlich, jemanden wie ihn zu finden.«5
Anfang 1937 schloss sich Tsien einer kleinen Gruppe von Caltech-Studenten an, die die Machbarkeit von Raketen als zukünftige aerodynamische Fluggeräte untersuchten. Am 29. Mai 1937 schrieb er einen Bericht mit dem Titel »The Effect of Angle of Divergence of Nuzzle on the Thrust of a Rocket Motor« (»Die Auswirkung des Divergenzwinkels der Düse auf den Schub eines Raketenmotors«), die von der Gruppe als Teil ihrer »Bibel« angenommen wurde.6 Von Kármán war so beeindruckt von Tsiens Arbeit und der der anderen Doktoranden, dass er der Gruppe half, offizielle Anerkennung als Guggenheim Aeronautical Laboratory der Raketenforschungsgruppe des California Institute of Technology (GALCIT) zu gewinnen.7
Nach der Abgabe des ersten Konferenzpapiers über Raketen am Institut of Aeronautical Sciences (IAS), dem Institut für Luftfahrtwissenschaften mit Sitz in New York, im Januar 1937 berichtete die Studentenzeitung California Tech über die Caltech-Raketengruppe:
»Die Rakete ist aus dem Reich der Fiktion herausgetreten und Wirklichkeit geworden. In den nächsten drei Monaten werden Frank J. Malina, A. M. O. Smith und Hsue-she Tsien, Caltech-Absolventen der Luftfahrt, bessere Informationen über Raketenmotoren haben, als die ganze Welt sie bei früheren Versuchen bekommen konnte.«8
Dann zitierte die California Tech einen von Tsiens Träumen für zukünftige Raketenexperimente:
»Ein Ziel dieses Experiments ist es, einige der Eigenschaften der Erdatmosphäre in eintausend bis eintausendfünfhundert Kilometern Höhe zu erforschen. Die dafür vorgesehenen Raketen werden aus drei Teilen bestehen. Beim Aufsteigen durch die unteren Schichten dichter Luft wird viel Energie verbraucht, und deshalb soll, wenn möglich, von einem hohen Berg aus gestartet werden. Sobald sich die Rakete oberhalb der dichteren Luft befindet, verliert sie an Eigengewicht und fliegt mit verringertem Kraftstoffverbrauch. Schließlich wird zu einem festgelegten Zeitpunkt eine zweite Stufe abgestoßen und die Rakete wird in eine höhere Höhe steigen.«9
Bald wurden Tsien und die Caltech-Raketengruppe von Reportern auflagenstarken Zeitschriften wie Popular Mechanics und Zeitungen aus Los Angeles interviewt und gefragt, was Raketen eigentlich alles leisten können.
Im Mai 1938 erschien Tsiens erste gemeinsam mit von Kármán verfasste Arbeit »Boundary Layer in Compressible Fluids« (»Grenzschicht in komprimierten Flüssigkeiten«). Sie untersuchte das Verhalten von Flüssigkeiten bei sich schnell bewegenden Objekten wie Raketen und Fernlenkgeschossen.
Im Oktober folgte ein weiteres von Tsien verfasstes Papier, das in Aeronautical Sciences veröffentlicht wurde: »Supersonic Flow Over an Inclined Body of Revolution« (»Überschallströmung über einem geneigten drehenden Körper«.)10 Tsien untersuchte darin den Auftrieb eines Projektils, das sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegt, und wie die festgelegte Mach-Zahl sich direkt proportional zum Anflugwinkel des Projektils verhält.
Tsiens theoretische und experimentelle Arbeiten in der Caltech-Gruppe stießen auf breites wissenschaftliches Interesse sowie große Beachtung durch die Presse. Weitere Artikel folgten schnell, und Tsien erregte in kurzer Zeit nationale Aufmerksamkeit für seine bahnbrechende Arbeit am Thema Überschall. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 wurden die USA und China im Zweiten Weltkrieg offiziell Verbündete. Von Kármán intervenierte persönlich, um Tsien die notwendige Sicherheitsüberprüfung zu ermöglichen, damit er bei der Caltech an einer Reihe militärisch finanzierter Projekte arbeiten konnte. In seinem Unterstützungsschreiben schrieb von Kármán: »Ich habe nicht den geringsten Zweifel an Tsiens Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten.«11
Chang erklärte, dass Tsiens frisch erteilte Sicherheitsüberprüfung es ihm ermöglichte, »an geheimen Verträgen zu arbeiten – für die Army, Navy, das Army Air Corps, das Kriegsministerium und das Büro für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung – und das auf höheren Zugangsebenen als jemals zuvor.«12 Diese Sicherheitsüberprüfung war von entscheidender Bedeutung, da sie Tsien erlaubte, mit von Kármán bei einer Reihe fortgeschrittener Luft- und Raumfahrtprojekte an der Caltech, die von den verschiedenen Waffengattungen finanziert wurden, zusammenzuarbeiten.
Mitte 1943, als Fotos der Army Air Force die ersten Beweise dafür zeigten, dass Deutschland Raketenstartfelder in Nordfrankreich baute, wurde von Kármán gebeten, einen Bericht zu schreiben, in dem er »die Fähigkeit von U.S.-Raketentriebwerken, als Antrieb für Langstreckenraketen zu dienen«, beurteilte.13 Mit technischer Unterstützung durch Tsien und ein anderes Mitglied der Caltech-Raketengruppe (GALCIT) schrieb von Kármán am 20. November 1943 denn auch diesen Bericht, in dem er die Schaffung eines neuen Forschungslabors für Jetantrieb empfahl, des Jet Propulsion Laboratory (JPL). GALCIT wurde im Vorgriff auf die Finanzierung durch die Army in JPL umbenannt. Jahre später schrieb von Kármán: »Unser Vorschlag war das erste offizielle Memo im U.S.-Raketenprogramm.«14
Nachdem das Ordnance Department der U.S. Army, das Materialamt, drei Millionen Dollar an Finanzmitteln bereitgestellt hatte, was damals ein enormer Betrag war, wurde das JPL umbenannt und nahm am 1. Juli 1944 den Betrieb auf. Da das JPL seinen Ursprung offiziell auf die 1936 bei Caltech gegründete Studenten-Raketengruppe zurückführt, der Tsien im folgenden Jahr beigetreten war, galt er als eines der Gründungsmitglieder des JPL.
Tsien war Chef der ersten Abteilung für »Forschungsanalyse« am JPL. Eine der Aufgaben von Tsien als Abteilungsleiter war es, sich mit der Arbeit der anderen acht Abteilungen, aus denen das JPL bestand, vertraut zu machen. Neben der Forschungsanalyse handelte es sich dabei um »Unterwasserantriebe, flüssige Treibstoffe, feste Treibstoffe, Materialtreibstoffe, Konstruktionsdesign, Forschungsdesign und Fernsteuerung«.15 Chang weist darauf hin, dass Tsien als »JPL-Abteilungsleiter schnell als der weltführende Experte im Bereich des Jetantriebs anerkannt wurde«.16
Anfang September 1944 hatte Dr. von Kármán ein geheimes Treffen am Flughafen La Guardia mit General Arnold, der offen über zukünftige Entwicklungen in der Luft- und Raumfahrtindustrie sprach. Der General konzentrierte sich darauf, was der Geheimdienst der Air Force über die Fortschritte in der deutschen Luft- und Raumfahrttechnik und die vielen Erfindungen, die dort in Entwicklung waren, erfahren hatte. Dieses geheime Treffen wurde erstmals von Kármán in seiner Autobiografie The Wind and Beyond (»Der Wind und darüber hinaus«, nicht auf Deutsch erschienen) enthüllt:
»Als ich am Flughafen ankam, fuhr mich ein Adjutant zum Ende der Landebahn, wo ein offizielles Auto der U.S. Air Force geparkt war. Dann verschwand der Adjutant. General Arnold saß im Auto, und als er sah, dass ich näherkam, entließ er seinen Chauffeur. Kein anderes Ohr weit und breit. Wir waren ganz allein.
General Arnold verschwendete keine Zeit und kam sofort auf den Punkt: ›Wir haben diesen Krieg gewonnen, und er interessiert mich nicht mehr. Ich glaube nicht, dass wir Zeit damit verbringen sollten, darüber zu diskutieren, ob wir den Sieg durch bloße Übermacht oder durch qualitative Überlegenheit errungen haben. Nur eines sollte uns interessieren. Wie sieht die Zukunft der Luftüberlegenheit und der Luftkriegsführung aus? Was bedeuten die neuen Erfindungen wie Jetantrieb, Raketen, Radar und andere elektronische Geräte?‹«17
Es lohnt sich zu überlegen, welche »anderen elektronischen Geräte« der General meinte, die die »Zukunft der Luftfahrt und des Luftkriegs« betreffen. Bis Ende 1944 hatten mehrere Piloten der U.S. Air Force mysteriöse Lichter beschrieben, die ihre Flugzeuge